Aufbruch ins Unbewusste - Deutsche Oper Berlin
Was mich bewegt
Aufbruch ins Unbewusste
Um 1900 öffnen Kunst, Literatur, Psychoanalyse einen neuen Blick auf die menschliche Seele. Oscar Wilde und Richard Strauss erschaffen eine neue Heldin. Dramaturgin Yvonne Gebauer erklärt die Abgründe der Salome
Oscar Wilde schrieb »Salome« kurz vor der Jahrhundertwende 1891 in Paris, in französischer Sprache. In diesem Zeitalter laufen die verschiedensten Phänomene zusammen und kulminieren. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist das Zeitalter des Viktorianismus – eine Zeit der Kontraste und Widersprüche. Hier entstehen zeitgleich ein radikaler religiöser Puritanismus, eine strenge Sexualmoral, die Abenteuer der »Alice in Wonderland« und Robert Louis Stevensons Erkundungen von Geheimnis und Wahnsinn. Die Welt der taghellen Realität wird permanent unterwandert von den finstersten Alpträumen. Präzise im Jahr 1900 erscheint – um ein Jahr vordatiert – Sigmund Freuds »Traumdeutung«. So ist »Salome« zu verstehen: als eine Art Auffangbecken für die widerstreitenden Kräfte einer Epoche, angesiedelt zwischen Rationalität und Traumwelt, Puritanismus und Sinnlichkeit.
Kurz nach der Jahrhundertwende gelingt Richard Strauss 1905 mit seiner SALOME der künstlerische Durchbruch. Er fordert das Genre heraus: Er zwingt die schönstmögliche, liebestrunkenste und rauschhafteste Musik in das denkbar grässlichste, monströseste Geschehen hinein. Er beginnt ganz ohne Vorspiel und katapultiert die Zuschauer direkt in Salomes Welt hinein.
Wir befinden uns in einer nächtlichen Welt, die Dämonen gebiert. Hierhin flüchtet sich Salome immer dann, wenn sie den Terror ihrer Familie nicht mehr erträgt. Der Terror hat einen Namen, er lautet Herodes. Die stiefväterliche Geschäftswelt – an der Oberfläche funktional, glattgebügelt und vor Wirtschaftswunder strotzend – ist repressiv und abgezirkelt. Hier wächst Salome auf. Sie ist die Tochter der Herodias. Mit ihr lebt sie bei ihrem Stiefvater Herodes. Er ist ein mächtiger Mann in einer Männerwelt. Und er hat ein ganz besonderes Verhältnis zu seiner neuen Tochter, der kleinen Prinzessin. Er begehrt sie, spielt mit ihr, schüchtert sie ein. Und er macht sich schuldig.
In dieser untergründig verbrecherischen Welt versammelt Herodes seine Männergesellschaften, hier herrschen ganz andere Regeln. Schon als Kind hat Salome immer für ihn getanzt, wie in einem ewig sich wiederholenden Ritual. Sie ist bei den geschäftlichen Männerrunden des Vaters die Sensation des Abends, wird wie ein Ausstellungsstück vorgeführt und betrachtet. In dieser Welt erscheint sie als einzig lebendige Person. Ein Alptraum für die Heranwachsende.
In nächtlichen Phantasien erträumt sie sich den Ausweg, den Retter, den Erlöser herbei: Joachanaan. Er ist wie eine Gegengestalt zu ihrem Stiefvater. Ihn kann sie sich nach ihren eigenen Wünschen formen. Er wird für sie zum Zerstörer, den sie selbst noch zerstört. Durch die taghelle subversive Phantasie der Salome gerät in der statischen Welt des Herodes nach und nach etwas in Bewegung, es ist eine erhebliche Unruhe zu spüren, und Herodes versucht mit aller Gewalt, sein Herrschaftssystem zusammenzuhalten. Etwas anderes dringt ein in diese festgefügte Welt: Eine neue Zeit, ein neuer Geist, eine neue Macht. Jochanaan kündet davon. Und je fragiler die Welt des Herodes wird, umso mehr werden Disziplin und Ordnung wie ein Schutzraum um ihn herum aufgerüstet. Doch vergebens – Herodes ist von Alpträumen geplagt und hat Panikattacken. Er hat Angst, seine Macht zu verlieren.
Jochanaan ist eine hochexplosive fundamentalistische Gestalt, die Mord und Totschlag predigt und das Ende der Welt prophezeit. Salome fühlt sich inspiriert von ihm, diesem Dämon, diesem energetischen Tier, denn auch sie erwartet das Kommen einer neuen Ordnung. Durch ihn entdeckt sie Rausch, Ekstase und die Kraft des Widerstands. Sie will alle Fesseln sprengen.
Im Laufe des Abends bekommt die Welt des Herodes immer mehr Risse, mit jedem Schrei des Jochanaan muss sie sich mehr einer neuen Zeit öffnen. Am Schluss lässt Salome alles hinter sich, auch noch die letzte Bindung, die an Jochanaan. Indem sie ihre phantasmatische Heldenfigur Jochanaan tötet, vernichtet sie auch ihren Vater. Auch ihn muss sie zerstören und hinter sich lassen, um ganz allein zu stehen und frei zu sein. Erst dann, ganz am Schluss, kann sie eine vollkommen neue Welt für sich schaffen, in der neue Regeln gelten, die sie ganz allein bestimmt.