„Nixon in China“ – die (große) amerikanische Oper des 20. Jahrhunderts? - Deutsche Oper Berlin
„Nixon in China“ – die (große) amerikanische Oper des 20. Jahrhunderts?
Ein Essay von Wolfgang Rathert
Trauma und Problem
„This just might be the great American opera of the 20th Century“ – „Gerade dieses Werk könnte die große amerikanische Oper des 20. Jahrhunderts sein“: Trotz des Konjunktivs ist die Emphase des Satzes nicht zu überhören, mit der Brian C. Thompson 2008 seine Rezension der zweiten Gesamteinspielung von John Adams’ Oper NIXON IN CHINA unter der Leitung von Marin Alsop beschloss. Sprach der Kritiker mutig das aus, was er für den Konsens des Publikums hielt, oder verstieg er sich (aus welchen Gründen auch immer) zu einer übertriebenen Eloge? Sicherlich ist es absurd, darüber zu spekulieren, ob es sich hier um „die“ große US-amerikanische Oper des 20. Jahrhunderts handeln könne: Denn Kunst ist kein sportlicher Wettkampf, dessen Ergebnisse zum Abschluss auf einem Sieger-Treppchen gekürt werden. Freilich wird der Erfolg einer Produktion im fast ausschließlich privatwirtschaftlich betriebenen, also keine staatlichen Subventionen kennenden US-amerikanischen Musikleben an Aufführungszahlen und Einnahmen gemessen. NIXON IN CHINA, Adams‘ Debüt als Opernkomponist im Jahr 1987, wurde nach anfänglich gemischten Reaktionen eine sehr erfolgreiche Oper und ist bis heute die am häufigsten aufgeführte unter seinen mittlerweile sieben Werken für das Musiktheater, deren vorläufiger Abschluss die 2022 vorgestellte Vertonung von Shakespeares gleichnamigem Drama ANTONY AND CLEOPATRA bildet. Thompsons Bemerkung zielte gewiss nicht auf den kommerziellen Aspekt, auch wenn die Geschichte der Oper in den Vereinigten Staaten davon nicht getrennt werden kann. Eher schimmert in dem Satz noch der Rest eines Traumas durch, das Komponisten wie Musikautoren der USA seit den Anfängen ihrer nationalen Musikgeschichte plagt und von Leonard Bernstein zu einer Schicksalsfrage erhoben wurde: nämlich die Verwirklichung des Wunsches, eine amerikanische Oper zu schreiben, die auf Augen- bzw. Ohrenhöhe mit den europäischen Mutter- und Musterwerken steht.
Aufstieg und Glanz
Aus dem 19. Jahrhundert existiert keine in den USA entstandene Oper, die Eingang in das Repertoire der Opernhäuser gefunden hat. Erst 1910, drei Jahrzehnte nach ihrer Gründung, spielte die New Yorker Metropolitan Opera mit Frederic S. Converses PIPE OF DESIRE das Werk eines amerikanischen Komponisten, koppelte es aber sicherheitshalber mit Leoncavallos veristischen PAGLIACCI. Zwei Jahre später wurde mit Horatio Parkers MONA die erste abendfüllende amerikanische Oper an der Met uraufgeführt. Obgleich ihr Schöpfer (der auch der akademische Lehrer des von Adams verehrten Charles Ives war) einen konservativ-bildungsbürgerlichen Stil pflegte, war das Unternehmen ein Misserfolg. Schon der Gebrauch der englischen Sprache war ein Wagnis, ganz abgesehen von den spezifischen Soziolekten, in denen sich die multikulturelle Zusammensetzung der amerikanischen Gesellschaft hätte spiegeln können und müssen.
So dauerte es nochmals mehr als zwei Jahrzehnte, bis sich 1935 eine amerikanische Oper gegenüber dem europäischen Repertoire an amerikanischen Opernhäusern zu behaupten vermochte und später unter den Bedingungen des Kalten Kriegs zu einem Welterfolg wurde: Dies war George Gershwins (von ihm selbst so bezeichnete) „folk opera“ PORGY AND BESS, die trotz oder vielleicht sogar aufgrund der Bedingung, dass sie bis heute nur von einem All-Black-Ensemble gesungen werden darf, zu einem Klassiker wurde. Gershwin war freilich zuvor als Musical-Komponist in einem Genre höchst erfolgreich, das am Broadway die eigentliche Alternative zur importierten europäischen Hochkultur der Met bot. Ihm gehört auch das bekannteste aller amerikanischen Musiktheaterwerke an, Leonard Bernsteins WEST SIDE STORY von 1956. Die Tatsache, dass der deutsche Emigrant Kurt Weill in den USA nicht weniger als acht große Musiktheaterwerke schrieb, die für Bernstein und andere amerikanische Komponisten modellhaft waren, ist dagegen bis heute weit weniger im Bewusstsein von Regisseuren und Opernhäusern.
In der zweiten Jahrhunderthälfte war es Philip Glass, dem als erster amerikanischer Komponist der internationale Durchbruch auf dem Feld des Musiktheaters mit seiner zwischen 1976 und 1984 entstandenen Opern-Trilogie EINSTEIN ON THE BEACH (in Zusammenarbeit mit Robert Wilson), SATYAGRAHA und AKNATHEN gelang. Ironischerweise erlebten alle drei Opern ihre Uraufführungen an europäischen Opernhäusern: Damit wurde der Dominanz des europäischen Musiktheaters im 20. Jahrhundert symbolisch zwar ausgerechnet auf dem Ursprungskontinent der Oper Einhalt geboten, doch gleichzeitig fiel dadurch ein Licht auf den nach wie vor unsicheren institutionellen Status der amerikanischen Oper in den USA. Die Aura, die Musiksprache und Bildkraft dieser Opern umgab und umgibt, ist untrennbar mit dem Aufstieg des musikalischen Minimalismus sowie des postdramatischen Theaters und Tanzes verbunden.
Post-Minimalismus und Post-Moderne
Auch John Adams’ musikalische Sozialisation erfuhr nach seiner vor allem von der amerikanischen Schönberg- und Strawinsky-Rezeption akademisch geprägten Ausbildung an der Harvard University und dem Umzug nach Kalifornien einen wesentlichen Impuls durch den Minimalismus. Zuvor hatte Adams in seiner Jugend alle Musik aufgesogen, die ihm auf Schallplatte, in Konzerten und in eigener Praxis begegnete: die klassisch-romantische Musik im Schulorchester, in dem er Klarinette spielte, die Popularmusik vom Jazz (Swing und Big Band) bis zu den Beatles und nicht zuletzt elektronische Musik. Im Gefolge der weltweiten Aufmerksamkeit, die Glass‘ und Steve Reichs Werke erfuhren, etablierte sich Adams zusammen mit dem englischen Komponisten und Dirigenten Michael Nyman spätestens 1985 mit dem Orchesterwerk „Harmonielehre“ als führender Vertreter des (amerikanischen) Post-Minimalismus. Zwei Jahre später folgte mit NIXON IN CHINA das erste Bühnenwerk; ihm war in Los Angeles in der Zusammenarbeit mit der Choreographin Lucinda Childs und dem Architekten Frank O. Gehry das Ballett AVAILABLE LIGHT (1983) vorangegangen, in dem Adams seine Affinität zum Musik- bzw. Tanztheater mit einer bemerkenswerten elektronischen Partitur unter Beweis gestellt hatte.
Aus der richtungsweisenden Bedeutung, die speziell SATYAGRAHA für ihn besaß, machte Adams kein Geheimnis. Souverän reflektierte er darin die besondere Situation von Komponisten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die über alle bisherigen wie auch neue Stile verfügen können. Begriff und Praxis des Post-Minimalismus sind damit Teil einer Post-Moderne, die sich seit den 1970er-Jahren zunächst auf dem Gebiet der Architektur und dann der anderen Künste in der westlichen Kultur Bahn brach. Sie polarisiert bis heute die Kulturtheorie: Für die einen plündert sie die Geschichte aus und vernichtet tradierte Maßstäbe, für die anderen vollzieht sie eine längst überfällige Demokratisierung der ästhetischen Sphäre. Da der Vorwurf der Epigonalität bis hin zur Plagiierung nicht fern liegt, ist es daher notwendig, daran zu erinnern, dass das Wie und nicht das Was eines künstlerischen Konzepts über sein Gelingen entscheidet. In dieser Hinsicht ist Adams‘ Umgang mit prä-existentem musikalischen Material höchst innovativ und virtuos und setzt den Weg eines schöpferischen Eklektizismus fort, den Ives und Bernstein beschritten hatten. Hinzu kommt, dass die Definition des „Americanism“ in der US-amerikanischen Musik zum Zeitpunkt der Komposition von NIXON IN CHINA großen Wandlungen bis hin zur strikten Zurückweisung dieses Ziels durch die Komponisten selbst unterworfen war. Der möglichst engen Annäherung an die europäische Oper folgte in den 1930er Jahren die ebenso illusorische wie ideologisch belastete Forderung nach einer nationalen, für alle Amerikaner gleich verständlichen Musiksprache, die nach dem Zweiten Weltkrieg von der Forderung nach kultureller Hegemonie der amerikanischen Musik abgelöst wurde.
Resümiert man die ideologischen Schlachten um die „wahre“ Identität und Aufgabe des amerikanischen Musiktheaters im 20. Jahrhundert, so überrascht es nicht, dass die Heterogenität der Musiksprache von NIXON IN CHINA heftige Diskussionen auslöste. War diese Vielfalt ein Signum des Amerikanischen und Triumph einer von Ives antizipierten und John Cage realisierten ästhetischen Demokratie oder handelte es sich um einen Sündenfall, der die ursprüngliche Strenge und Reinheit des Minimalismus mit Anleihen bei Hollywood, dem Musical wie auch dem europäischen Opern-Fundus von Mozart bis Wagner verwässerte? Bei der Kontroverse um die nachfolgende Oper THE DEATH OF KLINGHOFFER ging es dagegen explizit um deren politische Aussage, die Adams und seinen Mitstreitern Peter Sellars und Alice Goodman den Vorwurf des latenten Antisemitismus eintrug. Aufgrund der Vorlage dieser Oper, der Entführung des italienischen Kreuzfahrtschiffs ‚Achille Lauro‘ am 7. Oktober 1985 durch palästinensische Terroristen und die Ermordung der jüdisch-amerikanischen Geisel Leon Klinghoffer, besitzt diese Oper eine beklemmende Aktualität, doch dürfte im Moment kein Opernhaus eine Neu-Inszenierung wagen.
Zeitoper und zeitlose Oper
Damit ist freilich nicht gesagt, dass NIXON IN CHINA bereits historisch abgesunken ist. Im Gegenteil lässt sich anhand der Oper das Bild, das wir von einer globalisierten Welt gewonnen haben, immer wieder überprüfen; die drei Schöpfer der Oper – außer Adams der ideenstiftende Regisseur Peter Sellars und die Librettistin Alice Goodman – werden immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, ein allzu idealisiertes Bild der beiden Mächte USA und China und ihrer Repräsentanten gezeichnet zu haben. Eine so wohlfeile Kritik aus der Perspektive der Gegenwart sollte sich die zeit- und musikgeschichtlichen Voraussetzungen klarmachen, unter denen diese beiden Opern wie auch DOCTOR ATOMIC (2005) entstanden. Allen drei Opern, die in der Summe wie Glass‘ Opern eine Trilogie oder – vielleicht noch adäquater – ein Triptychon ergeben, ist nicht nur die gemeinsame Verfasserschaft des Teams Adams/Goodman/Sellars gemeinsam. (Zwar kündigte Goodman die Zusammenarbeit bei DOCTOR ATOMIC wieder auf, doch verwendete Sellars, der dann selber das Libretto schrieb, Material von ihr.) Entscheidend ist auch, dass ihnen aktuelle und brennende, im Prinzip die ganze Welt betreffende Stoffe zugrunde gelegt wurden.
Im Englischen gibt es dafür den ebenso pragmatischen wie leicht abschätzig klingenden und von Adams abgelehnten Gattungsbegriff der „CNN Opera“. Er bezieht sich auf den gleichnamigen, 1980 in Atlanta in Betrieb gegangenen ersten reinen Nachrichtensender der Welt. Im Fall von NIXON IN CHINA stand am Anfang die zündende Idee des Regisseurs Sellars, seinen Autoren Adams und Goodman ein aktuelles Thema mit einer kaum zu überbietenden medialen Aufmerksamkeit vorzuschlagen, was bei dem Nixon-Gegner Adams zunächst auf Ablehnung stieß. Zudem steht dem Vorteil eines direkten und starken öffentlichen Echos auf eine solche Themenwahl der Nachteil einer kurzen künstlerischen Halbwertzeit gegenüber. Dieser Aspekt wurde schon von Kurt Weill artikuliert, der mit anderen jungen Komponisten in der Weimarer Republik sogenannte „Zeitopern“ schrieb, in denen alltägliche und banale Sujets in den Mittelpunkt rückten. Paul Hindemith und Marcellus Schiffer thematisierten in ihrer komischen Oper NEUES VOM TAGE (1929) die manipulative Macht der Medien über die menschlichen Gefühle auf sarkastische, fast schon zynisch zu nennende Weise. Auch in NIXON IN CHINA gibt es in der brillanten Ensembleszene (mit Chor) am Ende der ersten Szene des ersten Aktes eine ebenso bizarre wie humorvolle Persiflage, wenn Nixon hysterisch-stammelnd das Wort „News“ unentwegt wiederholt und sich an seinem medialen Ruhm berauscht, während der chinesische Ministerpräsident Chou En-lai vergebens versucht, sich überhaupt bemerkbar zu machen („News has a kind of mystery“).
Hindemith und Weill versuchten freilich, die Zeitoper zu nobilitieren, indem sie sich auf Mozart beriefen, der in seinen Opern das Alltägliche in das Universale, Allgemein-Menschliche überführt habe. Auch Adams (und noch glühender Nyman) bekennt sich hier zu Mozart, indem er gleich zu Beginn einen ebenso beiläufigen wie unüberhörbaren Hinweis auf das Vorbild einschmuggelt. Nixons allererster Auftritt – seine Antwort auf die Frage Chous, ob sein Flug angenehm („smooth“) gewesen sei – enthält auf der als Melisma gestalteten Silbe „smoother“ ein nur leicht verändertes Zitat aus Figaros berühmter, an Cherubino gerichtete Arie „Non più andrai“ im ersten Akt von LE NOZZE DI FIGARO; es handelt sich bezeichnenderweise um jene Melodiephrase, mit der die Worte „Narcisetto, Adocino d‘amor“ [kleiner Narziss und Adonis der Liebe] vertont werden. Die mit höchster Spannung erwartete Ankunft Nixons in Peking, die unmittelbare Gegenwart (ohne jede Vorgeschichte) auf die Bühne bringt, wird mit dem Mozart-Zitat musikgeschichtlich in die Vergangenheit katapultiert. Diese Verfremdung begegnet (mindestens) noch einmal, nun aber als Anspielung auf Wagner, wenn Adams den „Feuerzauber“ der WALKÜRE im zweiten Akt an jenem archimedischen Punkt heraufbeschwört, an dem Pat Nixon in die Handlung einschreiten wird.
Politik und Mythos
Im Musical lockte der Alltagsbezug von Anfang an das Publikum in die Theater: Der Broadway war keine moralische Anstalt, sondern diente mit dem Instrument der satirischen Überzeichnung gesellschaftlicher und politischer Missstände der Unterhaltung. NIXON IN CHINA ist auch nicht das erste Werk des amerikanischen Musiktheaters über einen amerikanischen Präsidenten. 1931 erzielten der Bühnenautor George S. Kaufman (der später für die Marx Brothers Drehbücher verfasste), Ira Gershwin als Verfasser der Songtexte und sein Bruder George mit dem Musical OF THEE I SING einen enormen Erfolg; das Rezept der Handlung um den (Liebes-)Wahlkampf des fiktiven Präsidentschafts-Bewerbers Wintergreen folgte dem bewährten Muster der satirischen Operetten von Gilbert & Sullivan. Bereits im vom selben Team ersonnenen Musical-Vorgänger STRIKE UP THE BAND (1927) geht es um Politik: Die USA erklärt der Schweiz den Krieg. Der dort erklingende „Yankee Doodle Rhythm“ findet sein spätes Echo in dem von Mao Tse-tung und seiner vierten Ehefrau Chiang Ch’ing getanzten und gesungenen Foxtrott „The Chairman Dances“, der in der von Adams noch vor der Premiere der Oper ausgekoppelten Orchesterfassung populär wurde. Es bleibt offen, ob Adams hier mit den Klischees des musikalischen Exotismus ironisch spielt oder sogar liebäugelt. Die musikalische Doppelbödigkeit entspricht zwar der Surrealität dieser Szene wie letztlich der gesamten Oper, verhindert jedoch zugleich ihre Einordnung in die Gattung der politischen Oper, die im 20. Jahrhundert durch Werke Hartmanns, Nonos oder Henzes so wichtige Beiträge erfuhr. Aber auch der Vergleich zu SATYAGRAHA fällt schwer: Konzipiert als Lehrstück über die Lebensgeschichte Gandhis und die Wirkkraft Tolstois, Martin Luther Kings und Tagores, durchzieht Glass‘ Musik von Beginn an ein feierlich-erhabener Tonfall, der eine klare politische und humanistische Botschaft des unerschütterlichen Glaubens an die Kraft der Wahrheit formuliert.
Zeitoper, Musical und auch viele Operetten könnten als „Anti“-Opern gelten, da sie die Vorherrschaft des Mythos destruieren, mit dem die Oper seit ihren Anfängen im 17. Jahrhundert untrennbar verbunden ist und die in Wagners Musikdramen ihren (vorläufigen) Höhepunkt gefunden hat. Eine solche Gegenbewegung zeigte sich bereits in der Fülle zeitkritischer Stoffe im Umkreis der Französischen Revolution. Daraus gingen mit Mozarts LE NOZZE DI FIGARO und Beethovens FIDELIO zwei der berühmtesten Werke der Operngeschichte hervor, denen in der Grand Opéra des 19. Jahrhunderts historische Sujets als getarnte Anspielungen auf die politische Situation der Gegenwart folgten, wenn man an Meyerbeers LES HUGUENOTS denkt. NIXON IN CHINA knüpft auch daran an, nun aber als spektakulärer Versuch, Aktualität und Mythos zusammenzubringen oder sogar -zwingen. Spektakulär ist bereits die Entscheidung, reale (und zum Zeitpunkt der Premiere der Oper mit Ausnahme Mao Tse-tungs und seiner Frau Chiang Ch’ing noch lebende) Personen des öffentlichen Lebens zu Bühnenfiguren zu machen. Die Wahl des 1987 bereits historischen Treffens Nixons mit Tse-tung bringt Weltgeschichte auf die Bühne und damit unweigerlich die mit beiden Großmächten assoziierten Mythen. Goodman und Adams relativieren die welt- und heroengeschichtliche Dimension aber, indem sie sich auf die vier Haupt-Akteure, die Paare Nixon und Tse-tung-Ch’ing, konzentrieren: Das Publikum kann nicht sicher sein, ob es Vertreter konkurrierender politischer Systeme oder Personen aus Fleisch und Blut vor sich hat. Diese Ambivalenz ist für das Funktionieren der Oper essentiell und wird von Adams und Goodman vielleicht am eindrucksvollsten an der Figur von Chou En-lai gezeigt, dem das Schlusswort der Oper überlassen wird. Unterkomplex und reduziert auf eine teils groteske, teils dämonische Buffo-Rolle erscheint dagegen das Porträt Henry Kissingers; als NIXON IN CHINA 2011 in der Metropolitan Opera gezeigt wurde, soll er seine Weigerung, eine Aufführung zu besuchen, mit den Worten begründet haben, dass sein Sinn für Humor hier an eine Grenze gestoßen sei.
Spiel und Wirklichkeit
Im Zentrum der Oper steht daher ein „Spiel im Spiel“, für das André Gide 1893 den Begriff des mis en abyme geprägt hat, um die Künstlichkeit der Bühnensituation zu benennen, deren Aufhebung wenig später das epische und surreale Theater in Angriff nehmen sollten. Als Teil der Handlung ist eine – in der Houstoner Premiere von Mark Morris choreographierte – Ballett-Aufführung zu erleben, die zu Ehren des Ehepaars Nixon gegeben wird. Sie droht, außer Kontrolle zu geraten, als Pat Nixon Spiel und Wirklichkeit verwechselt und ihren Mann auffordert, die als Gefangene gehaltene und misshandelte weibliche Ballerina-Heroine vor einem Schergen zu retten, der dem ebenfalls mitreisenden Außenminister Kissinger aus dem Gesicht geschnitten erscheint. Dieses Ballett bezieht sich auf ein reales Werk, die 1964 im Kollektiv entstandene Ballett-Oper DAS ROTE FRAUENBATAILLON, eine der acht von Chiang Ch’ing ausgewählten Modell-Opern, die das politische und ästhetische Ideal der Kulturrevolution repräsentieren sollten. Adams verweigert hier eine nachahmende, komplizenhafte Musik und konfrontiert stattdessen die reale Angst Pat Nixons mit der gespielten Brutalität der Binnen-Handlung. Zeitlich ungefähr in der Mitte der Oper stehend, ist diese Verschränkung zweier Handlungsebenen der dramatische und klangliche Höhepunkt der Oper. Er demonstriert auch exemplarisch Adams‘ Verfahren, Überlagerungen aller Art – harmonischer, rhythmischer und klanglich-instrumentaler Natur – unerschöpflich erfindungsreich einzusetzen. Daraus ergeben sich dichte Texturen, die auf verschiedenen Ebenen mit überraschenden „Ver-Rückungen“ und Störungen durchsetzt sind und darin die von Alice Goodman so kunstvoll in ihrem Libretto realisierte Absurdität des Geschehens widerspiegelt. Der rein instrumentale Beginn der Oper, der von einer aufsteigenden Kirchenton-Skala auf dem Ton A aus ausgeht und dann harmonisch wie rhythmisch Stillstand und Bewegung synthetisiert, braucht hinsichtlich seiner konstruktiven Raffinesse und klanglichen Suggestionskraft den Vergleich mit dem RHEINGOLD-Vorspiel nicht zu scheuen. Diametral entgegengesetzt ist der Schluss der Oper mit seinen ätherisch aufsteigenden Streicherskalen, die in ein klangliches Niemandsland führen und eine (kaum hörbare) Es-Dur-Sphäre als Schlussklang andeuten. Diese schwebend-melancholische Stimmung greift Pat Nixons Arie „This is prophetic“ aus dem zweiten Akt auf, die mit einem korrespondierenden es-Moll-Klang einsetzt und zum emotionalen Zentrum der Oper wird. Adams‘ symbolischer und höchst differenzierter Gebrauch der Tonalität bewegt sich in einer Tradition, die von Wagner über Bartók, Berg oder Britten in die Postmoderne führt.
Erwartung und Enttäuschung
NIXON IN CHINA erfüllt alle Erwartungen an eine traditionelle Oper und enttäuscht sie im selben Moment wieder. Der Musikwissenschaftler David Schwarz wies darauf hin, dass sich zwar alle klassischen Zutaten wie Arien, Duette, Ensembles, Chöre, instrumentale Zwischenspiele und sogar gelegentliche Tonmalerei identifizieren lassen, die Musik aber in dem unvorhersehbaren Wechsel von Stimmungen und Techniken kein eigentliches Ziel habe. Manchmal gebärdet sich das Orchester mit dunklen Farben wie in Wagners Musikdramen raunend und „wissend“, dann wieder aufgrund der Verwendung eines Saxophon-Quartetts und Keyboards naiv und frech. Der erste Akt besteht aus drei, der zweite aus zwei Szenen, der letzte nur noch aus einer Szene. Die Fokussierung ermöglicht Adams, sich ausgiebig der Gestaltung von Ensemble-Sätzen zu widmen. Stehen also doch die Protagonisten im Zentrum und zeigt uns die Musik, dass wir es auch hier immer mit Menschen zu tun haben, so fehlbar und monströs, so kleinbürgerlich und größenwahnsinnig sie auch auftreten mögen? Die stilistische Hybridität von NIXON IN CHINA, also die Fusionierung des Minimalismus mit dem Musical, der Operette, der Hollywood-Filmmusik in Verbindung mit freimütigen Anleihen aus der europäischen Operngeschichte, steht einer solchen individual-psychologischen Deutung jedoch ebenso entgegen wie die Weigerung, über die von ihr dargestellten politischen Geschehnisse und Akteure ein Urteil zu fällen. Dass die Schöpfer von NIXON IN CHINA diese Widersprüche weder auflösen konnten noch wollten, macht die Faszination dieser Oper ebenso aus wie ihr Appell, sich immer wieder kritisch mit ihr auseinanderzusetzen.