Hymnen auf die Liebe - Deutsche Oper Berlin
Ein Essay von Sandra Luzina
Hymnen auf die Liebe
Sandra Luzina studierte Philosophie, Germanistik und Soziologie an der FU Berlin. Sie schreibt über Tanz und Theater für den Tagesspiegel und arbeitet für den Fernsehsender ARTE.
„Verloren sei uns der Tag, wo nicht ein Mal getanzt wurde!“ schrieb Nietzschein „Also sprach Zarathustra“. Dieses Diktum war für den Choreografen Maurice Béjart ein Lebensmotto – bis zuletzt. Der charismatische Ballett- Erneuerer starb im November 2007 im Alter von 80 Jahren in Lausanne. Doch seine Compagnie existiert weiter und hält das künstlerische Erbe des Jahrhundert-Choreografen lebendig. Davon kann man sich jetzt bei den drei Abenden des Béjart Ballet Lausanne überzeugen, das auf Einladung undin Zusammenarbeit mit dem Staatsballett Berlin und der Deutschen Oper Berlin im Tempodrom gastiert. Nach dem Tod Béjarts hat sein langjähriger Startänzer und Assistent Gil Roman die künstlerische Leitung des berühmten Tanzensembles übernommen. Der Meister hatte es so gewollt. Roman war es natürlich bewusst, in welch große Fußstapfen er treten würde. Unter ihm wird das Repertoire auf höchstem Niveau gepflegt – und auf Gastspielen in aller Welt wird das Béjart Ballet Lausanne immer noch gefeiert.
In guter Erinnerung ist Maurice Béjarts letzter Auftritt in Berlin im Jahr 2003 – da war er schon eine wandelnde Legende des modernen Tanzes. Das Béjart Ballet Lausanne tanzte damals die Choreografie „Ballet for Life“, in der der Meister zwei männlichen Diven ein Denkmal gesetzt hat. Das Pop- Ballett mit Songs von Queen war eine Hommage an Béjarts früh verstorbenen Lebensgefährten, den Tanzstar Jorge Donn. Dessen Biografie wurde mit der des Queen-Sängers Freddie Mercury überblendet, der ebenfalls an AIDS starb. Seine heitere Choreografie wollte Béjart als „Exorzismus“ und als eine Feier des Lebens verstanden wissen. Zu Berlin hatte Béjart eine besondere Verbindung. Hier erregte er schon in den fünfziger Jahren Aufsehen bei seinen Auftritten im Titaniapalast. Als das Staatsopern- Ballett in den neunziger Jahren einen neuen künstlerischen Leiter suchte, wurde der Franzose heftig umworben. Er schickte Michael Denard als seinen Statthalter – und verblieb selbst in der Schweiz, wo er seit 1987 das Béjart Ballet Lausanne leitete. Dennoch verdankt Berlin ihm einige wichtige Kreationen: Vor allem das Wagner-Spektakel „Ring um den Ring“, das 1990 für die Deutsche Oper entstand und von Vladimir Malakhov triumphal wiederaufgenommen wurde.
Auf ein Gastspiel des Béjart Ballet Lausanne mussten die Berliner lange warten. Doch nun können sie sich auf hochkarätige Aufführungen freuen – und zwar in tänzerischer wie in musikalischer Hinsicht. Die Lausanner Compagnie wird nämlich von Berliner Tänzern und Musikern tatkräftig unterstützt. Während bei dieser Produktion normalerweise die Musik Strawinskijs, Mahlers und Ravels vom Tonband läuft, wird im Tempodrom das Orchester der Deutschen Oper Berlin live spielen – und Chefdirigent Donald Runnicles wird die ersten beiden Vorstellungen dirigieren. Das Programm umfasst drei der wichtigsten Werke Béjarts aus drei Jahrzehnten: „Boléro“ [uraufgeführt 1959], „Le Sacre du printemps“ [1961] und „Ce que l’amour me dit“ [1974]. Beim „Boléro“ tanzen nicht nur Herren des Staatsballetts Berlin mit. Hier ist ein regelrechter Coup gelungen. Polina Semionova, die frühere Starballerina unter Vladimir Malakhov, wird am 19. Oktober den Solo-Part tanzen und auf den runden roten Tisch steigen – das bedeutet 17 Minuten erotische Spannung. Für ihr Berliner Comeback hätte sie sich kein besseres Stück auswählen können.
Ravels 1928 entstandenes Stück hat immer wieder die Fantasie der Choreografen angeregt. Béjarts Version, die 1961 in Brüssel uraufgeführt wurde, ist nicht nur ein Klassiker der Moderne, sondern gilt als eines der erotischsten Ballette der Tanzgeschichte überhaupt. „Bei Boléro dachte ich weniger an Spanien, das man mit dem Titel verbindet, als an den Orient, der in der Partitur versteckt ist“, schreibt Maurice Béjart in seinen Memoiren „Ein Augenblick in der Haut eines anderen“. „Mir lag daran, die Melodie herauszuholen, die sich immer wieder vordrängt und unermüdlich wie eine Welle heranrollt. Der Rhythmus, dem die Melodie als Anreiz dient, lässt sich verlocken, macht Versprechungen und steigert so Volumen und Intensität. Alle Kraft ist verbraucht, wenn am Ende der Rhythmus die Melodie verschlingt. Der Boléro ist eine Geschichte der Begierde.“
Ravel selber äußerte über den Boléro, er sei ein „reines Orchesterstück ohne Musik“, nichts als ein „langes, progressives Crescendo“. Das spanischarabische Thema wird weder variiert noch entwickelt, sondern stetig wiederholt – insgesamt 18 Mal. Dadurch gewinnt es eine „insistierende Kraft“, wie der Komponist selbst anmerkt. Ravel hatte den Boléro im Auftrag der Tänzerin und Mäzenin Ida Rubinstein komponiert. Das Musikstück war also von Anfang an für die Ballettbühne konzipiert. In der Original-Choreografie von von Bronislawa Nijinska verkörperte die 43-jährige Rubinstein eine Flamenco-Tänzerin, die in einer spanischen Taverne auf dem Tisch tanzt und die Männer in Wallung bringt. Mit ihren erotisch-lasziven Bewegungen schockierte und faszinierte Rubinstein das Pariser Publikum.
Bei Béjart scheint die ursprüngliche Konzeption von Solistin und Gruppe noch durch. Das Bühnenbild wirkt in seiner Abstraktion ungemein effektvoll: Die Solistin /der Solist tanzt auf einem überdimensionalen Tisch, der einen leuchtend roten Kreis bildet – einen Kreis der Begehrens. Béjart hat sein Ballett von aller andalusischen Folklore gereinigt. Was übrig bleibt, ist der pure Akt der Verführung. Die erotische Wirkung war durchaus beabsichtigt. „Ich benutzte einige psychologische Striptease-Elemente [der Körper, der sich scheinbar anbietet] und fand ein Ritual wieder, von dem der Striptease nur eine lächerliche Entgleisung ist“, schreibt Béjart.
Die Solistin verkörpert bei Béjart die Melodie. Auf der dunklen Bühne sind anfangs nur die Hände der Tänzerin zu erkennen. Sie hebt in hypnotischer Langsamkeit beide Arme und streicht mit den Händen über ihren Leib. Umringt wird sie von 40 jungen Männern mit nacktem Oberkörper und in schwarzen Hosen, die auf drei Stuhlreihen sitzen – rechts, links und hinter der roten Scheibe. Dabei lassen sie die Solistin nicht aus den Augen. Das erotische Moment der Musik liegt in der langsamen Steigerung der Intensität bis zum Höhepunkt. Diese Steigerung hat Béjart auch choreografisch umgesetzt. Die Bewegungen der Solistin werden immer drängender und lasziver, auch einige Ballettfiguren werden hinzugefügt. Sie lockt, stachelt die Menge auf und bleibt doch unerreichbar.
Wenn in der Musik eine neue Instrumentengruppe beginnt, stehen jeweils zwei Tänzer auf. Sie lassen sich von dem federnden Rhythmus mitreißen, wiegen sich in den Hüften. Mehr und mehr junge Männer scharen sich um die Tanzgöttin in der Mitte. Die suggestive Choreografie mutet an wie ein Initiations-Ritus. Dabei gelingen Béjart starke Bilder: Die blutrote Scheibe erinnert an eine glühende Sonne, um die die Tänzer mit ihren bloßen Oberkörpern einen hellen Ring bilden. Oder sie erinnert an ein Rad mit Speichen. Am Ende knien die Männer nieder und bilden eine Kette. Beim Schlussakkordgibt es kein Halten mehr. Die Jünglinge springen auf den Tisch und begraben die Angebetete unter sich. Das lodernde Verlangen wird bei Béjart in geometrische Formen wie Kreis und Viereck gebannt. Es ist diese Verbindung aus Abstraktion und Sinnlichkeit, die Béjarts Meisterschaft ausmacht. Am Ende steigert sich der „Boléro“ zu einer kollektiven Trance – und auch der Zuschauer kann sich seiner hypnotischen Wirkung nicht entziehen. Das Ballett ist wie geschaffen für die Apotheose des Solisten. Tanzstars wie Maya Plisetzkaya, Suzanne Farrell und Sylvie Guillem haben den Boléro interpretiert auf je eigene Weise. „Bei jeder Tänzerin spielte die eigene Psychologie und das persönliche Universum mit“, schreibt Béjart in seinen Memoiren. „Jede sah die Rolle anders und machte sie sich so zu eigen.“ Das Ingeniöse Béjarts zeigt sich daran, dass er gleich mehrere Versionen des „Boléro“ geschaffen hat. Wie kein anderer hat er den Männertanz aufgewertet. Also drehte er den Spieß um und ließ den Solopart von einem Mann tanzen, der entweder von 40 Mädchen angehimmelt wird oder von 40 Jünglingen. Durch diese Umbesetzung verschieben sich auch die Bedeutungen – Béjart zelebriert die unterschiedlichen Formen des Begehrens. Für seinen Protagonisten Jorge Donn war es eine der zentralen Rollen.
Gut ein Jahr vor dem „Boléro“ gelang Maurice Béjart bereits ein sensationeller Erfolg mit dem Strawinskij-Ballett „Le Sacre du printemps“ – es wurde zum Markenzeichen jenes Ensembles, dass sich bald „Ballett des 20. Jahrhunderts“ nennen sollte. Strawinskij hatte seinem Werk den Untertitel „Bilder aus dem heidnischen Russland“ gegeben. Damit konnte Béjart aber nichts anfangen. „Ich dachte, dass der Frühling nichts mit diesen alten Russen zu tun hätte, die ein junges Mädchen ansahen, als sei sie Susanna im Bade“, schreibt er. „Und ich fand es ernsthaft dumm, mit dem Tod zu schließen, und das sowohl aus persönlichen Gründen als auch, weil die Musik genau das Gegenteil aussagte.“ Seine Neudeutung gab dem Ballett eine positive Wendung. Béjart schuf kein Opferritual, sondern einen zeitlosen Fruchtbarkeitsritus, der die Sexualität feiert. „Ich wollte die vitale Kraft zeigen, die die Spezies drängt, sich fortzupflanzen“, schreibt er. Der Choreograf trennt die Männer und die Frauen. Der Fokus liegt auf dem auserwählten Paar, das sich am Ende in einem stilisierten Geschlechtsakt vereinigt – was in einem kollektiven Taumel mündet. Fast ein Jahrzehnt vor der 68er Revolte nahm Béjart in seiner Version des „Sacre“ die sexuelle Befreiung vorweg, – wie groß der Schock damals war, kann man sich heute kaum noch vorstellen.
„,Sacre‘ ist ein Ballett, in dem die Rohheit dominiert“, äußerte Béjart. Er ersann Bewegungen, die für die damalige Zeit sehr gewagt waren, weil sie das Animalische, die Macht der Instinktive betonten. Die Jungen verharren anfangs in kniender Haltung, später gehen sie wie brünstige Hirsche aufeinander los. Die Mädchen liegen zuerst mit ausgebreiteten Armen und gespreizten Beinen auf dem Boden, sie heben erst ihren Oberkörper und später ihr Becken. Und erinnern auch schon mal an Knospen, die sich öffnen. Béjart wollte keine Psychologie, er wollte Schenkel, Bäuche und durchgedrückte Rücken. „Die Tänzer mussten gehindert werden, ihre persönlichen Gefühle auszudrücken“, schreibt er über die Proben. „Mein Ziel war, dass sie einen tierischen Ausdruck hatten. Sie mussten eine Kraft ertragen, die über sie hinausging.“ Die Erwählte – so lässt sich leicht erkennen – ist eine Vorläuferin der Solistin im „Boléro“. Sie steht im Grand plié in der zweiten Position und heizt ihr Gefolge an.
Béjart ersann keinen tänzerischen Primitivismus, die Modernität seiner Choreografie springt noch heute in die Augen. Die Spannung resultiert daraus, dass die animalische Energie in abstrakten Linien festgehalten wird. Auch wenn er als großer Erneuerer gefeiert wurde, die Grundlage Maurice Béjarts war stets das akademische Ballett. „Die Schritte im ,Sacre‘ scheinen z. B. überraschend und dem freien oder modernen Tanz entnommen“, notiert er, es sind aber akademische Schritte, die ich nur transformiert, edel deformiert habe. Diese Schritte gehen immer von klaren, sauberen akademischen Positionen aus. Erst danach verschiebe ich gewisse Körperpartien, um das herauszuarbeiten, was ich will.“ Seine präzisen Körper-Architekturen, die Behandlung des Corps de ballet – sie faszinieren bis heute.
„Ce que l’amour me dit“ gehört zu der Reihe der sinfonischen Ballette Béjarts, die mit Beethovens Neunter Sinfonie begann. Béjart gibt eine choreografische Interpretation der Musik Gustav Mahlers in ihrer Beziehung zur Philosophie Nietzsches – der für seine eigene intellektuelle Entwicklung stets eine Schlüsselfigur blieb. Musikalische Basis des Abends sind Sätze aus Mahlers dritter Sinfonie.
Der erste Teil „Was der Mensch mir erzählt“ ist ein Nocturno auf die Verse des Zarathustra [O Mensch, gib acht]. Der männliche Protagonist sitzt anfangs im Schneidersitz auf der Bühne, während die Solistin hinter ihm ihre Arme ausbreitet wie eine Priesterin. Béjart verbindet hier auf unnachahmliche Weise Sinnlichkeit und Spiritualität. Der Mann verkörpert das Erwachen der Welt und die Suche nach dem Licht. Doch auch der weibliche Part ist mit großem Raffinement gestaltet. Der virtuose Pas de deux ist zunächst sehnsuchtsvoll-innig, dann geradezu euphorisch – am Ende tritt ein Knabe hinzu und das Paar verwandelt sich in ein zärtlich liebendes Trio. Das Mahler-Ballett zeigt den Choreografen auf der Höhe seines Schaffens. Béjart nutzte all die tänzerischen und expressiven Möglichkeiten der jungen Tänzer des „Ballet du XXe siècle“. In den frühen siebziger Jahren hat Béjart den Elan der Jugend, ihre Suche nach sich selbst, festgehalten und in eine verführerische Form gegossen. Der unerschütterliche Optimismus von „Ce que l‘amour me dit“ ist auch heute noch ansteckend.
Das Berlin-Programm ist dem Ekstatiker Béjart gewidmet. Dem großen Verführer. Béjart feiert die unterschiedlichen Spielarten der Liebe. Die Hymne auf den Eros und den Tanz – sie ist sein Vermächtnis an die Welt.
Aus dem „Deutsche Oper Magazin“, Ausgabe September 2014 – Januar 2015
Foto: CE QUE L’AMOUR ME DIT © 2013, Phillipe Pache