Der Komponist im Spiegel - Deutsche Oper Berlin
Ein Essay von Arne Stollberg
Der Komponist im Spiegel
Dimensionen einer Selbstanalyse in Alexander Zemlinskys DER ZWERG
„Du mußt den Menschen vom Werke trennen.“ – Diese Ermahnung des Grafen an die Adresse seiner Schwester, der Gräfin, in Richard Strauss’ CAPRICCIO dürfte als hermeneutischer Grundsatz kaum anzuzweifeln sein. Schon Walter Benjamin insistierte darauf, „Werke“ nicht einfach als „Zeugnisse“ zu behandeln und damit ihren ästhetischen Eigensinn zu untergraben. Doch im Fall von Alexander Zemlinskys DER ZWERG liegen die Dinge komplizierter – und hierfür gibt mit Georg C. Klaren niemand anderer als der Librettist selbst den Gewährsmann ab. Zu dem exklusiv Zemlinsky gewidmeten Themenheft der Prager Musikzeitschrift „Der Auftakt“, 1921 erschienen, wenige Monate vor der Uraufführung des ZWERGS am 28. Mai 1922 in Köln, steuerte Klaren einen bemerkenswerten Essay bei, der den Titel trug: „Zemlinsky, vom psychologischen Standpunkte“. Darin verfocht er den Grundsatz, dass sich das Schaffen jedes Künstlers von individuellen seelischen „Voraussetzungen“ herleite, „aus dem Schatze realer Erlebnisse, daran geknüpfter Meditationen, […] erlittener Erkenntnisse“. Grundfalsch sei es daher, „eine Literatur- oder Musik- oder Kunstgeschichte“ zu pflegen, die „vom Schöpfer“ abstrahiere und „sich mit einer weisen Terminologie theoretischer Taktezergliederung“ begnüge, anstatt „zum seelischen Erfassen eines Werkes durch psychologische Betrachtung des Komponisten zu gelangen“.
Konkret geht es Klaren um eine Erörterung „vom sexualpathologischen Standpunkte“ aus, und er zögert nicht, Zemlinsky mit seiner „abnormalen Hypersensibilität“ als „Passivisten“ zu charakterisieren: „Ein Passivist ist erotisch immer Masochist und von einer gewissen Hypochondrie der Idee des Weibes gegenüber […].“ Dies habe ihn folgerichtig zu Oscar Wildes Kunstmärchen „Der Geburtstag der Infantin“ und damit zum Sujet des ZWERGS geführt: „Ein Mensch ist unter Menschen gestellt, ohne zu wissen, dass er anders geartet ist als sie, […] und er zerschellt am Weibe, das nicht zur Kenntnis seines tiefsten Wesens gelangen will, ihm aber auch nicht sagt, wodurch er sich von Anderen unterscheidet, sondern mit ihm spielt […].“
Über die fast schamlos wirkende Unerbittlichkeit, mit der Klaren, Anhänger Otto Weiningers und Kenner der Freud’schen Psychoanalyse, hier Zemlinsky virtuell auf die Couch legt, kann man heute nur noch staunen. Automatisch wird die Frage virulent, ob er bei der Umarbeitung von Wildes Märchen in ein Operntextbuch seinen eigenen Grundsätzen Folge leistete, mithin die „Sexualpsychologie“, wie er sie als Triebfeder künstlerischer Tätigkeit konzeptualisierte, samt ihrer Fundierung in „realen Erlebnissen“ selbstreflexiv zum eigentlichen Thema des Librettos werden ließ. Kürzer gesagt: Ist der unglückliche Zwerg – nach Klarens Intention – tatsächlich mit Zemlinsky identisch? Wer wäre dann die grausame Infantin?
So absurd oder voyeuristisch, wie sie auf den ersten Blick scheinen mag, ist diese Überlegung keineswegs. Zemlinsky selbst berichtet in einem Brief an Emil Hertzka von der Universal Edition, dass es seitens wohlmeinender Freunde „Einwände“ gegen die Themenwahl gegeben habe, möglicherweise deshalb, weil die Bezüge zu seiner Person allzu deutlich auf der Hand lagen. Und dies aus einem einfachen Grund: Zemlinsky, vielfaches Opfer hämischer Karikaturisten, galt – dem Zwerg der Oper gleich – als ein ausgesprochen hässlicher Mann. Und ihm war diese Hässlichkeit einmal von einer jungen Frau dergestalt vor Augen geführt worden, dass der Gedanke, Klaren habe sich daran orientiert und dem Komponisten – wie Antony Beaumont schreibt – Anlass zu einer beispiellosen musiktheatralen „Selbsterniedrigung“, „Selbstzerstörung“ und „Selbstreinigung“ geboten, mehr als naheliegend scheint. Die Rede ist von Zemlinskys Affäre mit Alma Schindler, der späteren Alma Mahler. Hat das reale Leben hier der sublimierenden Kunst im vollen Bewusstsein aller Beteiligten wirklich eine Blaupause geliefert?
Das konflikthafte Gegeneinander von äußerer Ungestalt und innerer Seelengröße, von erotischer Abstoßung und künstlerisch-geistiger Anziehung, die schließlich aber auch in sexuellen Fantasien gipfelte, war für die Liaison zwischen der 21-jährigen Alma Schindler und ihrem acht Jahre älteren Lehrer, bei dem sie zwischen November 1900 und Dezember 1901, bis zur Verlobung mit Gustav Mahler, privaten Kompositionsunterricht genoss, von so prägender Bedeutung, dass der Schritt zum Pathologischen nicht allzu fern scheint. Angestachelt vom alltäglichen Wiener Antisemitismus und Ratschlägen wie demjenigen ihres väterlichen Freundes Max Burckhard, sich „nicht die gute Rasse“ durch eine Verbindung mit Zemlinsky zu „verderben“, entwickelte Alma eine regelrechte Obsession rund um den Kontrast zwischen ihrer Schönheit und der Hässlichkeit sowie der geringen Körpergröße des gleichwohl bewunderten Zemlinsky. Ihr Tagebuch erzählt davon, etwa am 21. April 1901: „[…] wenn ich mit Z. […] am Altar stehen würde – wie lächerlich das doch sein würde … Er so hässlich – so klein, ich so schön – so groß. Kein Gefühl der Liebe für diesen Menschen könnte in mein Herz kommen, so viel ich mich auch bemühte.“ Dann aber wieder heißt es an anderer Stelle [18. Oktober 1900]: „Ich finde ihn nicht komisch – und nicht hässlich, denn die Intelligenz leuchtet ihm aus den Augen – und ein solcher Mensch ist nie hässlich.“ Mal ruft Alma, nachdem sie einer „Fliegenbegattung“ zugesehen hat, die doch schließlich auch nicht „unästhetisch“ wirke, sehnsüchtig ihrem „Alex“ hinterher, sie wolle sein „Weihebecken“ sein: „Gieß deinen Überfluss in mich“ [24. September 1901]. Dann wieder ekelt es sie davor, „kleine, degenerierte Judenkinder zur Welt [zu] bringen“ [28. Juli 1901].
Nicht im Geheimen des Tagebuchs blieben solche Gedanken – Alma scheint darüber mit Zemlinsky offen gesprochen zu haben. In einem Brief vom 22. Mai 1901 jedenfalls schleudert ihr der tief verletzte „Alex“ entgegen: „Ich kann und lass mich nicht herunterziehen. Mein ganzer Stolz bäumt sich jetzt auf.“ Und fünf Tage später: „Ich bin also furchtbar hässlich?! Also angenommen! Ich danke Gott jetzt dafür, dass ich so bin. Und danke Gott, dass es so viele Mädchen gegeben hat, die über meine Hässlichkeit zu meiner Seele gelangt sind […].“ Am 13. April 1901 hält Almas Tagebuch einen Ausspruch von „Alex“ fest, mit dem sich dieser, aus der Perspektive der späteren Oper gesehen, gleichsam der Rolle des Zwergs zu entledigen sucht: „Ich lasse mit mir nicht spielen.“ Und was er Alma immer wieder vorwirft, könnte so auch an die Adresse der verwöhnten, verzogenen, in Luxus schwelgenden Infantin gehen: „Ich weiss es: alle Deine Ansichten, Deine grenzenlose Eitelkeit, Vergnügungssucht, das alles steht Dir im Wege, um in unserm Fall glücklich zu sein“ [Brief vom 4. November 1901].
Die Verlobung Almas mit Gustav Mahler am 23. Dezember 1901 setzte den unwiderruflichen Schlusspunkt. Schon sieben Tage vorher war es bei einem Besuch Zemlinskys zur Besiegelung des Endes der Beziehung gekommen. In Almas Tagebuch lesen wir unter dem 16. Dezember 1901: „Heute wurde eine schöne Liebe begraben. Gustav, viel musst Du thun, um sie mir zu ersetzen. […] Mein armer Alex – ich habe die Leiden auf seinem Gesicht gesehen. Du edler, edler Mensch!“ Wie sehr der Komponist tatsächlich litt, darüber lässt sich nur spekulieren. Am 28. Dezember 1901 übermittelte er Arnold Schönberg in einem Brief lakonisch die „neueste Neuigkeit: Mahler verlobt mit Alma Schindler“ – und setzte darunter nicht weniger als fünfundzwanzig Gedankenstriche, Fanal einer Sprachlosigkeit, die aber offenkundig das Bedürfnis nach künstlerischer Artikulation hinterließ. 1909 bat Zemlinsky seinen Kollegen Franz Schreker, ihm ein Libretto zu schreiben: die „Tragödie des häßlichen Mannes“, woraus DIE GEZEICHNETEN werden sollten, deren Vertonung Schreker schließlich selbst übernahm. Trotz der 1907 erfolgten Heirat mit Ida Guttmann und der 1920 einsetzenden, leidenschaftlichen Affäre mit der Sängerin Luise [Louise] Sachsel, die 1930, nach dem Tod Idas, Zemlinskys zweite Ehefrau werden sollte, blieb die Wunde Alma, so scheint es, unvernarbt, die erlittene Kränkung unabgegolten – bis Georg C. Klaren, dem Wunsch Zemlinskys entsprechend, schließlich die Wilde-Adaption DER ZWERG lieferte: genau das, was der Komponist offenbar benötigte, um sein Trauma daran abzureagieren.
Wie präzise standen Georg C. Klaren die Zusammenhänge rund um Alma Schindler und Alexander Zemlinsky vor Augen, erst recht angesichts der Tatsache, dass er, Jahrgang 1900, seinerzeit noch ein Säugling gewesen war? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Tatsache jedenfalls bleibt, dass seine Änderungen gegenüber der literarischen Vorlage nicht nur darauf zielen, das „Sexualpathologische“ in den Fokus zu rücken, sondern auch eine Annäherung an die Lebensumstände Zemlinskys zu bewirken scheinen. Dass die bei Wilde nicht vorkommende Gestalt der Ghita, „mütterliches“ Gegenbild zur kokett-verantwortungslosen Infantin, vom Klang des Namens her an Zemlinskys Ehefrau Ida erinnert, könnte noch als bloßer Zufall durchgehen; doch gewinnt es umso mehr an Bedeutung, dass der Komponist zu Ghitas Worten, sie würde, wäre sie Infantin, „die Menschen mit meiner Liebe beglücken, die freudlos und häßlich sind“, musikalisch auf ein Werk aus eigener Feder anspielt: die 1898 entstandene, mit „Liebe“ überschriebene dritte der „Fantasien über Gedichte von Richard Dehmel für Klavier“ op. 9.
Schließlich erfährt auch die Figur des Zwergs selbst eine entscheidende Umdeutung: Bei Wilde der Sohn eines armen Köhlers, in nahegelegenen Wäldern von Edelleuten zufällig aufgegriffen, avanciert die Titelfigur der Oper zum Dichter und Musiker – zum Künstler. „Ein Ruf als Sänger eilt ihm voran aus fernem Land“, so berichtet der Haushofmeister, und die Infantin bittet den Zwerg bei der ersten Begegnung, für sie zu singen, denn: „Man sagt, Ihr dichtet besser als Ihr sprecht.“
Die Herkunft des Zwergs bleibt ungewiss; doch dass er mit einem „Spanier […] zehn Jahre lang“ auf den Weltmeeren gesegelt sei, „ferne Küsten wie Paradiese“ gesehen habe, um dann dem „Sultan verkauft“ und schließlich der Infantin als Geschenk überreicht zu werden – diese geheimnisvolle Biographie verleiht ihm eine Aura des Exotischen, von Zemlinsky in den intrikaten Klang jener traurig klagenden Englischhorn-Arabeske gekleidet, mit der die erste Erwähnung des Zwergs einhergeht [„Der Sultan sandte einen Zwerg, als Spiel der grausamen Natur“]. Das fremdartige Kolorit, hervorgerufen durch die Vermeidung gewohnter Kadenzschritte, mag Programm sein, könnte es doch, wie Antony Beaumont vermutet, als musikalisches Äquivalent für „Zemlinskys jüdisch-muslimischen Hintergrund“ sowie seine „zum Teil türkische Abstammung“ dienen, um die Gestalt des Zwergs dadurch wiederum dem Komponisten anzugleichen. Dessen Liebe zu Alma war nicht zuletzt daran gescheitert, dass seine Angebetete ihn am Ende doch nur zu jenen „kleinen Halbjuden“ zählte, „die ihr ganzes Leben nicht von ihrer Judenschaft loskommen“ [Tagebuch vom 27. April 1901] – die traurige Englischhorn-Arabeske mit dem wehmütig-verhangenen Schnörkel [Vortragsanweisung: „nicht eilen“] wäre dann Erkennungszeichen und Stigma zugleich.
Sollte Zemlinskys ZWERG in der beschriebenen Weise, wiederum nach Klaren, von den Furchen „realer Erlebnisse, […] erlittener Erkenntnisse“ durchzogen sein, so wäre es auf jeden Fall zu kurz gegriffen, dabei nur an Sexualpathologisches zu denken. Etwas anderes spielt hinein – eine musikgeschichtliche Dimension, die mit der Alma-Affäre zeitlich unmittelbar zusammenfällt. In ihrer Autobiographie „Mein Leben“ erinnert sich Alma Mahler: „Ich traf Arnold Schönberg, wenn ich bei Zemlinsky Stunde nahm […]. Schönberg war Zemlinskys Lieblingsschüler, von dem er damals schon sagte: ‚Von dem wird die Welt noch reden.‘“ Damit sollte Zemlinsky stärker Recht behalten, als ihm selbst lieb war. Wenige Monate nach dem Ende der Beziehung zu Alma, im Februar 1902, begann er mit der Arbeit an einer „Fantasie für Orchester“ „Die Seejungfrau“ auf der Grundlage des Märchens von Hans Christian Andersen. Inhaltlich dürfte ihn das Sujet, das von der tragischen Unmöglichkeit einer Liebe zwischen Wesen aus verschiedenen Welten handelt, schon deshalb angesprochen haben, weil es seine eigene Situation ebenso zu spiegeln wie kunstvoll zu verbergen schien. Alma Schinder, die am 9. März 1902 Alma Mahler wurde, hätte sich auch hier, im Geschlechtertausch als Prinz, adressiert fühlen können. Hinzu kam jedoch, dass Zemlinsky einen kollegialen Wettstreit mit seinem ehemaligen Schüler, Freund und Schwager [Ehemann von Zemlinskys Schwester Mathilde] eingegangen war: Während er die „Seejungfrau“ schrieb, arbeitete Schönberg parallel an der Symphonischen Dichtung „Pelleas und Melisande“ [nach Maurice Maeterlinck], und als Zemlinsky diese Partitur schließlich erhielt, musste er eingestehen, von Schönberg regelrecht abgehängt worden zu sein: „Es ist das ungeheuer Schwierigste, das mir je untergekommen. […] Ich komme nur ganz mühsam weiter. Verliere jeden Augenblick den melodischen od. harmonischen Faden; muss wieder beginnen, u. schliesslich thun mir Kopf u. Augen so weh, dass ich aufhören muss.“
Dass beide Kompositionen – Zemlinskys „Seejungfrau“ und Schönbergs „Pelleas und Melisande“ – im gleichen Konzert am 25. Januar 1905 in Wien uraufgeführt wurden, war für Zemlinsky eine höchst unglückliche Konstellation, da Schönbergs Werk im Guten wie im Bösen alle Beachtung auf sich zog. Gekränkt über das geringe Maß an Aufmerksamkeit und wohl auch verunsichert durch die Kühnheiten der Partitur seines ehemaligen Schülers zog Zemlinsky die „Seejungfrau“ von einer bereits geplanten Aufführung in Berlin zurück, und er scheint zeitlebens keine weiteren Versuche unternommen zu haben, der Komposition doch noch Gehör zu verschaffen – abgesehen davon, dass er die Streichermelodik einer Passage des ZWERGS [zu den Worten: „vielleicht kaum über zwanzig alt, vielleicht alt wie die Sonne“], als Variante der oben beschriebenen Englischhorn-Arabeske deutbar, bezeichnenderweise dem Hauptthema der „Seejungfrau“ nachmodellierte.
Der privaten Zurücksetzung durch Alma gesellte sich für Zemlinsky mithin das Gefühl, ins musikgeschichtliche Abseits geraten zu sein. Dies sollte für ihn zum künstlerischen Lebensthema werden, mit jedem Schritt, den Schönberg weiter vollzog, in die Atonalität und schließlich in die Zwölftontechnik hinein, seiner eigenen Bestimmung in dem Maße gewiss, wie Zemlinsky zunehmend an Sicherheit verlor: „Mir fehlt Dein Optimismus, deine Geduld, dein Humor, deine Lebenslust“, so schrieb er dem Schwager Ende März 1903. „Ich bin viel anders worden als ich war.“ Phasen der Entfremdung, auch privater Natur [die Affäre Mathilde Schönbergs mit dem Maler Richard Gerstl sowie dessen Selbstmord, Schönbergs rasche Wiederverheiratung nach Mathildes Tod 1923], blieben nicht aus. Und doch hielt Zemlinsky Schönberg die Treue, zumindest nach außen hin, ohne dabei zu leugnen, dass er dessen Weg weder mitgehen konnte noch wollte.
Gleichwohl dürfte die Erinnerung Erich Wolfgang Korngolds nicht ganz aus der Luft gegriffen sein, Zemlinsky, bei dem er damals privaten Kompositionsunterricht erhielt, habe um 1910 „eine Art künstlerische Krise der Selbstbehauptung gegen die neuen und verführerischen radikalen Theorien seines von ihm verehrten Schwagers Arnold Schönberg“ durchgemacht. Erich Wolfgang Korngolds Vater, der Musikkritiker Julius Korngold, drückte es mit Blick auf den ZWERG anlässlich der Wiener Erstaufführung im November 1923 einigermaßen drastisch aus: „Schwager von Schönberg, komponiert Zemlinsky ja wohl immer auch ein bisschen für Schönberg.“
Was könnte damit gemeint sein? Tatsächlich wird nicht nur die „wahre“ Physiognomie des Zwergs, von der dieser keine Ahnung hat [„Er hinkt, […] klein und verwachsen die ganze Gestalt“], musikalisch mit Stilmitteln gezeichnet, die dem Arsenal von Schönbergs expressionistischer Tonsprache entstammen könnten [Posaunen- und Streicherglissandi „ganz am Steg“, geräuschhafte Dissonanzballungen, Quartenakkorde usw.], sondern vor allem jener Moment, in dem der Protagonist sein eigenes Spiegelbild erblickt, auf eine bruitistische Weise auskomponiert, die an Werke wie Schönbergs ERWARTUNG denken lässt – 1909 entstanden, aber erst 1924 unter Zemlinskys Leitung in Prag uraufgeführt. Mit Theodor W. Adornos Schönberg-Interpretation könnte man sagen, dass der am Anfang des ZWERGS grell überbelichtete Schleier einer gekünstelt wohlklingenden Musik hier aufreißt und hinter dem Lügengewebe, das den Zwerg umgibt, eine Hässlichkeit sichtbar wird, die nichts anderes als Wahrheit bedeutet. Doch war dies Zemlinskys letztes Wort – das Eingeständnis, dass Wahrheit [auch in der Kunst] nur mit Hässlichkeit zu identifizieren und Schönheit eine Illusion sei, eine Verblendung, die er am eigenen Leib in der Beziehung zu Alma hatte erfahren müssen? So einfach ist es nicht: DER ZWERG bewahrt eine Doppelbödigkeit, die sich simplen Antworten entzieht, wie Zemlinsky – vielleicht nicht ohne Ironie – nach Abschluss der Oper eingestand, er befürchte, dort regelrecht „melodisch“ komponiert zu haben. Und daher kann ein heutiger Zuhörer wohl ebenso empfinden wie Alban Berg, der die „Tragik“ des Stückes „derart quälend“ erlebte, „dass es […] fast nicht zum Aushalten ist“, sich aber gerade deswegen an den „große[n] Partien des Genießens“ mit ihrer „unendlich süßen und überströmenden Melodik“ labte. Zemlinsky wäre zweifellos einverstanden gewesen.