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Subtiles Suspense -Management - Deutsche Oper Berlin

Aus dem Programmheft

Subtiles Suspense -Management

Gedanken von Enrique Mazzola zu LES VÊPRES SICILIENNES

Eine der besonderen Qualitäten von LES VÊPRES SICILIENNES ist sicher der Stilmix, der uns in diesem Werk entgegentritt. Er navigiert mit seinen Mitteln durch das Universum Grand Opéra – das bedeutet, dass er die von Komponisten wie Meyerbeer vorgegebenen formalen Eckdaten akzeptiert, aber sich dieses Genre auf eine persönliche Art zu eigen macht, die auch seine späteren Werke charakterisieren sollte. Das betrifft schon den Umfang der Oper: Es hatte bislang nicht in Verdis DNA gelegen, eine derart komplexe Theaterform mit einer so breiten formalen Anlage zu erfüllen – bis zu LES VÊPRES zeichneten sich Verdis Opern ja durch eine komprimierte Dramatik aus, die auf engem Raum scharfe Kontraste aufeinanderprallen ließ. In LES VÊPRES muss Verdi dagegen nicht nur ein weiträumigeres Handlungsgerüst füllen, sondern sieht sich auch mit einem für ihn neuen dramatischen Bogen konfrontiert, in dem über fünf Akte alles auf eine finale Katastrophe zuläuft. Im Gegensatz zu Meyerbeer, der in seinen Grand Opéras viel Platz für atmosphärische Bilder lässt und diese durch besondere Orchesterfarben belebt, nutzt Verdi kaum Extra-Instrumente: Anders als bei Meyerbeer haben wir keine Bassklarinette, kein Kontrafagott, keine gedoppelten Harfen und auch das Schlagwerk ist übersichtlich. In diesem Sinne findet man in LES VÊPRES auch kaum sizilianisches Lokalkolorit. Dagegen war Verdi viel stärker daran interessiert, den Grundcharakter der Ungewissheit, der beunruhigenden Vorahnung der nahenden Katastrophe hörbar werden zu lassen. Statt der hitzigen, direkten Konfrontation in seinen früheren Opern gibt es in LES VÊPRES sozusagen ein subtileres Suspense-Management. Dafür gibt uns schon eine Stelle aus der Ouvertüre ein gutes Beispiel, die ganz am Ende des Werks wieder auftaucht, jedoch in einer metrischen Beschleunigung, die an dieser Stelle einen geradezu gewalttätigen, atemlosen Eindruck vermittelt. Diese Beschleunigungen begegnen uns immer wieder, so im großen Quartett des vierten Aktes oder auch im Duett Montfort-Henri. Bis zum Aufstand ganz am Ende bleibt dieses nervöse Grundgefühl, selbst in einem auf den ersten Blick harmlosen Moment wie Henris chansonhaftem Cantabile im letzten Akt, das eigentlich von seinem Liebesglück handelt, ist eine Irritation hörbar: Das Orchester begleitet ihn durchweg mit Tremoli und schafft dadurch eine seltsam irreale Grundatmosphäre, die man als träumerisch deuten kann, aber eben auch als ein erstes Erzittern des Bodens vor einem Vulkanausbruch. Eine Doppeldeutigkeit, die meiner Meinung nach von Verdi durchaus beabsichtigt ist, denn diese Zwiespältigkeit spiegelt sich in LES VÊPRES auch auf den Ebenen von Chor und Solisten. Denn eine weitere Besonderheit des Stücks besteht darin, dass der Chor fast durchweg zur gleichen Harmonie zwei divergierende Haltungen ausdrückt – nur dass dann beispielsweise die Franzosen in Vierteln und die Sizilianer in Achteln singen. Wir haben also den Klangeffekt zweier verschiedener Stimmungen in der gleichen Harmonie – und auch das erzeugt ein Gefühl der Unsicherheit, das ich möglichst klar herauszuarbeiten versuche, indem ich die Sizilianer beispielsweise bitte, ihre Akzente schärfer zu betonen, während ich von den Franzosen ein stärkeres Legato einfordere.

Ein ähnliches Bild zeigt sich schließlich, wenn wir auf die Solisten blicken: Es ist in LES VÊPRES überhaupt nicht klar, wer eigentlich die Hauptrolle hat, und ebenso wenig wissen wir, auf wessen Seite wir eigentlich stehen sollen. Die Identifikation mit einer einzigen Figur ist hier viel schwieriger als in anderen Opern, da alle sowohl positive wie negative Seiten zeigen und bis auf Procida von widersprüchlichen Gefühlen geprägt sind. Hélène beispielsweise, die weibliche Hauptfigur, wird von Rache für ihren hingerichteten Bruder ebenso angetrieben wie von ihrer Liebe zu Henri – und diese emotionale Widersprüchlichkeit hat Verdi vielleicht auch dazu bewogen, ihr im letzten Akt kein braves Brautlied zu schreiben, sondern einen elektrisierenden Bolero, der an dieser Stelle überrascht, aber deshalb umso mehr zeigt, dass wir der Aussicht auf Glück und Frieden hier nicht trauen dürfen.

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