Chiara allein zuhause - Deutsche Oper Berlin
Chiara allein zuhause
Der Komponist Sidney Corbett hat mit seiner Tochter Chiara eine Kinderoper geschrieben. In TINTENFISCHLADY spielen Chiaras Kindheitserfahrungen eine wichtige Rolle
Sidney und Chiara, wie kamt ihr auf die Idee, gemeinsam eine Kinderoper zu schreiben?
Sidney Corbett Ich hatte schon lange den Wunsch, eine Kinderoper zu schreiben. Ich finde es ungemein interessant, für Kinder zu schreiben. Es ist eine ganz eigene Art, Musik zu denken, quasi in Primärfarben. Die Musik muss klar sein, einfach, ganz direkt, aber auch präzise und auf den Punkt. Ich wollte aber keinen Stoff vertonen, den es schon gibt, sondern etwas völlig Neues schaffen. Und dann gab es da Chiaras Idee für die TINTENFISCHLADY. Die ist schon vor Jahren entstanden. Chiara war damals zwölf und war mit auf einer Konzertreise. In unserem Hotel hingen surrealistische Bilder und inspiriert davon malte sie ihr ganzes Notizbuch voll – ein Haus mit Wänden, die atmen, eine Türklinke, die beißt, und die Tintenfischlady, die dort ihr Unwesen treibt.
Chiara Corbett Bis heute gefällt mir an der Geschichte, dass in dem Haus so viel passiert, dass unerwartet Objekte lebendig werden und eine Stimme bekommen. Als wir uns für den Text als Grundlage für ein Libretto entschieden haben, habe ich die Handlung ausgearbeitet. Wir haben aber auch viel darüber nachgedacht, wie alt die Kinder im Publikum sein werden. Daher habe ich das Alter der Hauptfigur auf sechs Jahre gesenkt und mir überlegt, welche Ängste ich selbst in diesem Alter hatte.
Welche Ängste waren das?
Sidney Corbett In der Geschichte soll ein Kind zum ersten Mal in seinem Leben alleine schlafen, in seinem eigenen Zimmer. Das ist ein großer Moment im Leben eines Kindes, weil der Schutz der Familie das erste Mal nicht mehr unmittelbar greifbar ist. Da ist man mit Ängsten, Dunkelheit, ungeheuerlichen Träumen konfrontiert und muss allein damit fertig werden.
Was hilft gegen solche Ängste?
Chiara Corbett Letztlich ja nur die Erfahrung, dass einem nichts passieren kann, dass die gruseligen Fantasien Fantasien sind und nicht real werden. Mir persönlich hilft es auch, wenn ich andere Menschen bei mir habe.
Sidney Corbett Ich bin jetzt 64 Jahre alt und habe trotzdem noch Ängste. Das gehört zum Menschsein. Aber bei Kindern denke ich, ist wichtig, dass wir da sind als Eltern und ihnen vermitteln, dass sie immer zu uns kommen und alles mit uns besprechen können.
Chiara, du hast den Text geschrieben, dein Vater die Musik – wie sah die Zusammenarbeit aus?
Chiara Corbett Mein Vater hat immer wieder gesagt: »Das ist eine gute Geschichte, das könnte eine gute Oper werden.« Er hat mir Mut gemacht und war jemand, der an meiner Seite war und an mich geglaubt hat. Und wenn ich musikalische Einfälle habe, schreibe ich ihm zum Beispiel: »Da gibt es eine Tanzmusik«, oder: »Da gibt es das Tintenfisch-Motiv.« Dabei bin ich manchmal auch unsicher, ob es so funktioniert. Aber Sid sagt dann auch oft: »Du musst an die Kraft der Musik glauben! Du verstehst nicht, wie viel Kraft Musik hat.«
Sidney, was genau für eine Musik schreibst du?
Sidney Corbett Es ist Neue Musik mit einer zeitgenössischen Form von Tonalität. Und das sage ich ganz bewusst so. Ich denke meine Musik in Tönen und wie diese sich aufeinander beziehen. Ich habe keine Angst vor Tonalität, aber Tonalität meint für mich, dass man jeden Ton aus verschiedenen Perspektiven gleichzeitig beleuchten kann, um so quasi »Illusionen« zu erschaffen – etwas in der Musik, dass man analog zu dem Gefühl beschreiben kann, dass es Orte gibt, die man gut kennt, wo man aber noch nie war. Mein Lehrer Ligeti sagte einmal: »Sie wissen, die alte Musik ist tot. Aber die neue Musik ist auch tot.« Und das ist das Dilemma, wir müssen etwas schreiben, das gegenwärtig ist und uns erreicht. Ich sehe keinen Grund, dabei unsere Erinnerungen auszuschalten, im Gegenteil: Ich setze sie bewusst ein.
In eurem Stück gibt es keine rein bösen Figuren – hattet ihr Angst davor oder war euch gerade die Ambivalenz der Charaktere wichtig?
Chiara Corbett Elli hat Angst vor dem Ungewissen, nicht vor dem Bösen. Die Angst im Dunkeln ist ja eigentlich Furcht davor, dass da etwas sein könnte, das man bei Tageslicht übersehen hat. Mir geht es darum darzustellen, wie man dadurch, dass man sich aktiv mit etwas auseinandersetzt, herausfinden kann, dass das Unbekannte oft gar nicht so böse ist.
Sidney Corbett Für mich gibt es ohnehin kein Schwarz-Weiß. Nicht in der Musik und nicht bei Menschen. Die Kunst ist für mich eine Möglichkeit, die Welt in ihrer Vielseitigkeit, in ihrer Schattierung und in ihren Widersprüchlichkeiten zu zeigen.
Mit welchen drei Worten würdet ihr selber euer Stück beschreiben?
Sidney Corbett Entdeckung, Annehmen und Neugierde.
Chiara Corbett Verträumt, skurril und abenteuerlich.