„Datemi pace!“: Auf der Suche nach innerem Frieden - Deutsche Oper Berlin
Aus dem Programmheft
„Datemi pace!“: Auf der Suche nach innerem Frieden
Im Spannungsfeld des Tritonus ... Gedanken zur Partitur von Carlo Rizzi
Als ich begann, mich mit FRANCESCA DA RIMINI zu beschäftigen, dachte ich zunächst an eine weitere Verismo-Oper. Die Entstehungszeit stimmt zumindest. Aber sonst ist vieles ganz anders. Das hängt zunächst einmal vor allem mit dem Libretto zusammen: FRANCESCA ist eine Literaturoper, wie es sie in der italienischen Operntradition bis dahin kaum gab. D’Annunzios Drama wurde natürlich gekürzt, aber sonst nicht angetastet, also sprachlich und dramaturgisch nicht an die Formen der italienischen Operntradition angepasst. Und das hat gravierende Auswirkungen: In FRANCESCA DA RIMINI finden wir weder Arien noch Duette im klassischen Sinn – und wenn, dann sind sie äußerst kurz. Der musikalische Dialog hingegen ist ein zentrales Element. Das operntypische gleichzeitige Singen passiert als höchste Steigerung und musikalische Vereinigung von Paolo und Francesca erst auf den letzten Seiten der Partitur.
Das heißt, Zandonai entfernt sich sehr weit von der italienischen Oper seiner Zeit. Überlieferte Formen und Konventionen scheinen ihn wenig interessiert zu haben. Er orientiert sich international, man hört in der Partitur Debussy oder Strauss, Wagner steht im Hintergrund – und nicht zuletzt natürlich auch Zandonais Lehrer Mascagni.
Im Verbund mit sehr geschickten Kürzungen von D‘Annunzios Drama entsteht ein kompaktes und wirkungsvolles Musiktheater. Die komplexe und innovative Textur der Orchesterpartitur reicht von intimen kammermusikalischen Szenen bis zum großen voluminösen Klang. Immer ist dabei alles auf theatrale Wirkung, auf Unmittelbarkeit, auf das jeweilige Wort und die Emotion konzentriert. Hinzu kommen charakterisierende Motive und Farben im Orchester, die das Profil der einzelnen Figuren schärfen, etwa die unregelmäßigen Rhythmen, die harsch, spröde und fast „hinkend“ den äußerlich ungehobelt und vulgär erscheinenden Gianciotto begleiten. Oder Malatestino: Begleitet vom peitschenden, insistierenden Col legno der Streicher, bei dem mit der Bogenstange auf die Saiten geschlagen wird, verweist sein erster Auftritt in der Schlacht schon auf sein Potential an Aggressivität und Sadismus, das im vierten Akt vollends ausbricht.
Reiner Schönklang und ‚Wohlfühl-Erlebnis‘ interessierten Zandonai nicht, ihm ging es durchaus um beunruhigende und aufwühlende Erfahrungen. Die Harmonik ist neu und innovativ, für das damalige Publikum waren die schroffen Wechsel und nicht aufgelösten Dissonanzen eine große Herausforderung.
Eine besondere Stellung hat dabei der Tritonus. Die übermäßige Quarte (bzw. verminderte Quinte) ist das Intervall, das in dem tonalen Rahmen, den Zandonai immer wieder überschreitet, die wohl größtmögliche Spannung ausübt. Man fühlt sich zuhause in einer Tonart – und dann weiß man plötzlich nicht mehr, wohin das jetzt führt. So wird vieles instabil, und das ist hier natürlich auch inhaltlich gemeint. Verfolgt man die Entwicklung der Beziehung von Francesca und Paolo, steht der Tritonus immer an ganz entscheidenden Punkten. Ähnlich wie die äußere und innere Handlung und Beziehung der beiden nicht geradlinig parallel verläuft, sondern teilweise überkreuz und spannungsgeladen, mit ganz unterschiedlichen Temperaturen und nicht immer übereinstimmenden Haltungen zueinander.
Doch in jedem Akt gibt es einen Fortschritt, jeder Akt geht einen Schritt weiter in der psychologischen Entwicklung der beiden. Eine starke Setzung ist dabei natürlich ihre erste Begegnung: Die beiden großen, ikonographischen Liebenden verlieben sich stumm, sie singen kein einziges Wort, keinen Ton. Alle Emotionen sind ins Orchester gelegt. Von hier springen wir gleich in den zweiten Akt: in den Kampf. Francescas Zuneigung hat sich in Wut und Hass verwandelt, Paolo ist ebenfalls nicht glücklich, er hadert mit sich und der Situation. Das wird in der Musik alles ganz genau und auf den Punkt erzählt: mal ironisch, wenn Francesca Paolo als ihren „lieben Schwager“ begrüßt, mal wütend, mal beleidigend oder schnippisch. Jede psychologische Regung treibt musikalisch neue Strukturen hervor. Paolo und Francesca versuchen, sich zu finden, im Kampf, im Streit und hier steht zentral immer wieder der Tritonus: „Paolo!“. Schon im ersten Wortgefecht taucht die übermäßige Quarte auf, wie ein unterdrückter Aufschrei Francescas, nervös, schmerzvoll und gleichzeitig nach einer Auflösung strebend. Dieser an den Tritonus gekoppelte „Paolo!“-Ausruf manifestiert noch etliche Male ihre Verzweiflung und Sehnsucht. Auch im dritten Akt, der ähnlich mit einem Spiel von Distanz und Nähe beginnt und in Francescas kleiner „Arie“ ihren Höhepunkt findet: „Paolo, datemi pace“. Musikalisch passiert hier fast nichts, keine große Melodie, ein paar Akkorde im Orchester, harmonisch alles schwebend über einem Liegeton im Violoncello. Darüber ganz zart, wieder in der Spannung des Tritonus: „Paolo, gebt mir Frieden.“ Hier blickt man ganz tief in Francescas Seele, dorthin, wo der innere Frieden als die größte Sehnsucht aufscheint. Den Frieden schließt Francesca tatsächlich – mit sich und mit ihrem Schicksal. In einer musikalischen Kreisbewegung kehrt der letzte Akt noch einmal an den Ausgangspunkt zurück: Im Orchester scheinen Motive aus dem ersten Akt wieder auf, in langsamerem Tempo, als „Allegretto triste“. Erinnerungen an Francescas Mädchenzeit in Ravenna werden wach, an ihre Schwester Samaritana, an die Todesahnungen, die Francesca schon vor der Ehe überfielen. Nun trifft sie ganz bewusst die finale Entscheidung, dieses Schicksal anzunehmen: „E così vada s’è pur mio destino! / So soll es gehen, wenn es denn mein Schicksal ist!“ Francescas Schicksal ist die todbringende Begegnung mit Paolo, die in der letzten Szene im Unisono, im völligen Verschmelzen der beiden Stimmen ihren Höhepunkt findet „Dammi la bocca! Ancora!“. Sie erreichen ein Plateau, das nicht mehr gesteigert werden kann. Der tödliche Schluss ist äußerst knapp. Und das letzte Wort hat Francesca – mit einem Tritonus: „Paolo!“
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