Wenn der Ableger Wurzeln schlägt - Deutsche Oper Berlin
Wenn der Ableger Wurzeln schlägt
Michael Hirsch erklärt, was Zimmerpflanzen mit seiner Arbeit an Henry Purcells DIDO zu tun haben.

Der Münchner Komponist Michael Hirsch lebt seit 1981 in Berlin. Neben seiner kompositorischen Tätigkeit ist er auch als Performer im Musiktheater aktiv als Mitglied des „Freyer Ensemble“ und der „Maulwerker“. Seine erste abendfüllende Oper DAS STILLE ZIMMER wurde 2000 in Bielefeld uraufgeführt. Für die „Neuen Vocalsolisten“ schrieb er 2009 die Madrigaloper TRAGICOMEDIA. Elemente des Hörspiels und der Lautpoesie bereichern seine Kompositionen ebenso wie elektronisch und elektroakustisch generierte Klänge.
Wir treffen uns mit Michael Hirsch im Akkordeon Centrum Brusch in Steglitz. Wer DIDO in seiner Fassung kennt, weiß, warum: Das Akkordeon ist allgegenwärtig in dieser Komposition. Sergej Makarenko, Chef der Akkordeon-Werkstatt, führt uns durch einen großen Verkaufsraum und moderne Arbeitszimmer zu einer schmalen Tür, die in den Keller führt: Eng und dunkel die Stiege zur ehemaligen Werkstatt, in der nicht mehr benutzte Werkbänke und Schraubstöcke stehen und unzählige neue und alte Akkordeons in den Regalen lagern: glänzende moderne Instrumente, sorgfältig verpackt, und historische Modelle mit abgenutzten Tasten. Ein geradezu symbolischer Ort zwischen Vergangenheit und Gegenwart für unser Gespräch über ein Werk, in dem Altes und Neues aufeinander treffen: Henry Purcells DIDO in der Bearbeitung von Michael Hirsch und Michael Hirschs eigene Auseinandersetzung mit Vergils Stoff in der Komposition LA DIDONE ABBANDONATA. Wir nehmen Platz auf harten Drehstühlen aus Holz, und Michael Hirschs erste Gedanken kehren zurück zu den Anfängen seiner Beschäftigung mit DIDO:
„Jedes Mal, wenn ich ein Stück anfange, muss ich ganz neu denken, weil ich, anders als viele andere Komponisten, keiner Methode folge. Ich bin weder Spektralist noch Serialist, noch sonst irgendwas. Aber ich muss es irgendwo herholen. Meistens hole ich es von alten Stücken. Ich nehme davon etwas wie den Ableger einer Pflanze. Bei DIDONE ABBANDONATA war der erste Schritt, den Text zu machen, das Libretto – auf Grundlage des berühmten Librettos von Pietro Metastasio aus dem 18. Jahrhundert. Und dann habe ich den Text rhythmisiert. Ich habe versucht, den Sprechtext, so wie mein Touristen-Italienisch es sich vorstellt, zurechtzulegen. Und aus der Rhythmisierung heraus habe ich versucht, die Singstimmen zu komponieren, noch bevor ich irgendein Instrument dazu komponiert habe. Das war die Grundlage für den Rest. Ablaufpläne sind für mich ein wichtiges Arbeitsmittel. Das Stück auf einer Din A4-Seite überblicken zu können, ist für mich eine Grundlage. In diesem Fall wurde es dadurch erleichtert, dass ich den Text hatte. Ich habe die Textfragmente vertikal angeordnet und dann eine Struktur für die Instrumente gesucht: Wo kommt welches Instrument vor, wo ist gar keins? Die erste Idee, die ich hatte, ist gleich die auffälligste: dass am Ende bei der verlassenen Dido nur die Bassklarinette übrigbleibt. Und so habe ich für die verschiedenen Teile, die das Stück hat, jeweils ein Instrumentarium gesucht, das nie oder fast nie ganz gleich ist. Verschiedene Kombinationen der Instrumente sind den einzelnen Passagen zugeordnet.
Das war der Anfang der Komposition … Wie dann die Töne kommen, das ist bei mir immer sehr irrational. Da gibt es, wie gesagt, keine Methode. Oft geht es von solchen „Ablegern“ aus, also von musikalischen Zellen, die ich irgendwie weiterzuentwickeln versuche. Aber wie das dann jeweils gegangen ist, weiß ich selbst nicht mehr.“
Sergej Makarenko bringt Kaffee und Kekse und lässt uns wieder allein. Was interessierte Michael Hirsch denn inhaltlich an dem alten Stoff von Vergil und dem Libretto von Metastasio?
„Das erste Wort des Textes von Metastasio ist ‚no‘. Das ist das erste Wort von Aeneas. Er erklärt, es sei kein Zorn, auch keine Angst, er müsse einfach Dido verlassen. In der ganzen restlichen Oper geht es nur noch darum, wie die Trennung abläuft und welche Intrigen sie noch verzögern. Mich hat interessiert, dass eigentlich nicht die Liebesbeziehung von Dido und Aeneas erzählt wird, sondern nur ihr Ende. Deswegen heißt die Oper auch DIE VERLASSENE DIDO und nicht DIDO UND AENEAS. Daraus habe ich für meine zehnminütige Kurzoper ein Destillat gezogen, ich habe aus dem schwülstigen Stoff dieser barocken Opera seria in äußerster Konzentrierung nur die Beziehung zwischen diesen beiden Personen herausgelöst. Erst viel später ist mir aufgefallen, dass in DIDO AND AENEAS von Purcell die Geschichte ähnlich knapp und telegrammartig erzählt wird. Sie wäre fast genauso kurz und knapp wie meine Oper, wenn nicht Chöre und Tänze drin wären, die gar nicht zu der Geschichte gehören. Eine Liebesszene zwischen den beiden gibt es auch nicht. Es gibt sogar mehr Parallelen zwischen meiner Bearbeitung des Librettos von Metastasio und dem von Purcell, als mir ursprünglich auffielen. Das war für mich dann die Motivation, beides zusammen zu bringen und zu einem DIDO-Projekt zusammen zu schnüren.“
Ein paar Akkordeontöne erklingen weit entfernt: Der Akkordeonbauer oben scheint ein Instrument zu stimmen. Was interessiert Michael Hirsch eigentlich an der alten Musik, an Purcells Komposition? Warum setzt er sich damit auseinander?
„Bei Purcell ist mir aufgefallen, dass dieses Stück selbst schon aus vielen verschiedenen stilistischen Ebenen besteht. Das überhört man heute leicht, denn für uns ist es erstmal alles Barockmusik, ähnlich wie in der h-Moll-Messe von Bach. Auch bei Bach denkt man oft: Bach ist Bach und nichts anderes. Aber die h-Moll-Messe ist ein unglaublich polystilistisches Werk, in dem eigentlich alle unterschiedlichen Stile der Barockzeit versammelt sind: Und so verhält es sich auch mit Purcells DIDO AND AENEAS, wo Volksmusikartiges neben Lamentos und Arien steht. Die Rezitative selbst sind auch mit ariosen Momenten durchsetzt und gar keine richtigen Rezitative mehr, sondern fast schon durchkomponierte Oper.“
Plötzlich kommt Bewegung in Michael Hirschs Hände, die bislang ruhig auf den Armlehnen lagen.
„Der Vielfalt der stilistischen Ebenen entspricht die Vielfalt der inhaltlichen Ebenen. Vielleicht ist es historisch nicht ganz korrekt, was ich jetzt sage, aber Purcells DIDO ist für mich eine Collage: Die zugrundeliegende Geschichte von Dido und Aeneas wird in Rezitativen erzählt, dann gibt es eine große Lamento-Ebene, und einen Abschnitt, den ich ‚Hochzeitskantate‘ nenne. Und außerdem den ‚Hexensabbat‘ und noch eine kleine Mini-Oper als Einlage. Zur Verdeutlichung dieser Ebenen gebe ich jeder einen anderen musikalischen Zugriff der Bearbeitung. Daraus ergibt sich eine Art serielle Skala von Graden der Bearbeitung: vom reinen Original über kleinere Eingriffe bis zur vollständigen Neukomposition.“
Und was ist nun mit dem Akkordeon, das von oben nun auch in langen Akkorden zu uns hinunter tönt?
„Mich hat das Akkordeon schon immer interessiert, weil es ein unglaublich vielseitiges Instrument ist. Es ist für Ensemblekompositionen unglaublich brauchbar, weil es alle anderen Instrumente bindet. Man kann schöne Mischklänge erzeugen mit Akkordeon und der Klarinette oder Bassklarinette und auch mit anderen Instrumenten.
Ich bin weder Spektralist, noch Serialist, noch sonst irgendwas.
Es hat einen sehr integrierenden Klang. Dazu hat es eine unglaubliche stilistische Bandbreite und das ist auch der Ansatzpunkt bei der Purcell-Bearbeitung. Weil ich die Idee vieler verschiedener Stile habe, ist das Akkordeon natürlich wunderbar geeignet dafür, weil man mit ihm ganz verschiedene stilistische Ebenen ausdrücken kann. Das Akkordeon ist einerseits ein sehr orgelähnliches Instrument, es ist ja eine kleine Orgel, hat also die Möglichkeit, barocke Klangwelten aufzubauen, und ist auch ein Continuo-Instrument. Aber es ist auch ein Instrument der Volksmusik. Das wird man mit Sicherheit sehr deutlich hören bei meiner Bearbeitung der Seemannszenen, wo es ein reines Schifferklavier ist. Und dann ist es ein Instrument der Neuen Musik, wunderbar geeignet, vor allem mit seinen hohen Tönen, sich wie elektronische Musik anzuhören. Man kann aus dem Nichts heraus Töne erzeugen. Die tiefen Töne klingen, wenn man Cluster macht, auch fast elektronisch und sehr perkussiv. Und es ist ein wunderbar klangfarbenreiches Instrument. Und es gibt die Möglichkeit, Melodien zusammen zu führen und sie verschwimmen zu lassen, wenn man die Tasten gedrückt lässt. Es ist sozusagen ein dramaturgisches Instrument. Das Akkordeon ist bei mir zu einem Standardinstrument für Ensemblestücke geworden, ähnlich wie eine Geige oder ein Cello. Ich hab natürlich nicht in jedem Stück ein Akkordeon dabei, aber da, wo ich viele Instrumente mische, ist meistens ein Akkordeon dabei.“