Ein mythisches Spiel um »sehnender Liebe sehrende Noth« - Deutsche Oper Berlin
Aus dem Programmheft
Ein mythisches Spiel um »sehnender Liebe sehrende Noth«
Bemerkungen zu Stefan Herheims Neuinszenierung von Alexander Meier-Dörzenbach
I. Flucht und Spiel
Wörter öffnen Türen zu kulturellen Gedankengebäuden – das Deutsche kennt zwar den »Bürger«, unterscheidet aber nicht wie das Französische zwischen »bourgeois« und »citoyen«. Rousseau hat zwischen dem besitzenden Wirtschaftsbürger, dem es um seinen Wohlstand und seine Autonomie geht, und dem Staatsbürger, der sich eigenverantwortlich mitgestaltend für das Gemeinwohl einsetzt, sprachlich genau damit differenziert. Vielleicht lässt sich das Scheitern der deutschen Revolutionen im 19. Jahrhundert auch auf diese verbale Leerstelle zurückführen.
In seiner exakten Lebensmitte hat sich der 35jährige Richard Wagner, damals Dresdner Hofkapellmeister, mit Reden und Schriften aktiv an der Revolution 1848 beteiligt. Aus diesem Jahr stammt der erste Entwurf für seine Bearbeitung des Nibelungenstoffes um den Helden Siegfried. Der Leiter des Hoftheaters, Eduard Devrient, notiert in seinem Tagebuch am 21. Oktober 1848: »Kapellmeister Wagner brachte mir einen Opernentwurf, hatte wieder große sozialistische Rosinen im Kopf. Jetzt ist ihm ein einiges Deutschland nicht mehr genug, jetzt geht’s aufs einige Europa, auf die einheitliche Menschheit los.« Die »einheitliche Menschheit«, das allen gemeinsame Menschsein, der aus allen nationalen und gesellschaftlichen Strukturen befreite, vielmehr geflohene Mensch steht im Zentrum dieses RING DES NIBELUNGEN.
Als verfolgter Revolutionär flüchtet Wagner 1849 ins Zürcher Exil und vergrößert sein Siegfried-Projekt um eine mythische Vorgeschichte zu einer Tetralogie. Während das Nibelungenlied als mittelalterliches Heldenepos eigentlich eine christliche Gesellschaft thematisiert, erweitert Wagner das Drama um eine Mythologie, die Motive aus der skandinavischen Edda und der Völsunga-Saga zu einem Handlungskonstrukt verbindet. Als DER RING DES NIBELUNGEN 1876 im Bayreuther Festspielhaus uraufgeführt wurde, ist aus dem exilierten Revolutionsflüchtling Richard Wagner längst der besitzende Großbürger und verehrte Meister geworden. Die über ein Vierteljahrhundert dauernde Entstehungsgeschichte des RINGS hat ideologische und kompositorische, philosophische und musiktheatrale Wachstumsspuren im Werk hinterlassen: Der Walkürenritt wurde beispielsweise bereits im Sommer 1850 komponiert und muss daher auch im Kontext von Wagners Auseinandersetzung mit Meyerbeer gesehen werden, dessen LE PROPHETE er damals in Paris gesehen und aufgrund der sensationellen Verwendung einer elektrischen Sonne, »die rein sinnliche Wirkung … für das Auge« ausführlich als »Wirkung ohne Ursache« kritisiert hat. Dabei ist im Walkürenritt das teichoskopische Geschehen um Sintolt, den Hegeling, der Helmwige im Sattel hängt, und Wittig, den Irming, den Ortlindes Mähre trägt, nicht gerade ursächlich motiviert, sondern lebt von der musikalischen Wirkung der durch Wörter effektvoll stampfenden Musik. Der Komponist definiert seine Werke als »ersichtlich gewordene Taten der Musik« und jener Verbindung der Ohren und Augen in der ersichtlich gewordenen Musik-Tat soll im versinnbildlichten Spiel nachgespürt werden.
Wagners Biografie weist eine unglaubliche Flucht-, Exil- und Reisetätigkeit auf: 16 Länder und fast 200 Städte; man fühlt sich an Wotans aus der Verzweiflung geborenen Auftritt in SIEGFRIED erinnert, als er Mime wissen lässt, »›Wandrer‹ heißt mich die Welt«. Wotan ist dabei tatsächlich nur einer von vielen Kultur-Flüchtigen, Suchenden, Reisenden und Fliehenden innerhalb der Tetralogie. Allein in der WALKÜRE sehen wir Siegmund zunächst allein, dann mit Sieglinde fliehen, wir erleben Brünnhildes Flucht mit der Wälsungen-Tochter und Sieglindes alleiniges Flüchten; selbst Wotan, der Frau und Geliebter entfleucht ist, will allem entfliehen und fordert in der Mitte der Oper »das Ende!«
György Lukács sprach Anfang des 20. Jahrhunderts von der »transzendentalen Obdachlosigkeit« des Bürgertums, und diese hat sich bis heute zu einem metaphysischen Flüchtlingszustand ausgeweitet. Wir tragen Segmente unserer kollektiven Geschichte und individuellen Geschichtchen mit uns herum und suchen eine neue, mythische Heimat. Und das immer wieder im Spiel der Kunst und in der Kunst des Spiels. Dieses Spiel um eine mythische Wirklichkeit, um einen wirklichen Mythos wird in der Erkenntnis betrieben: »der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt«, wie Friedrich Schiller in seiner Ästhetischen Erziehung des Menschen bereits Ende des 18. Jahrhunderts formuliert hat.
Dieser Mensch wird gerade in der WALKÜRE mit doppeltem Blick auf Mann und Frau gesehen: die gewaltsame Verschleppung und Verheiratung von Sieglinde mit Hunding, die freie, inzestuöse Liebe der Wälsungen-Geschwister, der manipulationsreiche Ehestreit von Wotan und Fricka, die intendierte Bestrafung Brünnhildes als weibliches Freiwild männlicher Lust, der Abschied des göttlichen Vaters von seinem Willen als geliebter Tochter… Es geht vielfach um die Beziehung zwischen den Geschlechtern und dem Geschlecht. Mehr noch: Liebesopfer bilden die zentrale Wurzel des Werkes, doch schon mit diesem Begriff kehren wir zum Ausgangsproblem zurück: Wörter öffnen Türen zu kulturellen Gedankengebäuden und allein das nominelle Festnageln von musikalischen Motiven verhindert deren sinnlichen Freiflug.
Die RING-Tetralogie schließt nach Hagens Ruf »Zurück vom Ring!« ganz am Ende der GÖTTERDÄMMERUNG wortlos orchestral mit 50 Takten, die das Walhall-, das Rheintöchter- und ein weiteres Motiv ineinander weben. Oft wird das letzte Motiv als »Erlösungsmotiv« apostrophiert, dabei weist es weit über diesen Wortkäfig hinaus und tief in die WALKÜRE hinein.
In der GÖTTERDÄMMERUNG taucht es bereits verschlungen mit dem »Siegfried-Motiv« in Brünnhildes Schlussgesang auf, doch stammt dieser »melodische Moment«, wie Wagner selbst seine Leitmotive nannte, aus dem dritten Aufzug der WALKÜRE, als Brünnhilde der lebensmüden Sieglinde auf der Flucht mitteilt, dass sie von ihrem Bruder Siegmund schwanger sei und »den hehrsten Helden der Welt« in sich trage, der Siegfried heißen möge. Diese Nachricht ob neuen Lebens ist für Sieglinde »heiliger Trost«. Wenn also überhaupt von »Erlösung« die Rede sein kann, dann nur im Sinne einer aufopfernden Liebe für neues Leben; erlöst wird von einer Hoffnungslosigkeit oder anders gesagt: Das Motiv könnte man als »liebeslebendige Hoffnung« fassen. In diesem Sinne wird das Motiv auch in Brünnhildes Schlussgesang genutzt, wenn sie die Verbindung mit dem geliebten Siegfried antizipiert:
Fühl’ meine Brust auch,
wie sie entbrennt;
helles Feuer
das Herz mir erfasst;
ihn zu umschlingen,
umschlossen von ihm,
in mächtigster Minne
vermählt ihm zu sein!
Die hoffende Liebe, die Sehnsucht nach liebender Vereinigung, die aufopfernde Aktion einer Frau – diese Worte rahmen sprachlich das Motiv. Wenn im orchestralen Finale der GÖTTERDÄMMERUNG nun das prächtige Walhall-Motiv mit dem rauschenden Rheintöchter-Motiv verschränkt wird und sich darüber just dieses Motiv erhebt, dann werden wir akustisch mit einer neuen Hoffnung schwanger wie Sieglinde in der WALKÜRE. Das »hehrste Wunder« ist die Liebes- und Lebenshoffnung; der »heilige Trost« in einer aus den Fugen geratenen, zerstörten Welt, den vielleicht überhaupt nur noch die Kunst erahnbar werden lassen kann. In seiner »Mittheilung an meine Freunde« schreibt Wagner bereits 1851: »Es ist die Nothwendigkeit der Liebe, und das Wesen dieser Liebe ist in seiner wahresten Äußerung Verlangen nach voller sinnlicher Wirklichkeit, nach dem Genusse eines mit allen Sinnen zu fassenden, mit aller Kraft des wirklichen Seins fest und innig zu umschließenden Gegenstandes. Muß in dieser endlichen, sinnlich gewissen Umarmung der Gott nicht vergehen und entschwinden? Ist der Mensch, der nach dem Gotte sich sehnte, nicht verneint, vernichtet? Ist die Liebe in ihrem wahresten und höchsten Wesen somit nicht aber offenbar geworden?«
Schon im ersten Aufzug der WALKÜRE gesteht Siegmund: »sehnender Liebe sehrende Not / brennt mir hell in der Brust, / drängt zu Tat und Tod«. Diesem hymnischen Gesang an »heiligster Minne, höchste Not« wird das bereits aus RHEINGOLD vertraute Liebesverzicht-Motiv unterlegt und Siegmund kündigt so eine Liebestat und den Tod an. Im Rausch der Entsagung entsteht etwas Neues – ein gewaltsamer Abschied. War es im RHEINGOLD bei Alberich die Verfluchung der Liebe für alle Macht der Welt, so ist es beim Zwillingspaar Siegmund und Sieglinde das Auflösen aller gesellschaftlich-moralischer Normen, um zu lieben. Eine Entscheidung, die im Verlauf der Handlung mehrfach mit dem Leben bezahlt wird. Ist das Entsagungs-Motiv hier also als Warnung eingesetzt? Passiert etwas Ungeheuerliches in diesem Moment? Wenn der neidliche Stahl »Nothung« seiner »Schärfe schneidenden Zahn« zeigt, so geschieht das nicht nur metaphorisch um ein Menschenopfer – dem Drängen zu Tat und Tod wird wie in der griechischen Tragödie nachgegeben.
II. Macht und Nichts
Wotan, »ein kühner Gott«, will durch Gesetze und Verträge herrschen, doch bricht er diese mehrfach selbst und verstrickt sich damit immer tiefer in eine Fessel aus Frevel und Schuld, da sich Liebe und Macht nicht vereinen lassen. In RHEINGOLD versucht er, die Riesen um ihren Lohn für die Erbauung der Götterburg zu betrügen. Dieser Lohn, die Göttin Freia, ist auf Kosten der Göttergemeinschaft bedungen, denn Freias Äpfel garantieren ja erst deren ewiges Leben. Hinzu kommt erneutes Unrecht mit dem Raub von Alberichs Ring, den der Nibelung nach Abschwören der Liebe aus dem Rheingold hat schmieden können, um damit die Herrschaft der Welt zu erlangen. Auch in der WALKÜRE wird die Vertragsbrüchigkeit offenbar: Wotan ist mit Fricka die Ehe eingegangen – ein Vertrag, den er mehrfach und fortlaufend bricht. Durch seine Seitensprünge sind sowohl die neun Walküren – Brünnhilde mit Erda – als auch Siegmund und Sieglinde – mit einer Menschenfrau – entsprungen. Der die göttliche Ordnung eigentlich wahren müsste, verteidigt das ehebrecherisch inzestuöse Verhältnis des Wälsungen-Zwillingpaares sogar gegenüber seiner Frau, die die Blutschande anklagt: »Wann ward es erlebt / dass leiblich Geschwister sich liebten?« Wotan antwortet geradezu jovial unbeschwert: »Heut’ hast du’s erlebt!« und seine Gelassenheit wird von dem Winterstürme-Motiv in den Celli umstreichelt; er will diese Liebe um ihrer selbst willen lachend segnen lassen. Doch es geht im Streit mit Fricka nicht nur um das »frevelnde Zwillingspaar« und göttliche Ordnung, sondern um die Beziehung der anklagenden und sich rechtfertigenden Ehegatten.
Fricka hat sich gewünscht, mit »wonnigem Hausrat« ihren göttlichen Gatten ans Heim zu binden, doch dieser will seine Macht vergrößern und sich »von außen gewinnen die Welt«. Er bringt es bereits in der zweiten RHEINGOLD-Szene auf den Punkt: »Wandel und Wechsel liebt, wer lebt; das Spiel drum kann ich nicht sparen!« In der WALKÜRE erklärt Wotan im Streit mit Fricka direkt: »Unheilig acht’ ich den Eid, der Unliebende eint«, einstweilen seine Formulierung des Wechsels von der Göttergattin aufgenommen wird, wenn sie ihm vorwirft, »wie des Wechsels Lust du gewännest«. Wagner schlägt sich auf Seite des Gottes, denn er sieht nicht den Ehevertragsbruch von Wotan in der Auseinandersetzung mit Fricka als zu sühnende Eidverletzung. Im Brief an August Röckel schreibt er 1854 vom »unwillkürlichen Irrthume der Liebe, über den nothwendigen Wechsel hinaus sich zu verlängern [...] bis zur gegenseitigen Qual der Lieblosigkeit. Der Fortgang des ganzen Gedichtes zeigt demnach die Nothwendigkeit, den Wechsel, die Mannigfaltigkeit, die Vielheit, die ewige Neuheit der Wirklichkeit und des Lebens anzuerkennen«. Das ist ästhetisch ein aufregendes Konzept: die Notwendigkeit, die sich stets erneuernde Vielfältigkeit der Realität und des Lebens zu akzeptieren. Das Streitgespräch der beiden Götter wird so vor einer wechselnden, mannigfaltigen, vielheitigen, ewig neuen Öffentlichkeit ausgetragen. Es geht darum, ein Spiel des Lebens über Regeln und Regelbruch zu kontrollieren; ein Spiel um Wirklichkeiten. Aber wer hat die Macht, dieses Spiel zu bestimmen?
Selbst Göttervater Wotan hat seine Macht auf Handlungsebene nicht rechtens erreicht: Wir erfahren im Vorspiel von GÖTTERDÄMMERUNG, dass Wotan einst einen Ast der Weltesche abgebrochen und sich daraus einen Speer als Herrschaftszeichen gefertigt hat, das als Garantiesymbol des Vertragsrechts für Ordnung sorgt, wie die zweite Norn erinnert:
Treu berath’ner
Verträge Runen
schnitt Wotan
in des Speeres Schaft:
den hielt er als Haft der Welt.
Wotan hat für diesen Ast einen hohen Preis entlohnt: »seiner Augen eines zahlt’ er als ewigen Zoll«, doch gleicht dieses leibliche Opfer keineswegs die gewaltsame Verletzung der Natur aus. Der Weisheit raunende Quell an der Wurzel versiegt traurig, die Weltesche verdorrt, wird gefällt und zu Scheiten um Walhall geschichtet. Schon diese Opfergabe, der ursprünglichste Tauschvertrag – Wotans Auge für der Weltesche Ast – ist gescheitert und niemals naturmythisch legitimiert. Die Gewalttat schlägt einen Riss zwischen neu gesetztem Recht und Naturrecht in alles Dasein; ein Sündenfall, der fortan vertuscht, vertraglich verdrängt, verschwiegen, verspielt werden soll und uns in bedrohlicher Aktualität ein Sinnbild unserer Welt bietet. Wenn der Göttervater den Streit mit Fricka verliert und offensichtlich seine argumentative Machtposition einbüßt, wird evident, dass er nie allmächtig die Kontrolle des Spiels innehatte – er resigniert:
Fahre denn hin, herrische Pracht,
göttlichen Prunkes prahlende Schmach!
Zusammenbreche, was ich gebaut!
Auf geb’ ich mein Werk; nur eines will ich noch:
das Ende,
das Ende!
Doch das Ende der Götterherrschaft, das Ende der Welt, das Ende des Spiels dämmert noch lange nicht… Ist also Wotans Fluchtversuch ins Ende vielmehr eine bewusste Wendung, um Brünnhilde als seinen Willen zu manipulieren? Was ist nun ein mythisches Spiel zwischen Anfang und Ende, zwischen Heimat und Flucht, zwischen Leben und Tod? Wer bewegt sich in ihm frei? Werden wir tatsächlich frei durch ein Spiel oder existiert dieses nicht vielmehr erst aufgrund von Regeln? Aber machen diese nicht unfrei, wie Wotan erkennt: »der durch Verträge ich Herr, den Verträgen bin ich nun Knecht«?
III. Bayreuth und Berlin
Wagner hat für sein Spiel nicht nur musiktheatral neue Verträge und Regeln aufgestellt, sondern auch gleich das Haus für sein großes Bühnenfestspiel gebaut: das Festspielhaus in Bayreuth. Er tituliert den dortigen Orchestergraben nicht nur poetisch als »mystischen Abgrund«, sondern auch nüchterner als »technischen Herd der Musik«; Glut, Hitze, Licht und Wärme kommen aus dem Orchestergraben. Die Verkleinerung dieses technischen Herdes der Musik ist für den Komponisten und die ausführenden Sänger das Klavier, aus dem alles entsteht. Es sei daran erinnert, dass 1856 im Zürcher Hotel Baur au Lac die einzige von Wagner gutgeheißene Teil-Vorstellung vor der Uraufführung des Zyklus 1876 just so gegeben wurde: Der erste Aufzug der WALKÜRE in konzertanter Form mit Klavier, das Franz Liszt spielte, der an diesem 22. Oktober seinen 45. Geburtstag feierte. Wagner sang Siegmund und Hunding, Emilie Heim die Sieglinde. Damit wurde die Komposition in die öffentliche Wahrnehmung gerückt; das Klavier, aus dem alles tönt, Welten entstehen und die Kunst für ein Publikum herausgespielt wird…
Es gehe für den Zuschauer des Bühnenfestspiels um »die ganze Wirklichkeit der sinnvollsten Täuschung einer edlen Kunst« – so Wagner. Diesen Anspruch von ganzer Wirklichkeit der sinnvollsten Täuschung einer edlen Kunst ist das ästhetische Manifest, das im Vorspiel und den drei Abenden der Tetralogie von allen Seiten betrachtet und immer wieder in Schwingung versetzt wird; Wirklichkeit, Täuschung und Kunst werden im Spiel ineinander gewoben.
Bei keinem anderen Künstler waren jemals so konzentriert alle künstlerischen Ideale und technischen Belange zusammengeführt wie bei der Uraufführung von Richard Wagners RING DES NIBELUNGEN 1876 in Bayreuth. Wagner hatte nicht nur das Libretto und die Musik selbst geschrieben, er hat eigens ein Theater für dieses Werk gebaut; er hat Ausstatter und Bühnenmeister ausgesucht, die Sänger besetzt und selbst Regie geführt. Das Kollektivereignis Oper bringt er in einem nie gekannten Maße allein aus sich hervor in Anspruch und Umsetzung. Er wollte mit übermenschlicher Anstrengung »Musteraufführungen« in Bayreuth herausbringen, doch gesteht Wagner dem Bayreuther Patronat ein Jahr nach der Ring-Uraufführung: »Mein Ideal ward mit den vorjährigen Aufführungen nicht erreicht.« Warum hat sich technisch die Erfahrung des Mythos’ nicht verwirklichen lassen, die künstlerisch konzipiert war?
Befragen wir Wagner, so erfahren wir, dass für ihn der Mythos ursprünglich aus der Anschauung der Natur entsteht – Sonnenlicht und Dunkelheit sind dabei die elementaren Erfahrungen. Der Mythos verdichte sich »von der Natur-Anschauung zur menschlich-sittlichen«. Der Naturraum ist Lebensgebiet des natürlichen Menschen im Mythos, während der Architekturraum den geschichtlichen Menschen umgibt. Das unterscheidet Wagners Drama maßgeblich von der großen historischen Oper und so sind die Schauplätze im RING fast ausschließlich Naturräume: Wasser, Bergeshöhen, Felsengebirge, Flusstäler, Höhlen, Wald. Wagner spricht bei dieser Natur von einem »lebenvollen, organischen Zusammenhang«, von einem »lebendigen Organismus«.
In der Umsetzung seiner eigenen gesamtkunstwerklichen Schöpfung unterliegt Wagner als Regisseur 1876 aber einem Missverständnis. In seinem unbedingten Bühnen-Realismus imitiert er nur die Natur. Er nähert sich eben nicht ihrem sinnhaften Wesen, er deckt nicht ihre dramaturgische Funktion auf, er begegnet szenisch nicht ihrer Idee als »lebendigem Organismus«. Mit den besten bühnentechnischen Mitteln auf einer Illusionsbühne glaubte Wagner, die perfekte Darstellung seines Mythos etablieren zu können, doch ist das Problem kein technisches, sondern ein künstlerisches; es sei nochmals an die Stelle im bereits zitierten Brief an Röckel erinnert, wo er von der »Nothwendigkeit, den Wechsel, die Mannigfaltigkeit, die Vielheit, die ewige Neuheit der Wirklichkeit und des Lebens anzuerkennen« spricht. Wagner wollte eigentlich mit seinem Mythos eine Alternative zum Historismus der Zeit anbieten, doch blieb es mattes Abbild einer einst revolutionär großen Vision.
Mythos ist im Kern erst einmal eine kollektive Erzählung. Goethe sah im Mythos »die abgespiegelte Wahrheit einer uralten Gegenwart«, Nietzsche hat im Mythos die »ewige Wiederkunft« erkannt und Thomas Mann definiert den Mythos als »die fromme Formel, in die das Leben eingeht, indem es aus dem Unbewussten seine Züge reproduziert«. Allen drei ist gemein, dass sie Mythos in seiner Wiederholungsstruktur verstehen und damit figural dem kreisförmigen Ring zuordnen.
Schon in seiner Rede zur Grundsteinlegung des Bayreuther Festspielhauses unterscheidet Wagner deutlich zwischen dem eigentlich provisorischen Hausbau und dem, was technisch präsentiert werden soll: Auf der Bühne dürfe »nichts mehr in bloßen Andeutungen eben nur provisorisch« bleiben. Dem Zuschauer solle so »weit das künstlerische Vermögen der Gegenwart reicht, im scenischen und im mimischen Spiele das Vollendetste geboten werden.« Dieses künstlerische Vermögen der Gegenwart im Szenischen meinte Wagner mit perfekter Technik naturalistisch einlösen zu können und unterlag damit einem Systemfehler, da sich die Illusion – die »sinnvollste Täuschung« wie er es ja selbst nannte, erst im Zuschauer zusammensetzen muss, denn auf der Bühne ist nichts wirklich, sondern be-deutet vielmehr etwas. Eduard Hanslick staunte bei der Uraufführung über »die riesige Maschinerie, die Gas-Apparate, die Dampfmaschinen auf und unter der Bühne«. Seiner Meinung nach hätte Wagner vor Erfindung des »elektrischen Lichtes den RING gar nicht componieren können«. Wilhelm Mohr nennt in seiner Uraufführungsbesprechung die Technik zwar »die neuen dekorativen Wunder«, doch stünden diese »im Widerspruch nicht nur mit der Leistungsfähigkeit der Mechanik oder doch der Maschinisten von heutzutage, sondern, was noch schlimmer ist, mit dem Wesen der Kunst überhaupt.« Und damit trennt er deutlich das gewaltige Ideendrama von der gefälligen Machinenposse.
Wagner führt die Bereiche von Literatur und Musik, Pantomime und Kostüm, Malerei und Bühnenbau metaphorisch nicht in lebendiger Synthese ineinander, sondern gibt dem Gesamtkunstwerk Oper die Aufgabe, »jede einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zu Gunsten der […] unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur«. Verbrauch und Vernichtung zur Vollendung hört sich sprachlich finster an, aber tatsächlich möchte er Ästhetik und Ethik in der Oper zusammenfinden lassen und sieht diese Kunst als »das nothwendig denkbare gemeinsame Werk des Menschen der Zukunft.« Menschen, die die Gegenwart fliehen und sich in eine Zukunft aufmachen. Ein Auftrag, der weit über die Bühne und das Spiel hinaus geht.
Wagner selbst hat bereits 1851 über den Handlungsverlauf des dritten Teils, SIEGFRIED, in einem Brief notiert: »…dass er den wichtigsten Mythos dem Publikum im Spiel, wie einem Kinde ein Märchen, beibringt. Alles prägt sich durch scharfe sinnliche Eindrücke plastisch ein, alles wird verstanden«. Dem Publikum möge im deutlichen Spiel etwas beigebracht werden und er expliziert sogar selbst den wichtigen Grund dafür, denn kommt erst der letzte Teil, GÖTTERDÄMMERUNG, »so weiß das Publikum Alles, was dort vorausgesetzt oder eben nur angedeutet werden musste, und – mein Spiel ist gewonnen.«
Wagner selbst nutzt also die doppelte Formel des Spiels – seines Spiels – für die ästhetische Konzeption und genau diese gilt es, inszenatorisch aus einer Koffer-Toteninsel der gegenwärtigen Geschichte zu ermöglichen. Wagner spricht beim erzählten Mythos von einer »Verdichtung«, der Darstellung aller »nur denkbaren Realitäten und Wirklichkeiten … in gedrängter, deutlicher plastischer Gestaltung«. So als hätte jedes Individuum eines Kollektivs einen Koffer mit seinen Erinnerungen und Erwartungen gepackt, wie der exilierte Heinrich Heine, den Wagner auf seiner Flucht nach Paris traf, Anfang der 1850er im satirisch treffenden Bild formuliert:
In meinem Hirne rumort es und knackt,
Ich glaube da wird ein Koffer gepackt,
Und mein Verstand reist ab – o wehe! –
Noch früher, als ich selber gehe.
Zwischen sprachlich gepackten Koffern entsteht ein Spiel aus dem Nichts, das alles ist; ein kollektives Spiel, das sinnliche Welten hervorbringt, dem das Individuum anheimfällt, ein mythisches Spiel um die Liebe, ein Spiel, das die Kunst von der Lüge befreien möchte, wahr sein zu müssen und genau damit den »heiligen Trost« spendet.
Der RING DES NIBELUNGEN ist – in den Worten Thomas Manns – »im Grunde gegen die ganze bürgerliche Kultur und Bildung gerichtet und gedichtet«. Damit wären wir zurück bei der Ausgangsfrage nach dem Wesen des Bürgers in Deutschland. In Cosima Wagners Tagebuch findet sich der Eintrag, mit dem Richard im Frühjahr 1874 noch einmal seinen revolutionären Aufbruch-Impuls von 1848 für sein Bühnenfestspiel bekräftigt: »Nur der Völkerfrühling brachte ununterbrochen schönes Wetter vom März an, und trotz allen Unsinns ist doch der Grund zu Deutschlands Einheit damals gelegt worden. Ich selbst hätte, glaube ich, den RING nicht konzipiert, ohne diese Bewegung.« Der aktive Impuls des radikalen Citoyens ist die zerstörerische und gleichsam tröstende Kunstzelle des saturierten Bourgeois’.