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„Britten’s Dream“ - Deutsche Oper Berlin

„Britten’s Dream“

Zur Traumdramaturgie einer englischen Shakespeare-Oper, ein Essay von Arne Stollberg

A Midsummer Night’s Dream
Opera in three acts by Benjamin Britten
Conductor: Markus Stenz
Director: Ted Huffman
With James Hall, Jane Archibald, Jami Reid-Quarrell, Padraic Rowan, Davia Bouley / Annika Schlicht, Gideon Poppe, Dean Murphy, Karis Tucker, Alexandra Hutton, Patrick Guetti, Tyler Zimmerman, Andrew Dickinson, Jörg Schörner, Matthew Cossack et al.
30 September, 2, 10, 15 October 2021

Der Traum von englischem Musiktheater
 

Als sich Benjamin Britten im August 1959 dafür entschied, eines der populärsten Stücke des berühmtesten englischen Dramatikers aller Zeiten zu vertonen, nämlich William Shakespeares „A Midsummer Night’s Dream“, tat er dies aus dem Bewusstsein heraus, mittlerweile selbst zu den unangefochtenen Größen des kulturellen Lebens seiner Heimat zu gehören – als Orpheus britannicus des 20. Jahrhunderts. Tatsächlich hatte Britten, seit er 1942 von einem mehrjährigen USA-Aufenthalt nach England zurückgekehrt war, die Musikwelt des Landes in einer Weise geprägt, die den ursprünglich auf Henry Purcell bezogenen Ehrentitel eines Orpheus britannicus durchaus gerechtfertigt erscheinen ließ. Dabei muss man sich vergegenwärtigen, dass England bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zwar kein „Land ohne Musik“ war, wie gerade von deutschen Kommentatoren gerne behauptet, aber sicherlich eines ohne funktionierende Infrastruktur in Sachen Oper. Noch 1945 existierte nur ein einziges ganzjährig bespieltes Opernhaus, nämlich das Sadler’s Wells Theatre in London, die Vorgängerinstitution der heutigen English National Opera; und es mutete folgerichtig an, dass seit den Zeiten Henry Purcells, also seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, kein englischer Komponist mehr eine Oper von internationalem Rang hervorgebracht hatte.

Unter solch wenig erfreulichen Umständen wirkte die Uraufführung von Benjamin Brittens PETER GRIMES am 7. Juni 1945 im Sadler’s Wells Theatre als epochales musikgeschichtliches Ereignis; mit den Worten Eric Walter Whites: als Symbol für die Wiedergeburt der englischen Oper [„symbol of the renascence of English opera“]. Doch es blieb die Schwierigkeit bestehen, dass außerhalb Londons schlichtweg keinerlei Opernhäuser vorhanden waren, in denen Werke mit umfangreicher Besetzung hätten gespielt werden können – der allergrößte Teil des Landes wäre somit von der Kunstform Oper weiterhin ausgeschlossen gewesen.

Dies veranlasste Britten und einige Mitarbeiter aus dem Team der Uraufführung des PETER GRIMES dazu, ein spezielles Genre zu kreieren: die Kammeroper [„chamber opera“], also eine Gattung von Werken, die mit kleinem Instrumentalensemble, wenigen Sängern und einfachen, transportablen Bühnenbildern auskommen sollten, um problemlos an verschiedensten Orten spielbar zu sein. Den Prototyp hierfür bildete THE RAPE OF LUCRETIA, uraufgeführt 1946 beim Glyndebourne Festival. 1947 wurde die English Opera Group ins Leben gerufen, und im gleichen Jahr entstand auch die Idee für ein eigenes Festival in Brittens Wohnort Aldeburgh, das bereits 1948 zum ersten Mal stattfinden konnte. Bei dieser Gelegenheit kam dort die zweite Kammeroper zur Aufführung, nämlich ALBERT HERRING – ein Werk, das noch in Glyndebourne aus der Taufe gehoben worden war. 1949 folgte mit THE LITTLE SWEEP [DER KLEINE SCHORNSTEINFEGER] die erste Premiere einer speziell für das Aldeburgh Festival geschriebenen Oper. Gegeben wurden die Vorstellungen in der Jubilee Hall, einem kleinen Raum, der gerade 300 Zuschauern Platz bot und selbst die Kammeropern fast überdimensioniert erscheinen ließ. Doch Britten wäre niemals auf die Idee gekommen, sich über diese Rahmenbedingungen zu beklagen. Nicht in den luftleeren Raum hinein zu komponieren, sondern für einen bestimmten Zweck und mit Blick auf konkrete Aufführungsbedingungen an einem bestimmten Ort – dies war Brittens Anliegen, wobei sein eigener Lebensmittelpunkt Aldeburgh und die Menschen, mit denen er dort zu tun hatte, die wichtigste Referenz bildeten: „Letztlich sind es die lokalen Gegebenheiten, die für mich am meisten zählen.“ [„Ultimately, it is to me the local things that matter most.“]

1959 fassten Britten und seine Mitarbeiter den Entschluss, die Jubilee Hall umzugestalten und zu vergrößern, im Auditorium mehr Sitzplätze zu schaffen und vor der Bühne einen kleinen Orchestergraben einzuziehen. Rechtzeitig zum Festival 1960 sollte das Projekt abgeschlossen sein und die Jubilee Hall wieder zur Verfügung stehen. Zugleich entschied Britten, dass es nötig sei, für diesen Anlass eine neue Oper zu komponieren, die speziell auf die Möglichkeiten des umgebauten Hauses zugeschnitten sein sollte: mit einem gegenüber den bisherigen Kammeropern vergrößerten, wenngleich immer noch relativ kleinen Orchester. Die Zeitspanne bis dahin, gerade einmal neun Monate, war freilich denkbar knapp – zu knapp jedenfalls, um vorher noch ein Libretto schreiben zu lassen. Aus diesem Grund kam Britten auf eine Idee zurück, die ihn schon vorher beschäftigt hatte, ohne bisher allerdings realisiert worden zu sein, auf die Idee nämlich, William Shakespeares „A Midsummer Night’s Dream“ im originalen Wortlaut zu vertonen. Der Vorteil hiervon war zunächst, dass nicht erst ein Stoff gesucht, der dramaturgische Plan ausgearbeitet und das Libretto verfasst werden musste, was unter den gegebenen Bedingungen eine willkommene Zeitersparnis bedeutete. Vor allem aber schien es naheliegend, gerade aus jener Komödie Shakespeares eine Oper zu machen, die selbst bereits an zahlreichen Stellen von Musik geprägt ist. Und nicht zuletzt konnte Britten mit der Wahl der Vorlage an eine große Tradition anknüpfen, denn 1692 hatte der erste Orpheus britannicus, Henry Purcell, die szenischen Zwischenspiele [„masques“] für eine Aufführung des „Midsummer Night’s Dream“ unter dem Titel THE FAIRY QUEEN komponiert.

Freilich war es notwendig, Shakespeares Text um etwa die Hälfte zu kürzen. Diese Kürzungen bedingten ihrerseits einige gravierende Umstellungen innerhalb der Szenenfolge, und selbst wenn Britten immer wieder betonte, es sei ihm und
seinem Lebensgefährten, dem Tenor Peter Pears, der als Co-Autor [oder „Co Bearbeiter“] des Textes in Erscheinung trat, stets darum gegangen, das Stück Shakespeares möglichst unangetastet zu lassen, so ergaben sich doch zwangsläufig Akzentverschiebungen auch auf inhaltlicher Ebene. Einiges Knirschen im dramaturgischen Gebälk der Oper verursachte vor allem Brittens und Pears’ Entscheidung, auf die Darstellung der Handlungsexposition zu verzichten: Mit der Figur von Hermias Vater Egeus wurde das gesamte Geschehen am herzoglichen Hof in Athen, das dem Waldesspuk vorausgeht, komplett gestrichen. Warum die Liebenden überhaupt in das Feenreich geflüchtet sind, erfahren wir nur aus ihren eigenen Worten, und hier waren Britten und Pears auch gezwungen, eine Verszeile hinzuzudichten – die einzige in der gesamten Oper, deren Libretto ansonsten streng dem Wortlaut Shakespeares folgt. Im Original heißt es [Szene I, 1; Übersetzung nach August Wilhelm Schlegel]: „There, gentle Hermia, may I marry thee; / And to that place the sharp Athenian law / Cannot pursue us.“ – „Dort, Holde, darf ich mich mit dir vermählen, / Dorthin verfolgt das grausame Gesetz / Athens uns nicht.“ Bei Britten hingegen lautet die entsprechende Replik im ersten Akt: „There, gentle Hermia, may I marry thee; / And to that place the sharp Athenian law / [Compelling thee to marry with Demetrius] / Cannot pursue us.“ – „Dort, Holde, darf ich mich mit dir vermählen, / Dorthin verfolgt das grausame Gesetz / Athens uns nicht / [das dich zur Frau will machen dem Demetrius].“ Der hinzugefügte Vers „Compelling thee to marry with Demetrius“ kondensiert die gesamte Vorgeschichte bis zur Unkenntlichkeit, was vor allem für den dritten Akt erhebliche Konsequenzen zeitigt: Der Auftritt von Theseus und Hippolyta, bei dem Teile der Eröffnungssequenz des Schauspiels sozusagen „verspätet“ nachgeholt werden, wirkt kurz vor Schluss nicht unbedingt zwingend, zumal beide Figuren vorher in der Oper kaum je Erwähnung gefunden haben. Vor allem aber ergab sich eine logische Unstimmigkeit, von der nicht sicher gesagt werden kann, ob Britten sie übersah, in Kauf nahm oder bewusst intendierte: Dadurch, dass die Begegnung zwischen Theseus und den beiden Liebespaaren mitsamt der Entscheidung des Herzogs, die Heirat von Hermia und Lysander zu erlauben, in die letzte Szene verlegt wird, also erst im Palast stattfindet und nicht – wie bei Shakespeare – morgens im Wald, bleibt bis zum Schluss der Oper keine Zeit mehr für die dreifache Hochzeit. Wenn die Paare am Ende zu Bett gehen, so handelt es sich bei Shakespeare um die Hochzeitsnacht. Bei Britten aber bekommt das lasziv vorgetragene „Sweet friends to bed“ zumindest im Fall von Hermia und Lysander sowie von Helena und Demetrius einen subversiven Beigeschmack: Hatte Hermia im ersten Akt noch darauf bestanden, dass sich Lysander in gehörigem Abstand von ihr zum Schlafen niederlegen solle, so scheint sie derlei Bedenken durch den Zauber der Nacht – oder des Traumes – nunmehr überwunden zu haben. Die Elfen jedenfalls geben der vorehelichen Vereinigung ihren Segen.

Ob hier eine Interpretation vorliegt oder doch nur eine unabsichtliche Konsequenz der Kürzungen und Raffungen des Schauspieltextes, sei dahingestellt. Immerhin waren sich Britten und Pears darüber im Klaren, dass die Streichung der am athenischen Hof angesiedelten Eröffnungssequenz für die Logik des Handlungsgeschehens nicht ohne Folgen bleiben konnte und besonders im dritten Akt unweigerlich zu Problemen führen musste. Noch in einem relativ späten Stadium der Arbeit spielten sie daher mit dem Gedanken, der Oper einen Prolog voranzustellen, der von ein oder zwei Herolden vorgetragen werden und dazu dienen sollte, das Geschehen an Theseus’ Hof knapp zusammenzufassen.

Letztendlich aber entschloss sich der Komponist, zugunsten eines musikalisch höchst suggestiven Beginns, der die Atmosphäre der Oper in wenigen Takten mit kaum zu überbietender Stimmigkeit festlegt, auf den Prolog zu verzichten und die Logik des Handlungsverlaufs bis zu einem gewissen Grad dem intendierten Gesamteindruck eines ganz und gar irrealen Traumes zu opfern. Denn genau in diesem Punkt weicht seine Oper tatsächlich von der Vorlage ab.

 

Traumklänge: Der erste und zweite Akt
 

Während Shakespeares Komödie in der sonnenhellen Realität des athenischen Hofes beginnt, in der Sphäre des Gesetzes, der Ordnung und Zivilisation, führt uns Brittens Oper sofort in die von Elfen, Feen und Kobolden bevölkerte Gegenwelt der Nacht und des Traumes, in ein Refugium der poetischen Phantasie, das aber auch Tummelplatz alles dessen ist, was sich an Geheimnisvollem und Dunklem, an Verdrängtem und Tabuisiertem unterhalb des Bewusstseins in der menschlichen Psyche abspielt. Brittens Bemerkungen in einem 1971 geführten Interview über die ambivalente Bedeutung des Traumes [und des Träumens] für seine eigene Produktivität lesen sich vor diesem Hintergrund unweigerlich wie ein Kommentar zu der elf Jahre vorher entstandenen Shakespeare-Oper: „Nacht und Träume – für diese Welt hege ich seit meiner Kindheit eine seltsame Faszination. Ich erinnere mich daran, dass ich schon sehr früh, noch zur Schulzeit, unmittelbar vor dem Schlafengehen als letztes immer an ein mathematisches Problem dachte, das ich am nächsten Tag lösen musste. Jemand hatte mir erzählt […], dass man so dem eigenen Unterbewusstsein die Chance gebe, zu arbeiten, während das Bewusstsein schläft. Ob das eine erfolgreiche Methode war, kann ich nicht mehr sagen, aber als Junge war ich jedenfalls sehr gut in Mathematik. […] Die Nacht kann jedoch auch viele Dinge freilassen, von denen man denkt, sie wären besser nicht freigelassen worden. Und manchmal hat man Träume, die den nächsten Tag sehr dunkel färben, obwohl man sich gar nicht an sie erinnern kann.“

Genau diesen Doppelaspekt des Traumes – einerseits als Chance zur Klärung von Problemen, die das Bewusstsein im Wachzustand nicht zu lösen vermag, andererseits als Ort, wo Dinge freigesetzt werden, die besser unter Kontrolle bleiben sollten: Diesen Doppelaspekt hat Britten im MIDSUMMER NIGHT’S DREAM gestaltet. Und so scheint der Beginn der Oper gleichermaßen in den Zauberwald bei Athen wie in den Kopf eines schlafenden Menschen zu führen. Das Hinauf- und Hinabgleiten der Streicher macht die tiefe Dämmerung des Waldes sinnfällig – aber auch die zunächst ganz gleichmäßigen, dann allmählich rascher werdenden Atemzüge eines Schlafenden, der immer unruhiger wird, da sich plötzlich ein Traum in seinem Kopf zu regen beginnt. Ganz selbstverständlich materialisiert sich der erste Feenchor aus den Atemzügen heraus, als seien die Feen eben nur Hirngespinste im Kopf des Träumenden: Ihr Gesang [„Over hill, over dale, / Thorough bush, thorough briar“] läuft synchron zu den „atmenden“ Gleitbewegungen der Streicher die Tonleiter [g-Lydisch] auf und ab und gibt dem amorphen Klanggebilde gewissermaßen eine melodische Gestalt: Der Traum beginnt.

Kinderchor, Junger Chor singen „Over hill, over dale“ aus A MIDSUMMER NIGHT’S DREAM >>> Hier geht es zum Video
 

Im wahrsten Sinne des Wortes tut sich hier musikalisch eine ganz von der Außenwelt abgeschlossene Sphäre auf, zu der die Realität keinen Zutritt hat: die Sphäre des Traumes mit ihren eigenen Regeln und Gesetzen. Das Verfahren ist einfach, die Wirkung aber umso schlagender. In den ersten zehn Takten erklingt nichts anderes als eine Abfolge reiner Dur-Dreiklänge auf allen zwölf Tönen der chromatischen Skala: G-Dur – Fis-Dur – D-Dur – E-Dur – A-Dur – Cis-Dur – Gis-Dur – Es-Dur – C-Dur – B-Dur – F-Dur – H-Dur. Das durch die Aufteilung der Oktave in Halbtonschritte gegebene Total des Klangraums wird am Beginn der Oper paradigmatisch abgesteckt: ein tönender Traumbezirk, dem nichts und niemand entrinnen kann, auch nicht die aus Athen in den Wald geflüchteten Liebenden. Als Hermia und Lysander sich ewige Treue schwören [„I swear to thee“], tun sie dies auf einer Reihe von Dur-Dreiklängen, deren Grundtöne wiederum die komplette chromatische Skala durchlaufen. Auch wenn die Dreiklänge in anderer Reihenfolge erscheinen: Was hier ertönt, ist nur eine Variante der geheimnisvoll „atmenden“ Orchestereinleitung. Das Liebespaar gehört der Welt des Traumes an wie Oberon und Tytania, wie Puck und die Feen. Der zweite Akt steht ganz im Bann des von Oberon und Puck initiierten Zaubers, der allen anderen – den Liebenden ebenso wie Tytania – die Sinne völlig verwirrt und sogar genug Macht besitzt, Mensch in Tier zu verwandeln, was Bottom [Zettel] am eigenen Leib erfahren muss. Für diesen Zauber erfand Britten eine Chiffre, die an die „zwölftönigen“ Dreiklangsfolgen des ersten Aktes anknüpft und sie gewissermaßen zu einer magischen Formel umprägt: vier an sich tonale Akkorde, deren Töne zusammen aber wiederum das chromatische Total der Oktave abdecken. Jeder der Akkorde ist anders instrumentiert: Der erste [ein Des-Dur Dreiklang: des – f – as] wird von den Streichern mit Dämpfer gespielt, der zweite [D-Dur mit hinzugefügter Sexte: d – fis – a – h] von den Blechbläsern, ebenfalls mit Dämpfer, der dritte [ein Es-Dur-Sextakkord: g – b – es] von den Holzbläsern, der vierte [die große Terz des C-Dur-Dreiklangs: c – e] in merkwürdig „gläserner“ Färbung von Cembalo, Harfen, Vibraphon und weich angeschlagenem Becken [im Spiel von „Pyramus and Thisby“ kehrt die große Terz als Vibraphon-Klang ostentativ zum Wort „Moon“ wieder]. Diese akkordische „Zauberformel“ dient als Ausgangspunkt für eine Kette von darauf basierenden Passacaglia-Variationen, die den gesamten zweiten Akt durchzieht und ihn auf ähnliche Weise gliedert wie die „atmenden“ Portamenti der Streicher den ersten Akt. Die Variationen 11 bis 18 fungieren dabei als Begleitung des Schlusschores: Mit Worten, die im Original von Puck gesprochen werden, sagen die Feen den Schlafenden ein glückliches Erwachen voraus und deuten damit an, dass Oberons Magie, hat sie auch viel Unheil gestiftet, doch noch alles zum Guten wenden wird – „all shall be well“.

 

Nach dem Erwachen: Wessen Traum?
 

Doch bringt der dritte Akt tatsächlich ein ungebrochenes Happy End? Es sieht zumindest so aus: Nach dem Erwachen finden die beiden Paare – Hermia und Lysander, Helena und Demetrius – zu einem Quartett zusammen, das alle vorherigen Komplikationen in schieren Wohlklang aufzulösen scheint. Doch was hat es zu besagen, dass dieses Quartett wiederum nichts anderes entfaltet als eine Folge von Dur-Dreiklängen auf allen zwölf Tönen der chromatischen Skala? Und sollte es wirklich Zufall sein, dass die in Sekundschritten diatonisch

aufsteigenden Linien der Gesangsstimmen die erwähnten Feenchöre des ersten Aktes nachhallen lassen [„Over hill, over dale“, aber auch das „Lullaby“ für Tytania]? Der Zauber des nächtlichen Traumes bleibt musikalisch gegenwärtig – entweder, weil er die Liebenden tatsächlich vereint und somit eine positive Wirkung entfaltet hat [gleich der Lösung eines mathematischen Problems durch das Unterbewusstsein im Sinne von Brittens Anekdote], oder weil nach ihm nichts mehr so sein wird wie früher.

Sind Hermia, Helena, Demetrius und Lysander wirklich noch sie selbst? Die ursprünglich nur von Helena vorgetragene Textzeile, aus der Britten das Quartett formt, indem er sie – unter Einfügung der wechselnden Adressaten – von allen vier Protagonisten singen lässt, setzt ein merkwürdiges Fragezeichen: „And I have found Demetrius like a jewel, / Mine own, and not mine own.“ – „Ich fand Demetrius, so wie ein Kleinod, / Mein und auch nicht mein eigen.“ Helena ahnt vielleicht, was die Wahrheit ist: dass Demetrius sie nur deshalb liebt, weil er weiterhin unter dem Bann von Oberons Magie steht, und dies mutmaßlich bis an sein Lebensende. Helena besitzt nun den Geliebten, nach dem sie sich immer sehnte, aber sie besitzt ihn zugleich weniger als je zuvor – „mine own, and not mine own“. Wenn Britten gerade ihre doppeldeutige Bemerkung zum Gegenstand des Quartetts macht, und wenn er dieses Quartett darüber hinaus als breite Entfaltung der „zwölftönigen“ Akkordreihe des ersten Aktes vertont, dann sind Zweifel angebracht, ob man wirklich von einem Happy End sprechen kann.

Wer aber träumt den Sommernachtstraum in Brittens Oper? Die Liebenden, denen das Erlebte am Ende nur ein Hirngespinst gewesen zu sein scheint, an das sie sich allenfalls verschwommen erinnern, obwohl es ihr Leben nachhaltig verändert hat? Oder Bottom, der kurzzeitig in ein Mischwesen aus Mensch und Esel verwandelt war und darüber sinniert, es wäre angemessen, aus seinem Traum eine Ballade mit dem Titel „Bottom’s Dream“ zu machen – wobei bezeichnenderweise gerade an dieser Stelle die magische Akkordformel aus dem zweiten Akt wieder ertönt, um zu den Worten „because it hath no bottom“ auf einem letzten Tupfer von Cembalo, Harfen, Vibraphon und Becken gleichsam klirrend zu zerspringen? Oder sind wir es, die Zuschauerinnen und Zuschauer, denen unser Traum von der Bühne her entgegentritt, gemäß der entsprechenden Andeutung Pucks im Epilog [„That you have but slumber’d here, / While these visions did appear“ – „Habet nur geschlummert hier, / Und geschaut in Nachtgesichten / Eures eignen Hirnes Dichten“]? Wären dann die ruhigen Atemzüge, mit denen die Oper musikalisch beginnt, unsere eigenen? Könnten es nicht auch diejenigen Brittens sein? „Bottom’s Dream“ als „Britten’s Dream“? Müßig, darüber ein Urteil fällen zu wollen – die Wirklichkeit der Nacht und des Traumes entzieht sich den rationalen Maßstäben der Realität. Um es mit der bodenständigen Weisheit Bottoms alias Pyramus zu sagen: „O night, which ever art when day is not!“ 

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