Die Tischlerei geht baden - Deutsche Oper Berlin
Die Tischlerei geht baden
Schwimmsachen erwünscht. Im Stadtbad Charlottenburg erwartet uns ein Abend mit elektronischer Musik, Zirkus-Artistik, Live Visuals und Operngesang. Der Name ist Programm: IMMERSION
Vor einer halben Stunde haben die letzten Badegäste das Wasser verlassen, jetzt liegt die Schwimmhalle komplett im Dunkeln. Es ist schon weit nach 22 Uhr, auch durch das giebelförmige Glasdach über den gewaltigen Stahlträgern der Deckenkonstruktion fällt kein Schein mehr. Dafür flammt jetzt auf der gekachelten Wand, die den Beckenbereich von den Damenumkleiden trennt, ein mysteriöses Lichtspiel auf. Erst tritt das gitterartige Muster der Kacheln leuchtend hervor und zerfließt, dann beginnen organische Strukturen über die Wände zu wuchern, die wie Blitze aus Gewebe aussehen und von der Wasseroberfläche zurückgespiegelt werden. Eine gespenstische und zugleich in den Bann ziehende Szenerie.

»Okay, wir müssen den Beamer neu ausrichten«, unterbricht Phil Hagen Jungschlaeger die Probe. Er ist Creative Coder, einer, der Live-Video-Kunst am Rechner zaubert. An diesem Abend hat er die Gelegenheit, einige vorproduzierte Visuals in der historischen Halle des Stadtbads Charlottenburg auszuprobieren – dem wohl ungewöhnlichsten Spielort, den die Deutsche Oper Berlin bislang hatte. In dem 1898 eröffneten Jugendstilbau – Berlins ältestem Schwimmbad – wird die Premiere der Tischlerei-Produktion IMMERSION stattfinden: Künstlerisch ein Experiment, das Artistinnen, Musiker, Sängerinnen und Sänger, DJ, Choreograf und Creative Coder zusammenführt. Logistisch ein Wagnis, das in jeder Hinsicht Neuland bedeutet, auch für die Technik der Tischlerei, die das Equipment für diese besondere Produktion stellt.
Weil die Tischlerei eine neue Lüftung bekommt, mussten sich deren Leiterin Carolin Müller-Dohle und die Regisseurin von IMMERSION, Ariane Kareev, nach einer Alternative umschauen. Das Stadtbad Charlottenburg lag buchstäblich nahe. Es befindet sich nur einen Steinwurf von der Deutschen Oper Berlin entfernt. Und das Element Wasser passt bestens zu einer Inszenierung, die sich mit Ritualen und der Suche nach Gemeinschaft auseinandersetzen wird. IMMERSION entsteht in der Reihe »Hinterhalt«, mit der die Tischlerei Motive und Themen aus dem Opern-Repertoire des großen Hauses aufgreift und in neue Musik und neue Ästhetiken überführt.
»Unser Ausgangspunkt sind die Hexen und Geisterwesen, die in MACBETH, DIE FRAU OHNE SCHATTEN und auch LA FIAMMA eine zentrale Rolle spielen«, erzählt Regisseurin Kareev. »Mich interessieren die Zuschreibungen, denen diese Frauenfiguren ausgesetzt sind – und wie wir schlaglichtartig neue Assoziationsräume für sie schaffen können.« Überhaupt ist IMMERSION gegen das tradierte Hexen-Bashing gerichtet, das sich bis heute in Begriffen wie »Hexenjagd« manifestiert. Es wird die Figur einer »Oberhexe« geben, die das Publikum »auf eine gemeinsame Reise und Suche mitnimmt: nach Selbstbestimmung, Empowerment, Hoheit über die eigene Identität und freier Wahl in der Liebe«, so Kareev.
Dabei werden sich das Publikum und die Künstlerinnen und Künstler so nahe kommen wie sonst fast nie während einer Aufführung. Die Vorstellungen sind für 70 Zuschauerinnen und Zuschauer ausgelegt – 50 von ihnen gehen mit den Performerinnen ins Wasser, 20 weitere finden auf der schmalen Umrandung des 25-Meter-Beckens Platz. Voraussichtlich ist von allen gleichermaßen Badekleidung verlangt – schließlich soll keine Zweiklassengesellschaft entstehen.
Und was tragen Hexen heute? Ebenfalls enge Kleidung, »das geht ja im Schwimmbad auch nicht anders«, so die Ausstatterin der Produktion, Petra Schnakenberg. Mit Verruchtheit spielen ihre Kostüme, erzählt sie, »ich versuche, starke Bilder zu erzeugen«. Bei einer der Anproben kam beispielsweise ein Jahrhundertwendekleid ins Spiel, das sie zu brav fand – »ich stelle mir da eher eine Mischung aus Jean Paul Gaultier, Madonna und Vivienne Westwood vor«, ein Gothic-artiges Dress mit aufwendig verzierter Brustpartie. Ein weiteres Leitmotiv in ihrem Kostümbild sind Fransen, die unter anderem Körperbehaarung oder Milchfluss symbolisieren: »Um das Schambehaftete herauszustellen und zu stilisieren.«
Das steht im Kontext der feministischen Lesart von Hexen als unangepassten, wilden, naturverbundenen Frauen, die zudem als Heilerinnen und Hebammen über ein ganz eigenes Wissen in Fragen von Geburt, Verhütung oder Abtreibung verfügten. Ein Motiv, das auch Creative Coder Phil Jungschlaeger aufgreift. Sein visuelles Konzept verwandelt das Schwimmbecken durch das Spiel mit Reflexionen so, »dass es auch als Fruchtwasser gesehen werden kann«. Die organischen Strukturen, die er bei der Abendprobe auf die Kacheln projiziert, sind vom Inneren einer Gebärmutter inspiriert. Der Künstler lässt Innen- und Außenwelt zu einem Kosmos zusammenfließen, in den das Publikum mit aller Fantasie eintauchen kann.

Als Bühne im eigentlichen Sinne bietet ein Schwimmbad hingegen wenig Spielraum. Vorgesehen ist lediglich ein zwei Mal zwei Meter großes Podest im Wasser, dazu wird die Empore des historischen Hallenbads bespielt, auf die man vom Treppenhaus nur durch eine schmale Luke gelangt. Durch die muss auch die gesamte Technik transportiert werden – Scheinwerfer, Stative, Beamer. Wobei zunächst fraglich war, ob Technik überhaupt zum Einsatz kommen kann – die meisten Geräte vertragen keine hohe Luftfeuchtigkeit. IMMERSION bleibt ein Projekt der Herausforderungen. Das beginnt bei der Disposition der Proben: »Ein Schwimmbad darf als öffentliche Einrichtung nicht extra für uns schließen, sondern muss fast durchgehend Publikumsverkehr gewährleisten«, erklärt die künstlerische Leiterin der Tischlerei, Carolin Müller-Dohle. Weswegen die Proben zum Teil frühmorgens oder spätabends nach Badeschluss stattfinden müssen.
Mit einer anderen Besonderheit des Spielorts ist Lasse Winkler konfrontiert, der als DJ aus der Berliner Club- und Theaterszene zu dem Projekt gestoßen ist: »Der Sound schwimmt in der Halle förmlich weg«, lacht er. Er wird deswegen viel mit flächigem Klang arbeiten, »Ambient-mäßig – und wenn Beats zum Einsatz kommen, dann konsequent entschlackt, auch mal in voller Härte.« Winkler wird seine Musik unter anderem mit Passagen aus Opern verbinden, die als Inspiration für IMMERSION dienen, also DIE FRAU OHNE SCHATTEN, LA FIAMMA und MACBETH.
Diese Elemente wird er so auf bereiten, dass wiederum die beteiligten Musikerinnen und Musiker der Deutschen Oper Berlin live dazu spielen können. Bei allen Beteiligten ist die enorme Lust auf dieses ungewöhnliche Projekt spürbar. »Dieses Gesamterlebnis aus klassischer Musik, Elektronik, Artistik, Video und Operngesang kann an diesem Ort etwas wirklich Besonderes werden«, ist Carolin Müller-Dohle überzeugt. Regisseurin Ariane Kareev (die mit EMERSION auch noch einen zweiten Teil in Zusammenarbeit mit demselben Kreativteam inszenieren wird, dann allerdings in der Tischlerei), begeistert generell die Offenheit des »Hinterhalt«-Formats: »Weil es zu freien Auseinandersetzungen einlädt und neue Denkanstöße sucht.«
Das Neue, die nächste Generation, tritt bei Kareev auch in Gestalt eines Mädchens auf, das zum Beispiel die jüngere Version der Lady Macbeth sein könnte. Oder der kinderlosen Kaiserin aus DIE FRAU OHNE SCHATTEN. »Sie verkörpert das Vorwärtsgewandte«, beschreibt die Regisseurin. Und damit verbunden die Frage: »Wie wollen wir in Zukunft zusammenleben?«

Patrick Wildermann arbeitet als freier Kulturjournalist in Berlin unter anderem für den Tagesspiegel, GALORE Magazin und das Goethe-Institut