Auf der Flucht zurück nach vorne - Deutsche Oper Berlin
Aus dem Programmheft
Auf der Flucht zurück nach vorne
Fragen an den Regisseur und Bühnenbildner
Jörg Königsdorf: Wegen Corona kann diese Neuinszenierung des Bühnenfestspiels DER RING DES NIBELUNGEN nicht wie geplant mit dem Vorabend DAS RHEINGOLD beginnen, sondern hebt nun direkt mit dem ersten Tag DIE WALKÜRE an. Welche Folgen hat das für Ihre Arbeit und die Rezeption der Neuinszenierung?
Stefan Herheim: Da wir den RING als zusammenhängende Tetralogie für die Deutsche Oper Berlin konzipiert haben, wird es einige narrative Lücken und Zusammenhänge geben, die sich erst mit dem Erleben des ganzen Zyklus' erschließen lassen. Der Vorabend wird mit einer Gruppe Menschen auf der Flucht beginnen. Sie machen Rast an einem Klavier auf der sonst leeren Bühne und leiten hier ein Spiel ein, das sich über die nächsten 15 Stunden auf mehreren Ebenen verselbständigt.
»Wandel und Wechsel liebt wer lebt: Das Spiel drum kann ich nicht sparen«
Jörg Königsdorf: Und die Götter?
Stefan Herheim: Dass Wagners RING sich inhaltlich mit Menschen auseinandersetzt, auch wenn es um Götter, Riesen und Zwerge geht, ist ein Allgemeinplatz. Es ist gerade diese Menschlichkeit im Kollektiv, die wir zum Nukleus eines Spiels machen, das in RHEINGOLD seinen Anfang aus der Leere nimmt. Das Spiel ist dem Inhalt des RINGS per se eingeschrieben. Im ersten Streit mit Fricka bringt es Wotan auf dem Punkt: »Wandel und Wechsel liebt wer lebt: Das Spiel drum kann ich nicht sparen«. Bei uns vollzieht sich dieses Spiel unter Flüchtigen, die keine Heimat mehr haben und diese nun im Mythos suchen. Alle Teile des RINGS kreisen um die Frage nach der Machtlosigkeit von Liebe und der Lieblosigkeit von Macht, und alle Spieler sind den trügerischen Mechanismen dieses Spiels ausgeliefert.
Jörg Königsdorf: Welche Bilder und Situationen wird es im RHEINGOLD geben, die für das Verständnis Ihrer WALKÜRE als Fortsetzung des Spiels wichtig sind?
Stefan Herheim: Mit einem Seiden-Taschentuch, das sich vergrößert, werden im RHEINGOLD sowohl der Rhein als auch die Berge suggeriert, unter welchen sich Nibelheim öffnet. Ebenso spielerisch assoziativ entstehen Regenbogen und Weltesche, um welche die Spielenden am Ende des RHEINGOLDS aus ihren Koffern Hundings Haus für den ersten Aufzug der Walküre errichten. Zu Beginn des zweiten Aufzugs kommt Wotan halbnackt aus dem Souffleurkasten heraus mit den Noten der WALKÜRE. Denn anstatt mit den anderen Göttern nach Walhall zu ziehen, steigt er in den letzten Takten des RHEINGOLDS zu Erda hinab, die als Souffleuse über das Wissen vom Ende des Spiels waltet. Mit ihr hat Wotan zwischen dem Vorabend und dem ersten Tag die Walküre gezeugt, die er nun klavierspielend aus dem Geiste der Musik steigen lässt.
Jörg Königsdorf: Zu diesem Zeitpunkt muss aber Wotan schon länger als Wälse unter Menschen gelebt und das Zwillingspaar mit einer Menschenfrau gezeugt haben. Wird das gezeigt, und wenn, wie?
Stefan Herheim: Hierfür wird eine göttliche Metamorphose angedeutet. Wie so oft im RING setzte Wagner auf eine Diskontinuität von scheinbar gleichzeitigen, parallel verlaufenden Vorgängen. Noch bevor Alberich durch seine Verfluchung der Liebe dem Rheine das Gold für den Ring abzwang und das drohende Ende der Götter einläutete, muss Wotan den Ast von der Weltesche abgebrochen und mit seinen dort eingeritzten Gesetzen ein Gleichgewicht verletzt haben, das Alberichs Frevel erst ermöglicht. Ähnlich wie beim biblischen Sündenfall, der die Conditio humana des Abendlandes und die Dichotomie der Geschlechter bestimmt, klafft seitdem eine blutende Wunde in allem Dasein, und je mehr sich Wotan bemüht, Macht mit Liebe zu vereinen und durch Gesetze die Weltordnung zu sichern, um so mehr bricht er diese selbst und verstrickt sich immer tiefer in Schuld. Seine innere Spaltung spiegelt sich ganz konkret sowohl in der Figur Wälse als auch in der des Wanderers, aber auch in Brünnhilde, die als Wotans Wunschmaid dessen Willen verkörpert.
Jörg Königsdorf: Alles dreht sich in der Oper um Wotan, doch heißt diese schließlich DIE WALKÜRE. Worin liegt Brünnhildes Bedeutung?
Stefan Herheim: In der WALKÜRE erleben wir den tragischen Versuch des alternden Gottes, seine Probleme auf die nächste und übernächste Generation zu verlagern. Er ist alles leid, was ihn als Gott bindet – seine Ehefrau eingeschlossen. Er geht fremd, zeugt Siegmund und Sieglinde und setzt die Beiden so viel Not aus, damit sie das tun, was dem Gotte selbst verwehrt ist: den Ring zu gewinnen und dessen Macht durch ihre Liebe zu unterbinden. Zugleich zeugt er Brünnhilde und die anderen Walküren, die ihm Helden zum Schutze Walhalls bringen. Da Fricka seine Selbstüberlistung durchschaut und ihm per Eid den Tod Siegmunds abverlangt, droht Wotan Brünnhilde mit seinem Liebesentzug und liefert ihr Siegmund aus, wohl wissend, dass dessen selbstlose Liebe sie dazu verleiten wird, sich dem Vater zu widersetzen. Nur so kann Wotan ihr die Strafe auferlegen, die sie zum unbewussten Instrument seines Willens macht. Wagner stellt Brünnhilde ins Zentrum des Geschehens, um sie für ihre Erlösungstat als menschliche Frau in der GÖTTERDÄMMERUNG zu konditionieren. Wotans Bestrafung und Abschied von Brünnhilde stehen gänzlich im Zeichen seiner Ohnmacht, das Rettungswerk selbst vollbringen zu können.
Jörg Königsdorf: Im RING wird tragischstes Leid ebenso wie zärtlichste Liebe breit ausgestaltet. Wagner komponiert zum Beispiel jeden sehnsüchtigen Blick, den das Zwillingspaar sich im ersten Aufzug zuwirft, noch lange, bevor sie sich als solche erkennen. Wie gehen sie als Regisseur mit solchen Situationen um?
Stefan Herheim: Wenn die zwangsverheiratete Sieglinde den erschöpften und verwundeten Siegmund entdeckt und ihm Wasser reicht, werden über sieben Takte die Motive der beiden verschmelzend verknüpft und die Schönheit jener glühenden Geschwisterliebe hörbar, die für alles Weitere entscheidend ist. Musikalisch finden also Sieglinde und Siegmund sofort zueinander, was ich szenisch entsprechend antizipiere. Denn der gestillte Durst bezieht sich nicht nur auf das lebenspendende Wasser, sondern auf den Zauber seelischer Erfüllung, der den ganzen RING motiviert.
Jörg Königsdorf: Sie haben dem Kammerspiel des ersten Aufzugs eine weitere, stumme Figur hinzu gefügt. Woher kam die Idee und worin liegt die Notwendigkeit dieser Figur?
Stefan Herheim: Wagner schildert die fleischliche Vereinigung des Zwillingspaares mit unerhörten Tönen der wildesten Leidenschaft. Wenn wir im zweiten Aufzug das Paar wiedersehen, ist von diesem Jubel-Duktus der inzestuösen Geschwisterliebe kaum etwas übrig geblieben. Sieglinde stilisiert nun Siegmund zum reinsten, heiligsten Helden, während sie von Schuld zerfressen sich selbst vorwirft, als Entehrte dem Bruder Schande zu bringen. Das hat nichts mit dem begangenen Inzest zu tun, sondern allein mit dem Schamgefühl, das Sieglinde bezüglich ihrer Ehe mit Hunding überfällt, sobald sie mit Siegmund geschlafen hat. Ich fand diese Szene, in der eine mit Gewalt in die Ehe gezwungene Frau sich als Sünderin wider wahre Liebe und Täterin selbst anklagt, immer höchst problematisch und in unserer Zeit nicht vertretbar. Um Sieglinde psychologisch anders zu disponieren und ihr Trauma zu materialisieren, haben wir Sieglinde ein Kind mit Hunding hinzugedichtet. Für ihren Neubeginn mit Siegmund meint sie fataler Weise, dieses Kind im Zeichen ihrer Befreiung opfern zu müssen. Somit rücken wir Sieglinde in die Nähe einer Medea. Erst mit Brünnhildes Verkünden ihrer Schwangerschaft erlangt sie neuen Lebenswillen.
Jörg Königsdorf: Über seine WALKÜRE als Werk schreibt Wagner an Liszt vom »tragischesten, welches ich je konzipiert« habe. Dagegen schlägt DAS RHEINGOLD viele komische Töne an, die auch in SIEGFRIED vernehmbar sind. Wie geht man mit diesen unterschiedlichen Temperaturen um, wenn man den ganzen RING zyklisch inszeniert?
Stefan Herheim: Trotz der übergeordneten, tragischen Erhabenheit gibt es unterschiedliche Stilhöhen auch binnen der WALKÜRE, nicht zuletzt durch Wagners exzessiven Einsatz von determinierter Leitmotivik. Sein göttliches Spiel mit der Menschlichkeit und vice versa ist von einem sagenhaften Facettenreichtum, und man muss in jedem der RING-Teile eine Vielzahl von Betrachterpositionen einnehmen, soll die Flucht zurück nach vorne im Zeichen der Liebe über die Bühne hinaus gelingen.
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