Ein mythisches Spiel um »sehnender Liebe sehrende Noth« - Deutsche Oper Berlin

Aus dem Programmheft

Ein mythisches Spiel um »sehnender Liebe sehrende Noth«

Bemerkungen zu Stefan Herheims Neuinszenierung von Alexander Meier-Dörzenbach

 

I. Flucht und Spiel
 

Wörter öffnen Türen zu kulturellen Gedankengebäuden – das Deutsche kennt zwar den »Bürger«, unterscheidet aber nicht wie das Französische zwischen »bourgeois« und »citoyen«. Rousseau hat zwischen dem besitzenden Wirtschaftsbürger, dem es um seinen Wohlstand und seine Autonomie geht, und dem Staatsbürger, der sich eigenverantwortlich mitgestaltend für das Gemeinwohl einsetzt, sprachlich genau damit differenziert. Vielleicht lässt sich das Scheitern der deutschen Revolutionen im 19. Jahrhundert auch auf diese verbale Leerstelle zurückführen.

In seiner exakten Lebensmitte hat sich der 35jährige Richard Wagner, damals Dresdner Hofkapellmeister, mit Reden und Schriften aktiv an der Revolution 1848 beteiligt. Aus diesem Jahr stammt der erste Entwurf für seine Bearbeitung des Nibelungenstoffes um den Helden Siegfried. Der Leiter des Hoftheaters, Eduard Devrient, notiert in seinem Tagebuch am 21. Oktober 1848: »Kapellmeister Wagner brachte mir einen Opernentwurf, hatte wieder große sozialistische Rosinen im Kopf. Jetzt ist ihm ein einiges Deutschland nicht mehr genug, jetzt geht’s aufs einige Europa, auf die einheitliche Menschheit los.« Die »einheitliche Menschheit«, das allen gemeinsame Menschsein, der aus allen nationalen und gesellschaftlichen Strukturen befreite, vielmehr geflohene Mensch steht im Zentrum dieses RING DES NIBELUNGEN.

Als verfolgter Revolutionär flüchtet Wagner 1849 ins Zürcher Exil und vergrößert sein Siegfried-Projekt um eine mythische Vorgeschichte zu einer Tetralogie. Während das Nibelungenlied als mittelalterliches Heldenepos eigentlich eine christliche Gesellschaft thematisiert, erweitert Wagner das Drama um eine Mythologie, die Motive aus der skandinavischen Edda und der Völsunga-Saga zu einem Handlungskonstrukt verbindet. Als DER RING DES NIBELUNGEN 1876 im Bayreuther Festspielhaus uraufgeführt wurde, ist aus dem exilierten Revolutionsflüchtling Richard Wagner längst der besitzende Großbürger und verehrte Meister geworden. Die über ein Vierteljahrhundert dauernde Entstehungsgeschichte des RINGS hat ideologische und kompositorische, philosophische und musiktheatrale Wachstumsspuren im Werk hinterlassen: Der Walkürenritt wurde beispielsweise bereits im Sommer 1850 komponiert und muss daher auch im Kontext von Wagners Auseinandersetzung mit Meyerbeer gesehen werden, dessen LE PROPHETE er damals in Paris gesehen und aufgrund der sensationellen Verwendung einer elektrischen Sonne, »die rein sinnliche Wirkung … für das Auge« ausführlich als »Wirkung ohne Ursache« kritisiert hat. Dabei ist im Walkürenritt das teichoskopische Geschehen um Sintolt, den Hegeling, der Helmwige im Sattel hängt, und Wittig, den Irming, den Ortlindes Mähre trägt, nicht gerade ursächlich motiviert, sondern lebt von der musikalischen Wirkung der durch Wörter effektvoll stampfenden Musik. Der Komponist definiert seine Werke als »ersichtlich gewordene Taten der Musik« und jener Verbindung der Ohren und Augen in der ersichtlich gewordenen Musik-Tat soll im versinnbildlichten Spiel nachgespürt werden.

Wagners Biografie weist eine unglaubliche Flucht-, Exil- und Reisetätigkeit auf: 16 Länder und fast 200 Städte; man fühlt sich an Wotans aus der Verzweiflung geborenen Auftritt in SIEGFRIED erinnert, als er Mime wissen lässt, »›Wandrer‹ heißt mich die Welt«. Wotan ist dabei tatsächlich nur einer von vielen Kultur-Flüchtigen, Suchenden, Reisenden und Fliehenden innerhalb der Tetralogie. Allein in der WALKÜRE sehen wir Siegmund zunächst allein, dann mit Sieglinde fliehen, wir erleben Brünnhildes Flucht mit der Wälsungen-Tochter und Sieglindes alleiniges Flüchten; selbst Wotan, der Frau und Geliebter entfleucht ist, will allem entfliehen und fordert in der Mitte der Oper »das Ende!«

György Lukács sprach Anfang des 20. Jahrhunderts von der »transzendentalen Obdachlosigkeit« des Bürgertums, und diese hat sich bis heute zu einem metaphysischen Flüchtlingszustand ausgeweitet. Wir tragen Segmente unserer kollektiven Geschichte und individuellen Geschichtchen mit uns herum und suchen eine neue, mythische Heimat. Und das immer wieder im Spiel der Kunst und in der Kunst des Spiels. Dieses Spiel um eine mythische Wirklichkeit, um einen wirklichen Mythos wird in der Erkenntnis betrieben: »der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt«, wie Friedrich Schiller in seiner Ästhetischen Erziehung des Menschen bereits Ende des 18. Jahrhunderts formuliert hat.

Dieser Mensch wird gerade in der WALKÜRE mit doppeltem Blick auf Mann und Frau gesehen: die gewaltsame Verschleppung und Verheiratung von Sieglinde mit Hunding, die freie, inzestuöse Liebe der Wälsungen-Geschwister, der manipulationsreiche Ehestreit von Wotan und Fricka, die intendierte Bestrafung Brünnhildes als weibliches Freiwild männlicher Lust, der Abschied des göttlichen Vaters von seinem Willen als geliebter Tochter… Es geht vielfach um die Beziehung zwischen den Geschlechtern und dem Geschlecht. Mehr noch: Liebesopfer bilden die zentrale Wurzel des Werkes, doch schon mit diesem Begriff kehren wir zum Ausgangsproblem zurück: Wörter öffnen Türen zu kulturellen Gedankengebäuden und allein das nominelle Festnageln von musikalischen Motiven verhindert deren sinnlichen Freiflug.

Die RING-Tetralogie schließt nach Hagens Ruf »Zurück vom Ring!« ganz am Ende der GÖTTERDÄMMERUNG wortlos orchestral mit 50 Takten, die das Walhall-, das Rheintöchter- und ein weiteres Motiv ineinander weben. Oft wird das letzte Motiv als »Erlösungsmotiv« apostrophiert, dabei weist es weit über diesen Wortkäfig hinaus und tief in die WALKÜRE hinein.

In der GÖTTERDÄMMERUNG taucht es bereits verschlungen mit dem »Siegfried-Motiv« in Brünnhildes Schlussgesang auf, doch stammt dieser »melodische Moment«, wie Wagner selbst seine Leitmotive nannte, aus dem dritten Aufzug der WALKÜRE, als Brünnhilde der lebensmüden Sieglinde auf der Flucht mitteilt, dass sie von ihrem Bruder Siegmund schwanger sei und »den hehrsten Helden der Welt« in sich trage, der Siegfried heißen möge. Diese Nachricht ob neuen Lebens ist für Sieglinde »heiliger Trost«. Wenn also überhaupt von »Erlösung« die Rede sein kann, dann nur im Sinne einer aufopfernden Liebe für neues Leben; erlöst wird von einer Hoffnungslosigkeit oder anders gesagt: Das Motiv könnte man als »liebeslebendige Hoffnung« fassen. In diesem Sinne wird das Motiv auch in Brünnhildes Schlussgesang genutzt, wenn sie die Verbindung mit dem geliebten Siegfried antizipiert:

Fühl’ meine Brust auch,
wie sie entbrennt;
helles Feuer
das Herz mir erfasst;
ihn zu umschlingen,
umschlossen von ihm,
in mächtigster Minne
vermählt ihm zu sein!

Die hoffende Liebe, die Sehnsucht nach liebender Vereinigung, die aufopfernde Aktion einer Frau – diese Worte rahmen sprachlich das Motiv. Wenn im orchestralen Finale der GÖTTERDÄMMERUNG nun das prächtige Walhall-Motiv mit dem rauschenden Rheintöchter-Motiv verschränkt wird und sich darüber just dieses Motiv erhebt, dann werden wir akustisch mit einer neuen Hoffnung schwanger wie Sieglinde in der WALKÜRE. Das »hehrste Wunder« ist die Liebes- und Lebenshoffnung; der »heilige Trost« in einer aus den Fugen geratenen, zerstörten Welt, den vielleicht überhaupt nur noch die Kunst erahnbar werden lassen kann. In seiner »Mittheilung an meine Freunde« schreibt Wagner bereits 1851: »Es ist die Nothwendigkeit der Liebe, und das Wesen dieser Liebe ist in seiner wahresten Äußerung Verlangen nach voller sinnlicher Wirklichkeit, nach dem Genusse eines mit allen Sinnen zu fassenden, mit aller Kraft des wirklichen Seins fest und innig zu umschließenden Gegenstandes. Muß in dieser endlichen, sinnlich gewissen Umarmung der Gott nicht vergehen und entschwinden? Ist der Mensch, der nach dem Gotte sich sehnte, nicht verneint, vernichtet? Ist die Liebe in ihrem wahresten und höchsten Wesen somit nicht aber offenbar geworden?«

Schon im ersten Aufzug der WALKÜRE gesteht Siegmund: »sehnender Liebe sehrende Not / brennt mir hell in der Brust, / drängt zu Tat und Tod«. Diesem hymnischen Gesang an »heiligster Minne, höchste Not« wird das bereits aus RHEINGOLD vertraute Liebesverzicht-Motiv unterlegt und Siegmund kündigt so eine Liebestat und den Tod an. Im Rausch der Entsagung entsteht etwas Neues – ein gewaltsamer Abschied. War es im RHEINGOLD bei Alberich die Verfluchung der Liebe für alle Macht der Welt, so ist es beim Zwillingspaar Siegmund und Sieglinde das Auflösen aller gesellschaftlich-moralischer Normen, um zu lieben. Eine Entscheidung, die im Verlauf der Handlung mehrfach mit dem Leben bezahlt wird. Ist das Entsagungs-Motiv hier also als Warnung eingesetzt? Passiert etwas Ungeheuerliches in diesem Moment? Wenn der neidliche Stahl »Nothung« seiner »Schärfe schneidenden Zahn« zeigt, so geschieht das nicht nur metaphorisch um ein Menschenopfer – dem Drängen zu Tat und Tod wird wie in der griechischen Tragödie nachgegeben.

>> II. Macht und Nichts  >> III. Bayreuth und Berlin

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