Die Deutsche Oper Berlin architektonisch betrachtet - Deutsche Oper Berlin
Ein Essay von Gerwin Zohlen
Die Deutsche Oper Berlin architektonisch betrachtet
Ein Essay von Gerwin Zohlen – Erschienen in Opern-Magazin 3, Beilage zum Tagesspiegel, erschienen September 2007.
Ein paar Wochen lang hob die Deutsche Oper Berlin sich im letzten Jahr aus der langen Fassadenflucht der Bismarckstraße hervor, die der Großstädter und notorische Berliner meist unachtsam und eilig mit dem Auto durchfährt; für Fußgänger wahrlich kein wirtlicher Ort. Die Oper hatte sich ein Paillettenkleid übergehängt, ein dünnes Netz mit güldenen Tellerchen, nicht pompös und fett oder protzig, sondern spielerisch und leicht, eher kokett und schäkernd als angeberisch, unernst und heiter eben, wie es dem durch und durch artifiziellen Gebilde einer Oper nur recht und billig sein kann. Auf einmal stutzte man und sagte verblüfft: Guck’ mal, ein Haus! Und: Ach! Deutsche Oper, aha! Was spielen die denn da? Nach Kurzem aber war der reizende Eyecatcher wieder weg, ein Spuk bloß, fortgeweht von den Winden der Rechtsgeschichte und Urheberklagen. Fritz Bornemann selig, der greise Architekt des Hauses, der im Frühsommer dieses Jahres hoch betagt und höchst geehrt mit 95 Jahren gestorben ist, hatte sich gegen diese Entweihung oder gar Schändung seines Werks verwahrt und apodiktisch die Entfernung gefordert.
Bei aller Liebe zur Inszenierung und zum Theater- und Ausstellungswesen, die ihm eigen war und für die er zumal angesichts der ebenfalls von ihm entworfenen grandiosen Freien Volksbühne (heute Berliner Festspiele) viel gelobt wurde, dieses Glitzer- und Flatterwerk war ihm denn doch zu viel Theater. Und wieder sackte die Deutsche Oper zurück in die Unauffälligkeit und in die ureigene Paradoxie ihrer Architektur, bei aller Größe und Stattlichkeit nämlich physiognomisch im rasenden Blick des Autoverkehrs so gut wie ganz zu verschwinden. Unversehens stößt man über diese Bagatelle, diese kleine Nebensache der Aufmerksamkeitsstrategie auf Grundprinzipien der Architektur, die als Nachkriegsmoderne etikettiert wird. Zu deren herausragenden Zeugnissen gehört Fritz Bornemanns Deutsche Oper zweifellos. Sie entstammt wie der Ernst-Reuter-Platz ein paar Kilometer weiter östlich jener Zeit, die dem Auto als Manifest des Fortschritts fast hemmungslos verfallen war. So glaubten die Planer des Platzes etwa, dass er in Größe und Straßenquerschnitt auf eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 80 km/h anzulegen sei und der moderne Automobilist also mit mindestens diesem Tempo weiter durch die Bismarckstraße nach Westen brettern würde.
Es ist zwar nicht verbürgt, aber höchst wahrscheinlich, dass Bornemann seinen Entwurf der Oper auf diese in den 50er Jahren völlig unhinterfragte Tatsache abstellte. Denn sie erklärt unter anderem, warum er die berühmt-berüchtigte Dicke Wand aus Waschkieselputzplatten in den gewaltigen Dimensionen von 70m Länge und 12m Höhe völlig fensterlos in den Straßenraum stemmte. Hinter ihrem Schallschutz und in ihrem mächtigen Schatten konnte sich das festliche Treiben der Premierensoziologie im Inneren ganz prächtig introvertiert entfalten. Allenthalben wurde die Fassade zur Bismarckstraße mit eben diesem Argument seinerzeit gerechtfertigt. Als Konzession an die Kritiker hatte Bornemann in der Realisierungsphase ein Vorspringen, ein Auskragen der Fassade über den Sockel um fast drei Meter eingeplant, damit jedenfalls aus den seitlichen Ganzglasfassaden ein Blick in die Straße möglich würde. Damals versuchten aber nicht nur die Boulevard- und Tageszeitungen eine Campagne zu inszenieren, indem sie gegen die „Klamotten“ und „Pflastersteine an der Wand“ wetterten, auch die Fachkritik schüttelte bedenklich den Kopf. Zu finster und zu trutzig, lautete der Tenor, wo doch Gerhard Weber in Hamburg zur gleichen Zeit zeigte, wie städtisch zugewandt und offen eine moderne Oper aussehen kann, wenn sie ihre Schaufassade mit Fenstern gliedert und transparent gestaltet.
In Berlin dagegen hielten sich Bornemann und die prämiierende Jury (mit dem großen Egon Eiermann) radikal an den Internationalen Stil und seine Entwurfshaltung, die das Innen der Räume dezidiert und provokativ vor den Respekt und die Achtung des städtischen Außen und Straßenraums setzte. Ein weiteres Motiv der Deutschen Oper erläutert sich aus dieser Architekturschule, nämlich die flächig gestreckte, so genannte Bandästhetik des Gebäudes. Theoriegeschichtlich ist auch sie dem Blick aus dem fahrenden Auto geschuldet. Eine vertikale Ausrichtung eines Hauses durch aufrechte Fenster, Risalite, Lisenen, Säulen gar oder anderem galt dieser Moderne als Blickbremse. Der Favorit und überhaupt nicht geheime Regent jener Zeit, das „Tempo! Tempo! Tempo!“, verlangte nach flach liegenden Fensterbändern und lang gestreckten Hauskörpern. Sie signalisierten Dynamik und symbolisierten Fortschritt.
Da bei einer Oper jedoch unvermeidlich auch ein Bühnenturm architektonisch zu berücksichtigen ist, galt es als herausragende Geschicklichkeit Bornemanns, dass er eben diesen durch die Dicke Wand und den abstrakten, liegenden Kubus des Zuschauerhauses optisch und ästhetisch gleichsam zum Verschwinden gebracht hatte. Und wirklich, man muss immer erst bewusst und mindestens ein zweites Mal hinsehen, um den Bühnenturm der Deutschen Oper zu entdecken.
Eine fast logische Folge dieser architekturästhetischen Magie Bornemanns allerdings war der von Anfang an beklagte Verlust eines statthaften Eingangs in die Oper. Die optische „Adresse“ eines Hauses, sein betonter und unterscheidbarer Zugang galt der Moderne des Internationalen Stils im Allgemeinen schon nicht viel eigentlich gar nichts). Für Bornemann war es durch das konzedierte Auskragen des Baukörpers praktisch fast unmöglich geworden, der Oper ein festliches Portal oder auch nur einen Baldachin beizugeben. Dieser Mangel wurde oft – auch fachlich – kritisiert und von vielen beklagt. Meist wurde und wird er mit dem Hinweis auf den inneren Reichtum der Foyers und ihrer grandiosen Freitreppen gerechtfertigt, die den architekturästhetischen Fehler kompensieren. Das ist richtig und bestätigt die Entwurfsdevise Innen vor Außen. Die dunkle, edle Holztäfelung, die schwarzen Böden und zumal der Zuschauerraum mit seiner annähernd überall gleichen, man sagt „demokratischen“ Sicht auf die Bühne ohne hierarchisierende Logenarrangements, sie haben ebenso viele Leute über das Mäuseloch des Eingangs hinweg getröstet.
Aber bei der Deutschen Oper Berlin verhält es sich insgesamt wohl doch so, wie es ein berühmtes Diktum der Kritik verheißt: Eine Architektur, die ihre Geschichte hat, kann gar nicht mehr beurteilt werden. Jeder Blick verfängt sich unweigerlich in den Anekdoten und Legenden, die um das Gebäude gewebt sind. Im Falle der Oper verliert sich alles Nachdenken dann leicht in den Stars und Sternchen, die ihr die Bedeutung verliehen. Als dichte Masse umhüllen sie das Haus und saugen das kritische Urteil in ein schwarzes Loch, aus dem es allenthalben als anderes wieder auftaucht. Das eben ist die Sache der Deutschen Oper Berlin. Wer schlüpfte hier nicht durch die Eingangspforte unter der Dicken Wand, stand am Pult oder auf der Bühne. Von Willy Brandt bis zu Richard von Weizsäcker, von Gustav Rudolf Sellner und Ferenc Fricsay zu Karan Armstrong und Annabelle Bernard. Der Schah von Persien! Farah Diba! Auslöser der Studentenunruhen und Ursache des neuen Begriffs der „Jubelperser“ für bestellte und bezahlte Schläger. Zu DDR-Zeiten schmauchte der Reisekader Heiner Müller im Foyer seine Zigarre und flanierte Peter Wapnewski seigneural durch Mozarts oder Richard Wagners Ton- und Klanggefilde. Und hinter dieser mächtigen Bedeutung verschwand die Architektur, zumal dieses Haus seit seiner Eröffnung 1961 auch noch die Last und Lust zu tragen hatte, Symbol der gespaltenen Stadt und der Nation zu sein. Natürlich diente sie als politisch intendiertes Gegengewicht zur Staatsoper Unter den Linden und war daher immer ein bisschen gleicher als die gleichen Institute anderer westdeutscher Großstädte. Schlechter war sie gewiss nicht. Dass aber ihre Architektur, diese fast prototypische Nachkriegsmoderne, parallel zur Krise des Instituts selbst im wieder vereinten Berlin, das ja bis 1991 von den Regierungen über die Sportstadien und Wohnsiedlungen bis eben hin zu den staatlichen Opern alles doppelt hatte, eine Legitimationskrise durchläuft – oder durchleidet, weil sie sich den heute veränderten urbanen Parametern und Erwartungen an die Architektur zu stellen hat – das schließlich unterscheidet sie nun gar nicht mehr von anderen Relikten jener Nachkriegsmoderne. Im Inneren jedoch erfüllt die Deutsche Oper gleichwohl und immer noch wieder die alte schöne Bestimmung, dass sich in ihr das Publikum selig in sich selbst kreisend den Spiegel vorhält ...