Aus dem Libretto: Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr - Deutsche Oper Berlin

Aus dem Libretto: Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr

1. Szene

Passkontrollbereich am Grenzübergang eines osteuropäischen Landes. Eine regnerische Nacht. Grelles Scheinwerferlicht erhellt die Luft. Eine Schlange von Menschen, die – von Osten kommend – die Grenze überqueren wollen. Auf der anderen, westlichen Seite, stehen Menschen unter Schirmen und beobachten das Geschehen.

Chor mit Schirmen:
Sagen wir es doch jetzt gleich.
Solange wir nach Regen und Straße duften.
Solange uns keiner mit dem käuflichen Wort „Publikum“ tituliert.
Solange wir unsere Kleider nicht mit der Mittagssoße Kultur befleckt haben.
Sagen wir es doch so, als würden wir uns zum letzten Mal sehen,
als müssten wir nicht morgen den Blick abwenden
und unsere eigene Offenheit bereuen.

Sagen wir doch, was wir von unserer Sicherheit halten.
Von unserem Wunsch, im eigenen Treppenhaus nicht über Leichen steigen zu müssen.
Von unseren Grenzen, die reißen wie Hemden im Straßenkampf.
Von unserem Recht, die Welt mit Worten zu erklären,
die wir in den Frühnachrichten gehört haben.

Kultur ist die Fähigkeit, in Gegenwart der Toten über das Leben zu sprechen.
Kultur ist der Versuch, sich mit denen zu verständigen,
die unter dir ein Feuer entfachen.
Kultur ist unsere Fähigkeit, zwischen trauriger Erfahrung
und unguter Vorahnung zu balancieren.

Sollen wir in den Theatern über Politik sprechen?
Sollen wir aus Kriminalmeldungen Gedichte machen?
Sollen wir so tun, als würden wir uns sicher fühlen
in dieser Welt, die noch immer den Rauch ausgebrannter Synagogen verströmt?

Nun denn, versuchen wir auf Augenhöhe zu reden
mit dieser weisen, abwägenden Welt.
Versuchen wir nicht wegzuschauen, wenn wir sehen,
wie die Schlachter die rosigen Rindsleiber des Dämmerlichts zerteilen.
Versuchen wir mit denen zu diskutieren,
die uns Flüche senden
an diesem wundervollen, sanften, sonnigen Morgen.
Versuchen wir, mit dem Tod zu sprechen.

Eine beleuchtete Gefängniszelle. Zwei Personen, Flüchtlinge, die auf die Abschiebung in ihr Heimatland warten. Der erste ist jung, er trägt schwarze Kleidung und Armeestiefel. Der zweite ist älter, erfahren und trägt einen Businessanzug.

Mann in Militärkleidung:
In dieser Nacht hört man nicht nur, wie einer atmet,
man hört, wie einer nach Luft ringt.
Es fehlt an Luft in den engen Räumen, gefüllt mit jenen,
die alles erklären wollen.
Meistens riecht die Freiheit nach den städtischen Müllhalden.
Das ist eine Reise von der einen Seite der Ungerechtigkeit auf die andere.
Das ist der Wechsel von einem Krankenzimmer ins nächste,
auf der Suche nach Nahrung und Medizin,
auf der Suche nach Hoffnung und Verständnis.
Das ist unsere Welt, eine Welt, die keinen Platz hat
für Ungerechtigkeit und Schmerz.
Eine Welt, die die Straßenseite wechselt,
wenn sie uns gesehen hat.

Ich bin in dieses Land gekommen, wie Erwachsene zum ersten Mal in eine Schule kommen.
Ich habe in seinen ramponierten Klassenzimmern das Alphabet der Liebe gelernt.
Ich habe mit den Listen seiner Gläubiger lesen gelernt.
Ich weiß, wie das Land zu Hause redet und wie es auf dem Markt spricht.
Ich kenne seinen Atem, der nach Brot und Schnaps riecht.
Ich habe mit dem Vokabular aus seinen Wörterbüchern sprechen gelernt.

Chor mit Schirmen:
Keiner hat dich hergerufen.
In dieses Land, das mit sich selbst nicht zurechtkommt.
Keiner hat hier auf dich gewartet.
In dem Land, wo man sich nach jedem Schuss umschaut.

Das Land kämpft für sein Recht, in den eigenen Grenzen zu bleiben.
Und du, der du für das Land gekämpft hast, was hast du verteidigt?
Die Grenzen, die niemals deine werden?
Die Freiheit, über die du nichts weißt?

Wer sitzt jetzt in den Zellen dieses Landes?
Wer hütet die Wut wie Briefe von daheim?
Mit wem sprichst du, wenn du hier rauskommst?

Die Sprache der Wut, die Sprache dieses Landes,
eine Sprache, die beim Überschreiten jeder Grenze ihre Bedeutung verliert.
Eine Sprache, die – getrennt vom Betreiber – verschwindet.
Eine Sprache für Unterredungen im Traum.
Eine Sprache für Begegnungen in der Massenzelle.
Männer, die sich in der Meute der Häftlinge
hinter ihrer Sprache verschanzen.
Sprache als Mal, Sprache als Tätowierung, gestochen auf Narben,
als hätte jemand ein Hemd geflickt, das im Straßenkampf gerissen ist.

Mann in Militärkleidung:
In dieser Sprache sprechen, wenn keiner hinhört.
Sie sprechen, wenn keiner etwas versteht.
Sprechen, um die Geister der Panik zu beschwören.
Sprechen, um Dunkelheit und Schwüle abzuwehren.
Ich spreche und atme,
atme und spreche,
spreche und atme,
spreche und atme.

Chor mit Schirmen:
Nun denn, versuch dich mit diesem Leben zu verständigen.
Versuch mutig zu sein, wenn du mit der Dunkelheit redest.
Versuch zu reden, solange dir jemand zuhört.
Atme die Luft aus, atme die Luft aus.

 

2. Szene

Grenze. Menschen mit Koffern stehen in einer Schlange. Scheinwerferlicht blendet ihre Gesichter.

Chor mit Koffern:
Hörst du die Stimmen all jener, die es nicht über die Grenze geschafft haben?
Die Stimmen der Zurückgesetzten und Entmutigten?
Die wütenden Stimmen jener, die der Falle nicht entronnen sind,
denen nur wenige Meter bis zur Rettung fehlten?

Wie kannst du jetzt schlafen mit diesen Stimmen im Schädel?
Wie kannst du jetzt den anbrechenden Morgen beobachten, wissend,
dass jenseits des Horizonts jene zurückgeblieben sind,
die dem Lauf der Sonne nicht folgen konnten?

Die Politik füllt die Landschaft mit den Stimmen der Gescheiterten.
Die Politik gibt der Wettervorhersage einen metallischen Beigeschmack.
Die Politik lehrt dich, in der Zivilisation eine leichte Beute zu sehen.
Eine Beute, die zutraulich auf deinen Hof kommt.

Erste Stimme im Chor:
Osteuropa gleicht einem Fegefeuer.
Ein hoher Pass, an dem ganze Herden erfrieren. Ein Bahnhof, von dem niemand abreist.
Ein Markt, auf dem man Freude kaufen kann.

Zweite Stimme im Chor: 
Anfang des 21. Jahrhunderts. Eine trockene, gut beleuchtete Gefängniszelle. Zwei Männer warten auf ihr Urteil.
Sie halten den Atem an, wägen ihre Chancen ab.
Überlegen, wie die Dämonen der Geschichte zu überlisten wären.

Dritte Stimme im Chor:
Unsere Erinnerung hängt an der Politik und der Religion.
In unseren Familienalben finden sich zu viele Porträts von Mördern und Ermordeten.
Sei gut zu uns, Geschichte, sei uns gnädig.
Entlass uns aus deinen eisigen Fängen.

Chor:
Countdown der Zeit.
Sonnenheller Himmel.
Die Zeit rinnt uns durch die Finger.
Die Zukunft wird geformt aus unseren heutigen Tragödien.

Vor einem erleuchteten Schaufenster sitzt eine Frau und hält ein fest in eine Decke gewickeltes Baby im Arm. Sie trägt ein Kopftuch, eine dicke abgewetzte Winterjacke. In einer Hand hält sie einen Pappbecher aus einem Schnellrestaurant, in den die Leute Münzen werfen.

Polizisten treten auf sie zu.

Erster Polizist:
Hallo, Sie dürfen hier nicht betteln.

Zweiter Polizist:
Hallo, Sie stören hier die öffentliche Ordnung.

Erster Polizist:
Haben Sie einen Personalausweis?

Zweiter Polizist:
Welche Sprache sprechen Sie? Verstehen Sie uns überhaupt?

Frau:
Ja, ich verstehe Sie. Ich verstehe alles.
Ich habe keinen Ausweis.
Und ich habe auch keinen Namen.
Ich habe Brandwunden, die ich bekam, als die Welt, in der ich gelebt habe, in Flammen stand. Ich habe Narben, die vom Überqueren der Grenzen geblieben sind.

Erster Polizist:
Sie können hier nicht bleiben.

Zweiter Polizist:
Sie können hier nicht bleiben.

Erster Polizist:
Es ist verboten, hier zu bleiben.

Zweiter Polizist:
Hören Sie uns?

Frau:
Ich höre Sie. Ich höre Sie reden.
Ich höre euch lachen, wenn ihr Mittagspause macht.
Höre euch summen, wenn ihr nach Hause geht.
Höre euch lachen, wenn ihr mit euren Frauen sprecht.

Ich höre euch im Schlaf atmen.
Höre euch erschrocken aufschreien, wenn ihr erwacht und in die Dunkelheit schaut.
Ich weiß, dass ihr die ganze Zeit von uns träumt:
Von denen, die ihr tagsüber in den Straßen eurer Stadt seht.

Ich höre alles, was die Mütter zu ihren Kindern sagen, wenn sie sie zur Schule bringen.
Ich höre, was die Priester sagen, wenn sie der spärlichen Gemeinde Absolution erteilen.
Ich höre eure Angst, ich höre eure Unsicherheit.
Das Einzige, was ich nicht höre, ist die Stimme der Liebe.

Ich vernehme keine Worte, mit denen ihr dem Tod widersteht.
Ich vernehme keine Worte, mit denen ihr über die Zukunft sprecht.
Ich vernehme keine Worte der Freude, keine Worte der Vehemenz,
keine Worte, die Dämonen vertreiben und Wunden heilen.

Eine Stimme, die in der Luft hängt.
Eine kindliche Stimme, die um nichts bittet,
eine Stimme, die nichts fürchtet und nichts verbirgt,
eine Stimme, die nur staunt über die eigene Fähigkeit zu klingen.

Die Polizisten richten die Frau auf. Sie wickelt die Decke aus, die sie im Arm gehalten hat, und faltet sie ordentlich zusammen. In der Decke war natürlich kein Kind.

 

3. Szene

Die Gefängniszelle. Unsere Protagonisten bekommen Frühstück, sie unterhalten sich.

Mann im Anzug:
Wer wartet denn zu Hause auf dich?
Wenn hast du zurückgelassen?

Mann in Militärkleidung:
Keiner. Alle haben sich von mir abgewandt,
als sie hörten, dass ich kämpfe.

Mann im Anzug:
Richtig so. Mörder mag keiner.

Mann in Militärkleidung:
Die Mörder sind da, wo wir herkommen.

Mann im Anzug:
Dann hast du gegen die eigenen Leute gekämpft?
Und jetzt schieben sie dich nach Hause ab?
Weißt du, dass sie sich dort nicht auf dich freuen?

Mann in Militärkleidung:
Ich ahne es.

Mann im Anzug:
Schwer ist das Brot der Vertreibung, nicht wahr, mein Freund?

Mann in Militärkleidung:
Schwer. Aber ehrlich.

Mann im Anzug:
Klar, dass du nun ausgerechnet über Ehrlichkeit sprichst.
Was geben dir denn deine Freunde?
Wo ist ihre Dankbarkeit,
wo die Gerechtigkeit, mein Freund?

Vielleicht meint es unsere Zeit mit Idealisten besonders gut.
Du kommst einfach nach Hause
statt an den Galgen.
Du wirst einfach an deinen Platz verwiesen.
Ein System von Grenzen und internationalen Vereinbarungen.
Ein auszulegender Kodex von Regeln und Kompromissen –
Die Welt schützt sich vor überzogenen Illusionen,
die Welt stützt sich auf einen rettenden Zynismus.

Das Brot der Vertreibung reicht einfach nicht für alle.

Mann in Militärkleidung:
Nur zu – sprich vom Brot der Vertreibung,
von der unausweichlichen Rückkehr und Bezahlung.
Sprich von der Nichtzeit im Gefängnis.

Wie viele von uns prüft das Leben auf Stärke.
Wie vielen von uns werden Rechnungen gestellt, die
wir nicht begleichen können?
Allzu grausame Gesetze, bestimmt, uns
glücklich zu machen.
Allzu kraftlose Gesetzeshüter,
denen unsere Hoffnung obliegt.

Verraten und verdammt zur Herabsetzung,
beraubt der Fähigkeit sich zu rechtfertigen –
was erzähle ich dir vom Brot der Vertreibung,
von der unaufhaltsamen Rückkehr ins Dunkel?

Die Welt wird geschlossen wie ein nächtlicher Bahnhof.
Gute Fahrt all jenen, die es geschafft haben, von hier fort zu kommen.

 

4. Szene 

Grenzübergang. Menschen passieren die Grenze.

Flüchtlingschor:
Der Wachmann öffnet für uns das Tor. 
Schaut nur – der Wachmann öffnet für uns das Tor! Ein redlicher Mann mit schweren Schlüsseln.
So geduldig scheidet er uns von der Vergangenheit. Scheidet uns wie das Licht von der Finsternis.
Und so öffnen sich die Grenzen wie Bücher.
Was liegt wohl vor dir?
Das schwarze Schulwissen der Vertriebenen. Eine Sprache, die in den Händen bricht wie Brot.

1. Stimme:
Du wirst nicht satt werden, du, du wirst dich nicht retten.
Hunger und Einsamkeit erwarten dich in den Schulfluren der Zukunft. Hunger, Schweigen und Einsamkeit!

2. Stimme:
Hinter uns bleibt Ödnis zurück.
Was ist wohl in deiner Vergangenheit gewesen?
Tote Städte wie geschlossene Bibliotheken.
Eine Sprache, aus der Liebe gewonnen wird wie Öl aus der Erde.

1. Stimme:
Da stehen wir nun zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Da bläst uns der Wind der Kindheit in den Rücken.
Und der redliche Wachmann öffnet uns das Tor.
Der ach so redliche Wachmann weist jedem seine Zukunft zu.

2. Stimme:
Eine merkwürdige neue Sprache, eine wundersame neue Kirche.
Die Marktplätze von Wien und München, Universitäten und Häfen.
Mit welchen Wörtern benennen wir nun die SchaDen in der Zukunft?
Auf welche Wörter verzichten wir nun, wenn wir die Vergangenheit beweinen?

Chor:
Der gelbe Himmel der Vertreibung, unter dem die Bäume aufwachsen, die wir gepflanzt haben.
Der bestirnte Himmel der Nostalgie, aus dem ein Metallmond stürzt.
Die Straße der Möglichkeiten ist eine Einbahnstraße.
Es werden Säuglinge über sie getragen.
Es werden Tote über sie getragen.
Es laufen Männer über sie auf der Suche nach Dunkel.
Es rennen Frauen über sie und verfolgen die Dämonen der Zärtlichkeit.

Redlicher Wachmann, sprich als Erster.
Sprich mit mir, du redlicher Mensch.
Sprich über die Unmöglichkeit zurückzukehren, sprich über die Unvermeidlichkeit der Trauer. Sprich mit mir über die Trauer, über ihre Spannung und Sanftheit.

Das Licht kommt nach uns, das Licht kommt nach einem langen Weg.
Die Bahnhöfe füllen sich mit unseren Stimmen.
Von unserer Schwermut erkalten die Brücken.
Die kindlichen Lippen schneiden sich an der fremden Sprache.
Schneiden sich und schwären.
Schneiden sich und schwären.

 

Serhij Zhadan, 1974 im Gebiet Luhansk/Ostukraine geboren, studierte Germanistik, promovierte über den ukrainischen Futurismus und gehört seit 1991 zu den prägenden Figuren der jungen Szene in Charkiw. Er debütierte als 17-Jähriger und publizierte zwölf Gedichtbände und sieben Prosawerke. Für „Die Erfindung des Jazz im Donbass“ wurde er mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis und mit dem Brücke-Berlin-Preis 2014 ausgezeichnet (zusammen mit Juri Durkot und Sabine Stöhr). Die BBC kürte das Werk zum „Buch des Jahrzehnts“. Zhadan lebt in Charkiw. Seine Werke werden bei Suhrkamp verlegt.

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