Ein mythisches Spiel um »sehnender Liebe sehrende Noth« (3) - Deutsche Oper Berlin

Ein mythisches Spiel um »sehnender Liebe sehrende Noth« (3)

Die Walküre
Erster Tag des Bühnenfestspiels für drei Tage und einen Vorabend von Richard Wagner
Musikalische Leitung: Donald Runnicles
Inszenierung: Stefan Herheim
Mit Brandon Jovanovich, Andrew Harris, John Lundgren, Lise Davidsen, Annika Schlicht, Nina Stemme u. a.
Premiere am 27. September 2020

 

III. Bayreuth und Berlin
 

Wagner hat für sein Spiel nicht nur musiktheatral neue Verträge und Regeln aufgestellt, sondern auch gleich das Haus für sein großes Bühnenfestspiel gebaut: das Festspielhaus in Bayreuth. Er tituliert den dortigen Orchestergraben nicht nur poetisch als »mystischen Abgrund«, sondern auch nüchterner als »technischen Herd der Musik«; Glut, Hitze, Licht und Wärme kommen aus dem Orchestergraben. Die Verkleinerung dieses technischen Herdes der Musik ist für den Komponisten und die ausführenden Sänger das Klavier, aus dem alles entsteht. Es sei daran erinnert, dass 1856 im Zürcher Hotel Baur au Lac die einzige von Wagner gutgeheißene Teil-Vorstellung vor der Uraufführung des Zyklus 1876 just so gegeben wurde: Der erste Aufzug der WALKÜRE in konzertanter Form mit Klavier, das Franz Liszt spielte, der an diesem 22. Oktober seinen 45. Geburtstag feierte. Wagner sang Siegmund und Hunding, Emilie Heim die Sieglinde. Damit wurde die Komposition in die öffentliche Wahrnehmung gerückt; das Klavier, aus dem alles tönt, Welten entstehen und die Kunst für ein Publikum herausgespielt wird…

Es gehe für den Zuschauer des Bühnenfestspiels um »die ganze Wirklichkeit der sinnvollsten Täuschung einer edlen Kunst« – so Wagner. Diesen Anspruch von ganzer Wirklichkeit der sinnvollsten Täuschung einer edlen Kunst ist das ästhetische Manifest, das im Vorspiel und den drei Abenden der Tetralogie von allen Seiten betrachtet und immer wieder in Schwingung versetzt wird; Wirklichkeit, Täuschung und Kunst werden im Spiel ineinander gewoben.

Bei keinem anderen Künstler waren jemals so konzentriert alle künstlerischen Ideale und technischen Belange zusammengeführt wie bei der Uraufführung von Richard Wagners RING DES NIBELUNGEN 1876 in Bayreuth. Wagner hatte nicht nur das Libretto und die Musik selbst geschrieben, er hat eigens ein Theater für dieses Werk gebaut; er hat Ausstatter und Bühnenmeister ausgesucht, die Sänger besetzt und selbst Regie geführt. Das Kollektivereignis Oper bringt er in einem nie gekannten Maße allein aus sich hervor in Anspruch und Umsetzung. Er wollte mit übermenschlicher Anstrengung »Musteraufführungen« in Bayreuth herausbringen, doch gesteht Wagner dem Bayreuther Patronat ein Jahr nach der Ring-Uraufführung: »Mein Ideal ward mit den vorjährigen Aufführungen nicht erreicht.« Warum hat sich technisch die Erfahrung des Mythos’ nicht verwirklichen lassen, die künstlerisch konzipiert war?

Befragen wir Wagner, so erfahren wir, dass für ihn der Mythos ursprünglich aus der Anschauung der Natur entsteht – Sonnenlicht und Dunkelheit sind dabei die elementaren Erfahrungen. Der Mythos verdichte sich »von der Natur-Anschauung zur menschlich-sittlichen«. Der Naturraum ist Lebensgebiet des natürlichen Menschen im Mythos, während der Architekturraum den geschichtlichen Menschen umgibt. Das unterscheidet Wagners Drama maßgeblich von der großen historischen Oper und so sind die Schauplätze im RING fast ausschließlich Naturräume: Wasser, Bergeshöhen, Felsengebirge, Flusstäler, Höhlen, Wald. Wagner spricht bei dieser Natur von einem »lebenvollen, organischen Zusammenhang«, von einem »lebendigen Organismus«.

In der Umsetzung seiner eigenen gesamtkunstwerklichen Schöpfung unterliegt Wagner als Regisseur 1876 aber einem Missverständnis. In seinem unbedingten Bühnen-Realismus imitiert er nur die Natur. Er nähert sich eben nicht ihrem sinnhaften Wesen, er deckt nicht ihre dramaturgische Funktion auf, er begegnet szenisch nicht ihrer Idee als »lebendigem Organismus«. Mit den besten bühnentechnischen Mitteln auf einer Illusionsbühne glaubte Wagner, die perfekte Darstellung seines Mythos etablieren zu können, doch ist das Problem kein technisches, sondern ein künstlerisches; es sei nochmals an die Stelle im bereits zitierten Brief an Röckel erinnert, wo er von der »Nothwendigkeit, den Wechsel, die Mannigfaltigkeit, die Vielheit, die ewige Neuheit der Wirklichkeit und des Lebens anzuerkennen« spricht. Wagner wollte eigentlich mit seinem Mythos eine Alternative zum Historismus der Zeit anbieten, doch blieb es mattes Abbild einer einst revolutionär großen Vision.

Mythos ist im Kern erst einmal eine kollektive Erzählung. Goethe sah im Mythos »die abgespiegelte Wahrheit einer uralten Gegenwart«, Nietzsche hat im Mythos die »ewige Wiederkunft« erkannt und Thomas Mann definiert den Mythos als »die fromme Formel, in die das Leben eingeht, indem es aus dem Unbewussten seine Züge reproduziert«. Allen drei ist gemein, dass sie Mythos in seiner Wiederholungsstruktur verstehen und damit figural dem kreisförmigen Ring zuordnen.

Schon in seiner Rede zur Grundsteinlegung des Bayreuther Festspielhauses unterscheidet Wagner deutlich zwischen dem eigentlich provisorischen Hausbau und dem, was technisch präsentiert werden soll: Auf der Bühne dürfe »nichts mehr in bloßen Andeutungen eben nur provisorisch« bleiben. Dem Zuschauer solle so »weit das künstlerische Vermögen der Gegenwart reicht, im scenischen und im mimischen Spiele das Vollendetste geboten werden.« Dieses künstlerische Vermögen der Gegenwart im Szenischen meinte Wagner mit perfekter Technik naturalistisch einlösen zu können und unterlag damit einem Systemfehler, da sich die Illusion – die »sinnvollste Täuschung« wie er es ja selbst nannte, erst im Zuschauer zusammensetzen muss, denn auf der Bühne ist nichts wirklich, sondern be-deutet vielmehr etwas. Eduard Hanslick staunte bei der Uraufführung über »die riesige Maschinerie, die Gas-Apparate, die Dampfmaschinen auf und unter der Bühne«. Seiner Meinung nach hätte Wagner vor Erfindung des »elektrischen Lichtes den RING gar nicht componieren können«. Wilhelm Mohr nennt in seiner Uraufführungsbesprechung die Technik zwar »die neuen dekorativen Wunder«, doch stünden diese »im Widerspruch nicht nur mit der Leistungsfähigkeit der Mechanik oder doch der Maschinisten von heutzutage, sondern, was noch schlimmer ist, mit dem Wesen der Kunst überhaupt.« Und damit trennt er deutlich das gewaltige Ideendrama von der gefälligen Machinenposse.

Wagner führt die Bereiche von Literatur und Musik, Pantomime und Kostüm, Malerei und Bühnenbau metaphorisch nicht in lebendiger Synthese ineinander, sondern gibt dem Gesamtkunstwerk Oper die Aufgabe, »jede einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zu Gunsten der […] unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur«. Verbrauch und Vernichtung zur Vollendung hört sich sprachlich finster an, aber tatsächlich möchte er Ästhetik und Ethik in der Oper zusammenfinden lassen und sieht diese Kunst als »das nothwendig denkbare gemeinsame Werk des Menschen der Zukunft.« Menschen, die die Gegenwart fliehen und sich in eine Zukunft aufmachen. Ein Auftrag, der weit über die Bühne und das Spiel hinaus geht.

Wagner selbst hat bereits 1851 über den Handlungsverlauf des dritten Teils, SIEGFRIED, in einem Brief notiert: »…dass er den wichtigsten Mythos dem Publikum im Spiel, wie einem Kinde ein Märchen, beibringt. Alles prägt sich durch scharfe sinnliche Eindrücke plastisch ein, alles wird verstanden«. Dem Publikum möge im deutlichen Spiel etwas beigebracht werden und er expliziert sogar selbst den wichtigen Grund dafür, denn kommt erst der letzte Teil, GÖTTERDÄMMERUNG, »so weiß das Publikum Alles, was dort vorausgesetzt oder eben nur angedeutet werden musste, und – mein Spiel ist gewonnen.«

Wagner selbst nutzt also die doppelte Formel des Spiels – seines Spiels – für die ästhetische Konzeption und genau diese gilt es, inszenatorisch aus einer Koffer-Toteninsel der gegenwärtigen Geschichte zu ermöglichen. Wagner spricht beim erzählten Mythos von einer »Verdichtung«, der Darstellung aller »nur denkbaren Realitäten und Wirklichkeiten … in gedrängter, deutlicher plastischer Gestaltung«. So als hätte jedes Individuum eines Kollektivs einen Koffer mit seinen Erinnerungen und Erwartungen gepackt, wie der exilierte Heinrich Heine, den Wagner auf seiner Flucht nach Paris traf, Anfang der 1850er im satirisch treffenden Bild formuliert:

In meinem Hirne rumort es und knackt,
Ich glaube da wird ein Koffer gepackt,
Und mein Verstand reist ab – o wehe! –
Noch früher, als ich selber gehe.

Zwischen sprachlich gepackten Koffern entsteht ein Spiel aus dem Nichts, das alles ist; ein kollektives Spiel, das sinnliche Welten hervorbringt, dem das Individuum anheimfällt, ein mythisches Spiel um die Liebe, ein Spiel, das die Kunst von der Lüge befreien möchte, wahr sein zu müssen und genau damit den »heiligen Trost« spendet.

Der RING DES NIBELUNGEN ist – in den Worten Thomas Manns – »im Grunde gegen die ganze bürgerliche Kultur und Bildung gerichtet und gedichtet«. Damit wären wir zurück bei der Ausgangsfrage nach dem Wesen des Bürgers in Deutschland. In Cosima Wagners Tagebuch findet sich der Eintrag, mit dem Richard im Frühjahr 1874 noch einmal seinen revolutionären Aufbruch-Impuls von 1848 für sein Bühnenfestspiel bekräftigt: »Nur der Völkerfrühling brachte ununterbrochen schönes Wetter vom März an, und trotz allen Unsinns ist doch der Grund zu Deutschlands Einheit damals gelegt worden. Ich selbst hätte, glaube ich, den RING nicht konzipiert, ohne diese Bewegung.« Der aktive Impuls des radikalen Citoyens ist die zerstörerische und gleichsam tröstende Kunstzelle des saturierten Bourgeois’.

>> I. Flucht und Spiel  >> II. Macht und Nichts

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