Ein Essay von Lars Gebhardt

Der große Katzenjammer

Um die Uraufführung von Rossinis DER BARBIER VON SEVILLA ranken sich zahlreiche Legenden. Dramaturg Lars Gebhardt erzählt von den Geburtswehen eines Welterfolgs

Schon mit 20 Jahren ist Gioacchino Rossini ein vielbeschäftigter Komponist; allein im Jahr 1812 schreibt er sechs Opern, die in Venedig, Ferrara, Mailand, Neapel und natürlich Rom aufgeführt wurden. Rossini war ein Viel- und Schnellschreiber – soeben wurde im Dezember 1815 seine Oper TORVALDO E DORLISKA am Teatro Valle in Rom uraufgeführt, da nimmt er am Konkurrenzhaus einen Auftrag an. Francesco Sforza Cesarini, Impressario des Teatro Argentina, sucht händeringend nach einer weiteren komischen Oper für seinen löchrigen Spielplan. Am 26. Dezember unterzeichnet Rossini den Vertrag – man einigt sich auf einen bereits erprobten Theaterstoff: eine Oper nach Beaumarchais’ Erfolgskomödie „Le barbier de Séville“. Erst am 29. Januar erhält Rossini das finale Libretto, im Höchsttempo komponiert er das Stück und greift dabei – wie damals üblich – auf schon bewährte Nummern aus seinen früheren Opern zurück. Drei Wochen später steht die Premiere.

Es ist eine Zeit der Veränderung – das irrwitzige Tempo mit dem Rossini komponiert, die maschinenhafte Mechanik seiner Orchesterbegleitung und die extreme Verzierungswut der Gesangspartien spiegeln eine Welt im Wandel wider. Denn es kracht und knarzt in ganz Europa. Grenzen, Weltbilder und Technologien wandeln sich rasant. Eben noch schwappten von Frankreich ausgehend die neuen Ideale von Liberté, Égalité und Fraternité über den Kontinent, schon versuchen die europäischen Königshäuser die Uhr zurückzudrehen: Frankreich bekommt wieder einen Bourbonenkönig, auf dem Wiener Kongress wird das alte Europa aufgeteilt. Seit Rossinis Geburt, 1792 im norditalienischen Pesaro, wechselten in Italien quasi im Jahrestakt die politischen Tonangeber. Eine Zeit der Unsicherheit und Haltlosigkeit. Die Menschen zieht es in die Städte – die Rolle des Adels wird zurückgedrängt. Die neuen Bürger übernehmen die Gestaltungshoheit über ihre Städte und Geschäfte.

Das öffentliche Leben floriert und somit auch die Konkurrenz. Immer neue Sensationen müssen die Betreiber privater Theater- und Opernhäuser dem Publikum bieten, da passen die Innovationen des jungen Rossini perfekt ins Programm. Er ist der Remixer alter Stoffe: Die kaum noch innovative Opera buffa erneuert er von innen heraus; Rossini greift oftmals auf bekannte Geschichten zurück, treibt sie aber mit musikalischem Irrwitz und sängerischer Virtuosität auf die Spitze. Cesarini erhofft sich am Teatro Argentina im Februar 1816 einen solchen Erfolg, doch die Uraufführung wird zum krachenden Desaster. Der Leiter des Teatro Valle war nämlich keineswegs amüsiert darüber, dass Rossini für die beiden konkurrierenden Häuser binnen kürzester Zeit neue Stücke schrieb und lässt die Premiere stören: bezahlte Buher und Anti-Claquere zischen in den Gesangsnummern und übertönen die Musik. Ihnen hilft, dass die Aufführung holprig abläuft: Schon beim ersten Auftritt stolpert der Darsteller des Don Basilio über eine Bodenklappe und muss fortan mit zerkratzter, blutender Nase singen. Ein Augenzeuge berichtet: „Das liebe Publikum sah mit Freuden das Fließen von Blut, ganz wie seine Vorfahren im Kolosseum. Es lacht, applaudierte, verlangte eine Wiederholung, kurz, es war ein furchtbares Durcheinander.“ Irgendwann springt sogar eine Katze auf die Bühne, hüpft von einem Sänger zum anderen, begleitet von einem laut miauenden Publikum – was vom Stücke übrig bleibt ist ein Konzert aus Katzenjammern, Pfiffen und Buhrufen. Die zweite Aufführung fand ohne den jungen Maestro statt – zu sehr hat ihn der Tumult getroffen.

Doch jetzt hört, schaut und staunt das Publikum ungestört mit offenen Ohren und erkennt den wahren Wert der Neukomposition. Ein knappes halbes Jahr später wird die Oper in Bologna zum zweiten Mal inszeniert: DER BARBIER VON SEVILLA beginnt seinen Siegeszug um die Welt.

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DEZ

Adventskalender im Foyer: Das 1. Fensterchen

Heute im Foyer: „An American Christmas“
Lieblingslieder aus Nord- und Südamerika
mit Julie Wyma, Valeria Delmé und Jamison Livsey
17.00 Uhr / Rang-Foyer rechts
Dauer: ca. 25 Minuten / Eintritt frei


Vom frostigen Norden Alaskas bis zum südlichsten Zipfel Chiles, von Buenos Aires bis New York City – die Adventszeit wird auf dem gesamten amerikanischen Doppelkontinent gefeiert. Doch gibt es gewaltige Unterschiede, wie das Weihnachtsfest wo begangen wird. Diese Vielfalt spiegelt sich auch in der Musik wieder, welche den Feierlichkeiten vorangehen und diese begleiten. Während der argentinische Komponist Ariel Ramírez in seiner Kantate „Navidad Nuestra“ (deutsch: „Unsere Weihnacht“) die schwungvollen Rhythmen südamerikanischer Tänze aufgreift, gelingt es Songs wie „White Christmas“ oder „I’ll Be Home for Christmas“ auf einzigartige Weise das Besinnliche ins Populäre zu übertragen. Begleiten Sie die Sopranistinnen Julie Wyma und Valeria Delmé sowie den Pianisten Jamison Livsey auf eine Reise durch die musikalischen Gefilde jenseits des Atlantiks.

Julie Wyma stammt aus den USA und studierte an den Universitäten in Indiana, Missouri und Arizona. Zahlreiche Auftritte auf der Opern- und Konzertbühne führten sie durch die USA und Europa. Seit der Spielzeit 2021/22 ist sie als 1. Sopran Mitglied des Chores der Deutschen Oper Berlin, wo sie mit ihren Kolleg*innen nicht nur in den großen Choropern singt, sondern darüber hinaus auch als La Conversa in SUOR ANGELICA eine solistische Partie übernimmt. Neben ihrer Tätigkeit als Sängerin ist Julie Wyma auch als Gesangslehrerin, Kostümbildnerin und Regisseurin aktiv.

Valeria Delmé wurde in Buenos Aires geboren und sammelte bereits früh erste musikalische Erfahrungen u. a. als Solistin im Kinderchor des Teatro Colón. Es folgten weitere Opernauftritte auf verschiedenen Bühnen in Argentinien sowie eine Ausbildung am Conservatorio Superior de Música „Manuel de Falla“, ehe sie im Jahr 2017 begann, regelmäßig in Deutschland zu konzertieren. Inzwischen singt Valeria Delmé als 2. Sopran im Chor der Deutschen Oper Berlin.

Der Pianist und Dirigent Jamison Livsey studierte an der University of Michigan in Ann Arbor, Michigan. 2016 dirigierte er eine Premiere von TURN OF THE SCREW in Tel Aviv. Er hat als Korrepetitor mit Dirigierverpflichtung an vielen Opernhäusern gearbeitet, u. a. an der Minnesota Opera, der Chautauqua Opera, der Sarasota Opera, der Opera Cleveland, der Anchorage Opera, der Opera in Williamsburg, der Toledo Opera, beim Sugar Creek Symphony and Song, im Rahmen des Pine Mountain Music Festival sowie bei der Opera North. Bei diesen Opernensembles gastierte er auch als Cembalist und Orchesterpianist mit einem Repertoire von Monteverdi über Rossini bis zur Gegenwart. Er ist auch als Liedbegleiter tätig, u. a. für Vivica Genaux. An der Deutschen Oper Berlin wirkt er als Korrepetitor im Chor.