„Das ist eine furchtbare Geschichte!“ - Deutsche Oper Berlin
„Das ist eine furchtbare Geschichte!“
Die Last der Liebe aus Liebe in Wagners TRISTAN UND ISOLDE – Ein Essay von Luc Joosten
Ausgangspunkt für Wagners Oper TRISTAN UND ISOLDE aus dem Jahr 1865 ist eine alte europäische Erzählung die im deutschen Sprachraum um 1210 vom Dichter Gottfried von Straßburg in einem unvollendeten Versepos von 20.000 Versen am ausführlichsten behandelt wurde. Wagner geht von dieser mittelalterlichen Quelle aus, lässt sich in seiner Bearbeitung – die sowohl eine Reduktion, Konzentration als auch Umgestaltung des Stoffes darstellt – jedoch auch stark von anderen Quellen und von der romantischen Poesie seiner Zeit inspirieren. Er überträgt den mittelalterlichen Stoff in eine zeitgenössische, im 19. Jahrhundert angesiedelte Handlung, um so den mythischen, zeitlosen Gehalt der Erzählung zu unterstreichen.
Die Situation ist folgende: Obwohl Tristan aus Cornwall in dem politischen Streit zwischen Irland und Cornwall Isoldes zukünftigen Bräutigam Morold getötet hat, verliebt Isolde sich in ihm. Die Liebe zwischen Tristan und Isolde ist gegenseitig, aber sie trauen sich nicht, sie einander zu gestehen. In der Annahme, dass eine Heirat mit seinem König Marke, der ihn als Waise aufgezogen hat, sein Verlangen stillen wird, nimmt Tristan Isolde als Brautwerber mit nach Cornwall. Isolde betrachtet dies als ultimative Demütigung und will sich rächen.
Die Oper greift die Geschichte während der Reise von Irland nach Cornwall auf. Unter dem Einfluss eines Liebestranks – der mit einem tödlichen Gift verwechselt wurde – gestehen Tristan und Isolde endlich ihre tiefe Liebe zueinander. Trotz der bevorstehenden Hochzeit mit Marke und Tristans Freundschaft zu Marke, wollen sie ihre Liebe miteinander leben. Von da an steht alles im Zeichen ihrer gegenseitigen Sehnsucht nach Liebe. Eine Sehnsucht, die sich letztendlich nicht im Leben, sondern erst jenseits dessen Grenzen, im Tod, vollständig verwirklichen wird.
Liebe als Ergänzung
Von dem Moment an, in dem Tristan und Isolde sich ihre Liebe gestehen, prägt das Verlangen unauslöschlich ihr Schicksal. In seiner Erläuterung zur Ouvertüre von TRISTAN UND ISOLDE schreibt Wagner am 9. Dezember 1859 an Mathilde Wesendonck: „Nun war des Sehnens, des Verlangens, der Wonne und des Elends der Liebe kein Ende: Welt, Macht, Ruhm, Ehre, Ritterlichkeit, Treue, Freundschaft – alles wie wesenloser Traum zerstorben; nur eines noch lebend: Sehnsucht, Sehnsucht, unstillbares, ewig neu sich gebärendes Verlangen, Dürsten und Schmachten; …“
Diese Charakterisierung Wagners ist sehr treffend: Das Verlangen nach Liebe ist hier eine unerbittliche Kraft, in deren Licht die herrschende Ordnung mit ihren Gesetzen, sozialen Positionen, Codes und Pflichten – kurz gesagt, alle Werte und Normen – ihre Bedeutung verlieren. Liebe erhält sozusagen ein revolutionäres Potenzial. Die Sehnsucht ist allumfassend, absolut und unendlich und stößt an die Grenzen der normalen Realität. Jede Erfüllung des Verlangens ist grenzüberschreitend, aber vorübergehend und führt zu neuem Verlangen.
Aber paradoxerweise sieht Wagner die Liebe auch als eine Art Erfüllung der Sehnsucht. Sie scheint ein Ziel zu sein, in dem die Sehnsucht in vollen Zügen ausgelebt werden kann. Die Liebe ist Sehnsucht und gleichzeitig auch die Antwort darauf. Sie ist das, wonach sich der Mensch richtet – und zu gleicher Zeit, das, was sein Bedürfnis stillt. Die Liebe nährt sich aus der Sehnsucht und nährt ihrerseits die Sehnsucht. Darüber hinaus bringt die Liebe zusammen, was getrennt ist: Sie vereint, wo Dualität herrscht. Sie bewirkt die Rückkehr zum „andere[m] Theil seines eigenen Wesens”; sie ist die „Ergänzung“ dessen, was fehlt. Der Mythos von Aristophanes aus Platons Symposion – ein Text, der Wagner in seiner Tristan-Zeit sehr am Herzen lag – klingt hier im Hintergrund mit: „Als also der Mensch sah, dass seine Gestalt in zwei Teile geschnitten war, entstand in jeder Hälfte das Verlangen nach dem anderen Teil, um wieder ein Ganzes zu bilden. Und so umarmten sie sich innig und sehnten sich danach, dass die getrennten Teile wieder zusammenwachsen würden. Und sie drohten, vor Hunger und Untätigkeit/Erschöpfung zu sterben, weil sie sich weigerten, etwas getrennt voneinander zu unternehmen.“ (Symposium, 191a) Bei der Begegnung mit der einst getrennten Hälfte werden die Geliebten in höchste Verzückung gebracht, und ein Leben ohne den anderen wird unmöglich. Die vollkommene Symbiose ist Wirklichkeit geworden. Mehr braucht es nicht.
Gefangen im Bild
Auch an anderer Stelle scheint Platons Dialog ein Vorläufer von TRISTAN UND ISOLDE zu sein, nämlich dort, wo es um den Ursprung und die Ausrichtung des Verlangens geht. Platon lässt dies durch Aristophanes wie folgt erzählen: „Und diejenigen, die ihr ganzes Leben in der Gesellschaft des anderen verbringen, sind nicht einmal in der Lage zu sagen, was sie voneinander erwarten. Niemand würde doch glauben, dass dies im sexuellen Vergnügen […] liegt, als würden sie sich deshalb mit solch heftigem Drang in der Gegenwart des anderen ergötzen. Es ist klar, dass beide Seelen nach etwas Unaussprechlichem streben, dessen sie sich jedoch bewusst sind und das sie intensiv begehren, obwohl es in Rätsel und Nebel gehüllt ist.“ (Symposium, 192c) „Ein Bewusstsein, das in Nebel gehüllt ist.“: Das Verlangen richtet sich offenbar nicht auf die sexuelle Lust, sondern auf etwas Rätselhaftes, von dem wir wissen, dass es da ist, aber nicht wissen, was es ist. Das, wofür wir unser Leben in der Liebe riskieren und was sich im Blick des Geliebten offenbart hat – der Grund für diese umfassende Liebe – bleibt im Dunkeln. Aristophanes’ erklärender Mythos betont genau den undurchsichtigen Charakter des Ursprungs.
Vielleicht verschleiert und beschönigt der Mythos von Eros auch die grundsätzliche Kontigenz des Ursprungs vieler, wenn nicht sogar der meisten Liebesbeziehungen. Was auf den ersten Blick als notwendig erscheint, ist letztlich nur durch Zufall bestimmt. Tristan und Isolde werden beide von der Liebe „getroffen“ wie von einem Blitz. Eros ist eine Kraft, ein Lichtblitz von außen; wenn sich die Liebenden wehren wollen, ist es schon zu spät. Es ist eine Leidenschaft im ursprünglichen Sinne des Wortes: etwas, dem die Liebenden ausgeliefert sind, in dem sie sich verlieren, und unter dem sie leiden. Es war nicht der Zaubertrank, sagt Isolde, sondern „Frau Minne“, die „Weltenwerdens Walterin“ – die Herrscherin über die entstehende Welt, über Leben und Tod –, die die Liebe entstehen ließ. Diese Frau Minne – eine germanische Variante von Eros – hat ihre Pfeile auf Isolde gerichtet und das Verlangen entfacht. Isoldes Blick in Tristans Augen und Tristans erwidernder Blick genügen, – das Blickmotiv ist eins der Hauptmotive im Libretto und Musik – um selbst unter den unwahrscheinlichsten Umständen, in denen nämlich der eine den anderen töten will, in beiden ein grenzenloses, gegenseitiges Verlangen entstehen zu lassen. Isolde wird durch Tristans Blick buchstäblich und im übertragenen Sinne entwaffnet und sie schafft es nicht mehr, die erwartete Rache auszuführen. So sind beide von einem Bild in den Augen des anderen beeindruckt und bleiben in diesem Bild gefangen. Sie sind vollständig der gegenseitigen Vorstellungskraft ausgeliefert – der gegenseitigen Anerkennung des Selbst im anderen.
„Dein Blick, der meinen Blick nährt, der deinen Blick nährt, der meinen Blick nährt ...“ Es ist ein endloses Versinken in den Augen des anderen, in dem unsichtbaren, unfassbaren und doch präsenten Bild, das dort auftaucht. Und in diesem endlosen Hin und Her dieses unaufhörlichen Verschmelzens verlieren die Verliebten sich selbst. Gleichzeitig macht sich jedoch bereits die Gefahr dieses perfekten Zusammenseins bemerkbar. Platon bezeichnete Hunger und Untätigkeit oder Erschöpfung bereits als Vorstufen des Todes; bei Wagner wird daraus ein aktives Verlangen nach dem Tod. Die Symbiose der Liebenden bedroht sich selbst von innen heraus. Die einzige Antwort auf das unaufhörliche Verlangen, die einzige Erlösung für die Liebe, schreibt Wagner weiter in der Erläuterung, ist „Tod, Sterben, Untergehen, Nicht-mehrerwachen!“. Die totale Erlösung vom Verlangen ist nur im Verlangen nach dem Tod möglich – und bleibt imaginär, in der Ordnung des Bildes, des Phantasmas.
Liebessehnsucht, Todessehnsucht
Von Anfang an ist die Verflechtung von Liebe und Sehnsucht (Eros) mit dem Tod (Thanatos) in TRISTAN UND ISOLDE präsent; aber in der sogenannten Liebesnacht im zweiten Akt tritt sie vollständig in den Vordergrund. Das Verlangen nach Liebe kippt und wird zum Verlangen nach dem Tod – nicht als Fluchtweg aus der praktischen Unmöglichkeit der Liebe, nicht als Ausweg aus einer Depression infolge einer nicht realisierbaren Liebe, sondern als ultimative Konsequenz des Verlangens nach Vereinigung. Liebessehnsucht und Todessehnsucht gehen Hand in Hand. Die Erlösung der Sehnsucht durch die Liebe ist letztlich nicht in der Liebe selbst erreichbar – zumindest nicht in dieser symbiotischen Liebe. Die Liebesnacht im zweiten Akt ist eine musikalisch-verbale, fortschreitende Entgrenzung der Figuren.
Es ist in erster Linie eine emotionale Begegnung, und auch wie eine Psychanalyse à deux, in der das Bild der Liebe durch Tristan und Isolde – sich gegenseitig ergänzend – immer weiter aufgeklärt wird. Geschützt durch die Nacht – „die Nacht worin, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind“ (Hegel) – löst sich die Identität der Liebenden langsam auf. Jeder Trennung zwischen beiden wird endgültig aufgehoben. Selbst die Sprache, die unterscheidet, trennt und Ordnung schafft, wird ihrer Funktion enthoben.
Nicht ganz zu Unrecht wird in Kommentaren bemängelt, dass der zweite Akt in Wortgewirr zu versinken droht. Selbst das Wort „und“, das Tristan durch eine harmlose Konjunktion mit Isolde verbindet, ist zu viel und wird der Einheit geopfert. Alles steuert auf eine coincidentia oppositorum zu: Die Gegensätze zwischen Tag und Nacht, Ich und Du, Leben und Tod, Tristan und Isolde, Mann und Frau werden aufgehoben. Keine Unterscheidung mehr, keine Differenz, kein Mangel. Aber auch keine Sehnsucht mehr. Es ist die Erlösung vom Verlangen, indem es bis zum Äußersten getrieben wird. Nur die Musik, die dem Unaussprechlichen Raum gibt, bleibt bestehen, bis sie abrupt unterbrochen wird. TRISTAN UND ISOLDE zeigt, wie sich die exzessive Liebessehnsucht in sich selbst aufschaukelt und allmählich in eine quasi mystische Form des Selbstverlusts in der Symbiose der Liebenden verwandelt. Die Übereinstimmung von Wagners Text mit der Poesie beispielsweise des Mystikers Jean de Saint-Samson aus dem 16./17. Jahrhundert über die ultimative Vereinigung mit Gott ist hier treffend: „Oh, Geliebter und Bräutigam, / wenn du mich noch fester umarmst und umschlingst, / werde ich vor Freude und Liebe sterben. Dafür sehne ich mich umso mehr, / weil ich schon jetzt spüre, dass ein solcher Tod unendlich süß und genussvoll ist.“ Bei Wagner klingt es in der zweiten Szene des zweiten Aktes, während der Liebesnacht, wie folgt: „O ew’ge Nacht, / süsse Nacht! / Hehr erhabne / Liebesnacht! / Wen du umfangen,/ wem du gelacht, / wie wär’ ohne Bangen / aus dir er je erwacht? / Nun banne das Bangen, / holder Tod, / sehnend verlangter / Liebestod! / In deinen Armen, / dir geweiht, / ur-heilig Erwarmen, / von Erwachens Not. / befreit!“ Die Sehnsucht nach der Erlösung der Sehnsucht wird in der Einheit der Liebesnacht erreicht. Es ist eine Resignation gegenüber der konkreten weltlichen Erfahrung des Verlangens, eine radikale Aufhebung und Aufopferung des Lebens, eine Art totale Sublimierung der Liebe im Tod. Die Aufhebung der Individualität findet in der Hoffnung auf eine Ewigkeit des Zusammenseins statt, losgelöst von der Welt – „Löse von der Welt mich los!“, heißt es im Text –, aufgenommen in ein unendliches Universum der Liebe –„in des Weltatems wehendem All“, hört man später in der Schlussarie von Isolde.
Teilen, was nicht geteilt werden kann
Welcher Platz ist in dieser „metaphysisch idealisierten Liebe“ für einen der Aspekte reserviert, der so wesentlich mit der menschlichen Liebe verbunden ist, nämlich für Körperlichkeit und die Sexualität? In einem Brief an Mathilde Wesendonck schreibt Wagner während der ersten Arbeitsphase an TRISTAN UND ISOLDE, dass er diesbezüglich seinen Inspirator Schopenhauer in einem wichtigen Punkt korrigieren möchte: „Es handelt sich nämlich darum, den von keinem Philosophen, namentlich auch von Sch(openhauer) nicht, erkannten Heilsweg zur vollkommenen Beruhigung des Willens durch die Liebe, und zwar nicht einer abstrakten Menschenliebe, sondern der wirklich, aus dem Grunde der Geschlechtsliebe, d.h. der Neigung zwischen Mann und Weib keimenden Liebe, nachzuweisen.“ (Brief an Mathilde Wesendonck, 1. Dezember 1856)
Die wahre Liebe nach Wagner ist also eine zwischen zwei Menschen aus Fleisch und Blut. Und doch gibt es in der Geschichte oder im Libretto wenig körperliche Intimität. Die Regieanweisungen geben kaum an, ob geküsst wird, geschweige denn, dass es Sex gibt. Viel mehr als eine intensive Umarmung gibt es nicht. Während des Höhepunkts der Vereinigung der beiden Liebenden, der höchsten Ekstase, kann man kaum von körperliche Aktivität sprechen: Tristan und Isolde sitzen brav nebeneinander auf einer Blumenbank, in vorsichtiger Umarmung. Man könnte dieses Fehlen von Körperlichkeit und sexueller Aktivität natürlich auf eine Prüderie des 19. Jahrhundert zurückführen und auf die Unmöglichkeit, eine sexuelle Handlung auf der Bühne anzudeuten, geschweige denn darzustellen. Aber dieses Argument reicht nicht aus. Andererseits wurde und wird bei der Aufführung des Werks eine Art Sexualität oder Erotik „wahrgenommen”. Das geht sowohl aus den Reaktionen von Zeitgenossen als auch aus einer Vielzahl zeitgenössischer Kommentare hervor. Die physiologischen Begleiterscheinungen des Geschlechtsakts – „den Rhythmen des Inneren wie Herzschlag und Atmung, den ejakulativen oder injektiven Bewegungen des neuronalen und muskulären Systems, Systole und Diastole, Spannung und Entspannung.“ (Sven Friedrich) – versucht man in Wagners Musik zu entdecken und freizulegen. Der körperliche Puls der Sexualität überträgt sich eins zu eins in die Musik und kann als solcher auch von uns als Zuhörern miterlebt werden. Die Sexualität in TRISTAN UND ISOLDE scheint also nicht als Handlung oder Bild auf der Bühne, sondern in der Musik stattzufinden. Sie nimmt Gestalt an in einer künstlerischen musikalischen Umwandlung und in der ästhetischen Erfahrung der Musik. Anders gesagt: Die Liebenden haben ihren Körper überwunden und die Musik ist zu ihrem Körper geworden. Der Körper, den wir auf der Bühne sehen, ist zu einer leeren Hülle reduziert.
Aber eigentlich ist der Verweis auf konkrete Darstellung der Sexualität in TRISTAN UND ISOLDE fehl am Platz. Denn abgesehen von der fragwürdigen programmatischen Musikauffassung, die dahintersteckt, ist es hier wesentlich, dass kein Sex stattfindet. In der Logik der Symbiose, des Vereinigtseins in einem Idealbild gegenseitiger Liebe, wird der Körper in TRISTAN UND ISOLDE – anders als bei Platon – ausgeschlossen. Er schwebt irgendwo in einem realen Außen, ohne Kontakt zum Imaginären. Er ist ein Störsender auf einer Wellenlänge, die sich von der der symbiotischen Liebenden abtrennt. Denn der Körper kann nicht als Körper in das Idealbild eingeordnet werden. Er ist ein nicht wiederverwertbares Restprodukt für die Vorstellungskraft. Der Körper repräsentiert eine Unvollkommenheit, die das Bild der ideale Liebe zerstört. Die Sehnsucht, die vom Blick einer realen und inkarnierten Person ausgeht und in ihm entstanden ist, wurde durch die Idealisierung des Liebesbildes auf eine Ebene gebracht, wo Körperlichkeit ausgeschlossen ist.
Tristan und Isolde sind, anders als Wagner sie ursprünglich konzipiert hatte, zu Menschen ohne Körper geworden. „Die sexuelle Vereinigung“, schreibt der belgische Philosoph und Psychoanalytiker Paul Moyaert, „ist das Teilen dessen, was nicht geteilt werden kann.“ Und die Bewahrung der Reinheit des Idealbildes, das Tristan und Isolde vor Augen haben, verhindert das Teilen des Unteilbaren. Es ist die Weigerung, die wahre Andersartigkeit des anderen, seine oder ihre Inkarnation in dieser konkreten materiellen körperlichen Form, zuzulassen. Es ist die Weigerung die kaum kontrollierbare Verletzlichkeit des Körpers in seiner ganzen Fülle in das Bild aufzunehmen. Noli me tangere – rühre mich nicht an.
Sich auf Sexualität einzulassen, kann für Tristan und Isolde nicht mehr als eine Farce sein, denn was bringt der Koitus im besten Fall mehr als den vorübergehenden Genus des „kleinen Todes“ (Bataille) im Orgasmus? Ist das die wahre Erlösung? Wird der Einzelne nicht schnell wieder auf sich selbst zurückgeworfen und von neuem Verlangen verschlungen? Man könnte sagen, dass Tristan und Isolde sich für den „Großen Tod“ entscheiden, weil nur dieser die Garantie für eine dauerhafte Reinheit des Idealbildes und die Erlösung vom Verlangen bietet. Sie opfern ihre Sexualität, um das Ideal intakt zu halten – daraus schöpfen sie ihre „höchste Lust“. Wagner schreibt, es gehe darum die wahre Liebe als „aus dem Grunde der Geschlechtsliebe, d.h. der Neigung zwischen Mann und Weib keimenden Liebe, nachzuweisen.“ Das heißt: Die wahre, erlösende Liebe ist nicht die sexuelle Liebe. Das erotische, sexuelle Verlangen spielt eine Rolle, ist sogar Ausgangspunkt, aber es ist selbst nicht die Erlösung, nicht das Endziel, sondern nur der Anfang. In diesem Sinne steht Wagner voll in der Tradition der höfischen Liebe, die im Hintergrund des Tristan-und-Isolde-Epos’ immer eine Rolle gespielt hat.
Wagner hat sein Liebespaar vor den immanenten Risiken der sexuellen Beziehung, vor den Gefahren und der Verletzlichkeit, die sie umgeben, bewahrt. Er hat die Komplexität des Sexuellen, die Unlösbarkeit, die Widersprüchlichkeit, die mit der Bewegung des Entgegenkommens und Ablehnens, des Nachgebens und Verweigerns, der Zurückhaltung und Hingabe verbunden ist, umgangen, in der Hoffnung, eine endgültige Erlösung zu erreichen. Aber der Preis ist hoch: Die Erlösung gehört nicht mehr zur Ordnung des Lebens. Wagner hat die Sexualität dem „schönen Bild“ der Liebe geopfert und sogar die Grausamkeit des Todes für die Liebe verkannt – aber damit auch die wesentliche Dimension des menschlichen Liebesverlangens ausgelöscht. Dadurch erscheinen Liebe und Sehnsucht immer auch als schwere und große Last, die man sozusagen an einem Seil hinter sich herzieht, bis die Kräfte nachlassen. Für eine wirklich erlebte Erlösung gibt es in Tristan und Isolde keinen Platz. Letztendlich könnte man sagen, dass Wagner sich nicht mit dem Unversöhnlichen versöhnen konnte, das in Sehnsucht, Liebe und Sexualität immer vorhanden ist. Aber er hat eine beeindruckende Musik für Tristan und Isolde geschrieben, die es uns ermöglicht, uns mit diesem Unversöhnlichen zu versöhnen.