Das Tier in Dir - Deutsche Oper Berlin

Über Hintergründe und Wirkungen von Mary Shelleys Schauerroman-Klassiker „Frankenstein“

Das Tier in Dir

In einer düsteren Novembernacht war es Victor Frankenstein endlich gelungen. Er sah, wie sich „das trübe gelbe Auge“ des Geschöpfes öffnete, das er erschaffen hatte. Doch an die Stelle der Freude über den Erfolg seines prometheischen Plans trat das Graue

Tobias Schwartz ist Schriftsteller und Dramatiker. Er wurde 1976 in Osnabrück geboren, studierte in Berlin Philosophie und Literaturwissenschaft und schreibt regelmäßig für verschiedene Zeitungen und Magazine über literarische Themen. Im September erscheint sein Virginia-Woolf-Buch „Bloomsbury & Freshwater“ im AvivA Verlag.

Die Idee, einen künstlichen Menschen zu kreieren, lag im frühen 19. Jahrhundert in der Luft. Der Gedanke an Prometheus, den Menschenschöpfer der antiken Mythologie, zirkulierte, als die noch nicht 20jährige Mary Shelley, ihr Dichter-Gatte Percy und der Schriftsteller-Superstar Lord Byron samt Leibarzt Polidori 1816 einen Schlechtwetter-Sommer am Genfer See verbrachten, Spukgeschichten lasen und beschlossen, in diesem Genre zu reüssieren. Das besaß zwar den „Hautgout“ des Trivialen, beinhaltete aber den Reiz, an literarische Moden anzuknüpfen – namentlich die Schauerromane von Walpole, Beckford, Radcliffe oder Lewis – und, vor allem, an die wissenschaftlichen und philosophischen Errungenschaften, die das aufklärerische Siècle des Lumières dem jungfräulichen Jahrhundert vererbt hatte. Wissenschaft, Technik und Industrie entwickelten sich rasant, der „Wille zum Wissen“ [Foucault] ließ ungeahnte Früchte reifen, gleichzeitig drängte die später von Adorno und Horkheimer zugespitzte Frage ins Bewusstsein, ob Aufklärung und Fortschritt besseres Leben ermöglichten oder den Keim des Verderbens bereits in sich trugen.

Auch Mary Shelley versuchte sich an einer Antwort und schrieb den Roman „Frankenstein“. Einerseits erschuf sie mit ihrem Protagonisten den Idealtypus eines von Wissensdrang beseelten Forschers, der keine Skrupel kennt und alles tut, um herauszufinden, was Welt und Menschen im Innersten zusammenhält. Andererseits führt Victor Frankensteins Erfolg, die tatsächliche Erkenntnis der Beschaffenheit des Menschen und das Wissen um das Geheimnis des Lebens, direkt in den Horror. Der junge Schweizer wird zwar zum modernen Prometheus, wie es im Untertitel heißt, nur erschafft er keinen neuen Menschen, sondern das Paradigma des furchteinflößenden Monsters – aus zusammengeflickten Leichenteilen bestehend, sieht es zum Weglaufen schrecklich aus. Dabei hilft Weglaufen kaum. Frankensteins Monster verfügt über übermenschliche Kräfte und mordet im Handumdrehen – besser: im Halsumdrehen. Ikonisch wurde die Horrorgestalt schließlich durch die Maske, in der es Boris Karloff in der Verfilmung von 1932 verkörperte. Die Verwechslung Frankensteins mit seiner Kreatur geriet zur wohl geläufigsten der Literaturgeschichte.

„Science-Fiction handelt nicht von der Zukunft, sondern, wie alle Erzählkunst, vom Möglichen, vom Vorstellbaren“, schreibt der Fantasy-Connaisseur Dietmar Dath in seiner Monographie über „Superhelden“. Das halbe Marvel-Comic- Universum wurzelt in der Erfindung Mary Shelleys. Hulk, Spider-Man, die Fantastischen Vier sowie diverse ihrer bösen Widersacher sind nichts anderes als Ergebnisse von Experimenten durchgeknallter Wissenschaftler – oft besteht eine Personalunion von Schöpfer und Kreatur, ähnlich wie in Robert Louis Stevensons „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“-Novelle [1886], die eine beliebte Folie für psychologische Deutungen lieferte. Auch am Anfang von „Frankenstein“ steht ein Alptraum, auch Victor könnte als schizophren interpretiert werden. Horror entsteht durch Nähe zur Wirklichkeit, sei sie psychologischer oder naturwissenschaftlicher Art. Heute, in Zeiten avancierter Gen-Forschung und Roboter-Technik, erscheint die Fiktion von der Wirklichkeit eingeholt. Kein Wunder, dass die Faszination für den Stoff nach wie vor floriert, wie zuletzt die britische Fernseh-Serie „The Frankenstein Chronicles“ [2015] zeigte.

In seinem Streben ist Frankenstein zunächst mit Faust verwandt. Zwar kommt der Naturwissenschaftler ohne Alchemie, Magie und Hexenküche aus, gerät aber nicht weniger in Teufels Küche. Im „Faust II“ lässt Goethe, ein Vitalist, der an einen Saft glaubte, welcher allem Lebendigen zugrunde liegt, einen Homunkulus entstehen, chemisch – eine zeitgenössische Darstellung zeigt Fausts Gehilfen, wie er das künstliche Wesen im Glaskolben zusammenbraut.

Im kulturgeschichtlichen Kontext des Frankenstein- Monsters ist auch der Golem der jüdischen Mystik von Bedeutung, eine menschenähnliche Gestalt aus Lehm oder Ton, ausgestattet mit mörderischen Fähigkeiten ganz wie bei Mary Shelley. Der Golem [Hebräisch: Ungeformtes] folgt Befehlen, er ist eine Art organischer Roboter – wie in Achim von Arnims „Isabella von Ägypten“ [1812] oder später in Gustav Meyrinks populärem Roman von 1915. Einer Mythos-Variante zufolge fertigte bereits Prometheus die Menschen aus Lehm. In der Literatur ist der Titan eine widersprüchliche Figur, das heißt, seit der Antike entweder Betrüger [Hesiod] oder tragischer Held [Aischylos], Symbolfigur für den menschlichen Sieg über die Natur, aber auch für Hybris. Giordano Bruno rückte in einer Satire den Mythos in die Nähe der biblischen Schöpfungsgeschichte: Prometheus habe das Feuer gestohlen, um die menschliche Vernunft zu illuminieren wie Adam und Eva die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis pflückten, um letztere zu erlangen. Literarische Bearbeitungen und Auseinandersetzungen mit der Prometheus-Figur gibt es zuhauf, spätestens seit dem Geniekult des Sturm und Drang aber wird das Dichten selbst als prometheische, also schöpferische, nahezu göttliche Fähigkeit aufgefasst – kein Zufall, dass Goethes Prometheus-Hymne dieser Phase entstammt. Es galt, mit Gott zu wetteifern.

Was für die Literatur gilt, gilt auch für Philosophie und Naturwissenschaften. Mitte des 18. Jahrhunderts, in Zeiten radikaler Aufklärung, verfasste der Arzt und Denker La Mettrie die berühmt- berüchtigte Abhandlung „Der Mensch eine Maschine“ [1748], beschrieb die Seele als Resultat körperlicher Funktionen und behauptete, es gebe nur eine rein materielle Substanz. Wenig früher wurde der Erfinder Jacques de Vaucanson als Konstrukteur von technisch hochkomplexen Automaten – Göttliche Maschinen [Alex Sutter] – berühmt. Als sein Kabinettstück gilt – neben dem hölzernen Flötenspieler – die aus rund vierhundert beweglichen Einzelteilen bestehende Mechanische Ente, die mit den Flügeln schlug und sogar einen halbwegs funktionierenden Verdauungsapparat besaß. Gott hatte sich in so einem Umfeld erübrigt, Grund für Staat und Kirche, bedrohliche materialistische Werke zu indizieren. Reiz und Resonanz aber blieben gewaltig, wie Jean Pauls „Der Maschinenmann“ [1789], E.T.A. Hoffmanns „Die Automate“ [1814] und „Der Sandmann“ [1817] zeigen. Wenn sich auch von Kempelens Schachtürke genannter Roboter als Betrug herausstellte – in dem Gebilde steckte ein menschlicher Schachspieler –, seine Wirkung aufs Publikum verfehlte er so wenig wie die Experimente Luigi Galvanis, der durch die Herstellung eines Stromkreises Froschschenkelmuskeln zur Kontraktion brachte. Der Galvanismus galt lange als biologische Disziplin – für Frankenstein wird er zur Basis. In den Anatomischen Theatern erzeugten Galvanistische Experimente unter Studenten sogenannten delightful horror [Edmund Burke], also angenehme Gruselgefühle. Heute gehen wir dafür ins Kino – in Ridley Scotts Alien-Film „Prometheus“ [2012] etwa, in dem Wissenschaftler, darunter ein den Menschen überlegener Android, nach Hinweisen auf extraterrestrische Ursprünge menschlichen Lebens forschen. Die Fortsetzung – „Alien: Covenant“ [2017] – zeigt schließlich die Hybris des Androiden, der sich als Schöpfer des Bösen und potenzierter Frankenstein- Verschnitt geriert.

Die Frage, wie weit Forschung gehen darf, wurde und wird vor dem Hintergrund menschlicher DNA-Entschlüsselung sowie der Entwicklung künstlicher Intelligenz breit diskutiert. Mary Shelley thematisiert die Frage nicht nur explizit, ihr Roman nimmt beinahe Überlegungen späterer Ethik-Kommissionen vorweg – da, wo Frankenstein seinem Geschöpf eine Partnerin kreieren soll, sein Vorhaben aber „aus moralischen Gründen“ verwirft: Die Erschaffung einer Art könnte die Menschheit bedrohen. Dabei ist das Laborprodukt nicht „von Natur aus“ bösartig. Mary Shelley knüpft nahtlos an die anthropologischen Konzepte des Zivilisationskritikers Rousseau an, der für Prometheus, als Erfinder der Wissenschaft, wenig übrig hatte. Nein, der künstliche Mensch entwickelt sich erst zur mordenden Bestie, als er von der Gesellschaft – und nicht zuletzt seinem Schöpfer – brutalst zurückgewiesen wird. „Die eigentliche Katastrophe besteht darin, dass der Homunkulus über eine sensible Seele verfügt, die in einem abstoßenden Äußeren steckt“, schreibt der Horrorliteraturforscher Peter-André Alt in seiner „Ästhetik des Bösen“ und verortet das Schreckliche in der Anmaßung des Meisters, sein Monstrum bedenkenlos zu erschaffen.
Ein freundliches, harmloses Monster wäre allerdings ein Paradoxon und jedenfalls kein Stoff für Horror, auch wenn 60er-Jahre-Serien wie „The Addams Family“ oder „The Munsters“ diese Variante durchgespielt haben – als Komödie.

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