Ein Quantum Trost - Deutsche Oper Berlin
Aus dem Programmheft
Ein Quantum Trost
Der Regisseur Ole Anders Tandberg im Gespräch mit Jörg Königsdorf
Herr Tandberg, dem WOZZECK liegt eines der wichtigsten Dramen der Weltliteratur zugrunde. Wie wichtig ist Büchners „Woyzeck“ für Ihre Sicht auf Bergs Oper?
Mein Weg zu Berg hat bei Büchner begonnen – schließlich habe ich im Alter von 19 Jahren selbst als Woyzeck auf der Bühne gestanden. Das war zwar nur in einer Schulaufführung und ohne jede Kenntnis professioneller Schauspielkunst, aber vielleicht war deshalb meine Auseinandersetzung mit der Titelfigur umso intensiver. Gerade weil ich damals die existenziellen Erfahrungen Wozzeck noch nicht selbst durchlebt hatte, habe ich alles Mögliche angestellt, um seine Angst, seine Eifersucht und die Verzweiflung nachzuempfinden, die ihn schließlich zum Mord an Marie treiben, und mich mit seinem furchtbaren leben zu identifizieren. Ich erinnere mich jedenfalls noch gut, wie zu nächtlicher Stunde in einer alten Scheune umhergerannt bin, pfundweise Bohnen in mich hineingeschüttet und aus vollem Hals herumgebrüllt habe, um Wozzeck so näher zu kommen.
Und worin liegt heute, über vierzig Jahre später, für Sie die besondere Qualität des Stoffes?
Büchners „Woyzeck“ ist auch heute noch in der Kühnheit seiner Form revolutionär. Seine Radikalität liegt für mich in der Konsequenz seines Minimalismus. Die 26 Fragmente des Stücks enthalten nur die dramatische Essenz von Theaterszenen – in hoch konzentrierter, verdichteter Form präsentieren sie nur das für die dramatische Aussage Notwendige. Deshalb sind sie oft auch so kurz und manche der Szenen sind schon vorbei, wenn sie eigentlich gerade erst begonnen haben. Man kann diese Konzentration am besten mit Brühwürfeln vergleichen – klein, aber extrem inhaltsreich. Ich glaube, diese Dichte hat Berg sofort den Gedanken an eine Vertonung fassen lassen, als er das Stück im Mai 1914 auf der Bühne sah. Er spürte, dass der gesprochene Text nur die Spitze eines Eisbergs darstellte und ihm die Vertonung die Möglichkeit bot, die verborgenen Teile dieses Eisbergs sichtbar zu machen und unter die Oberfläche der Sprache zu gehen. Tatsächlich ist die Oper deshalb meiner Ansicht nach auch etwas einfacher zu inszenieren als das Theaterstück – die Musik zeigt viele gleichzeitig präsente Gefühlsebenen, die das Publikum so schon durch das Zuhören vermittelt bekommt.
Berg hat dem Stoff aber nicht nur eine musikalische Tiefendimension hinzugefügt, er hat das Stück auch von 26 auf 15 Szenen komprimiert. Inwiefern verändert sich durch diese Maßnahmen der Charakter des Stücks?
Der Büchner’sche „Woyzeck“ ist für mich das Stück schlechthin über Entfremdung – über die existenzielle Einsamkeit, die jeder von uns irgendwo auf dem Grunde seiner Seele fühlt. Über die Erkenntnis, dass um uns herum nur die endlose Leere eines Universums ist, ein großes Nichts. Das sagt uns Büchner in der Erzählung der Großmutter, in der ein Kind zu Mond und Sonne hinauffährt und dort entdeckt, dass beides nur leere Hüllen sind. Dann kommt es auf die Erde zurück und weint. Bei Büchner ist das unendlich trostlos. Kennzeichnenderweise hat Berg diese Szene nicht für die Vertonung ausgewählt. Denn tatsächlich ändert sich bei ihm die Botschaft: Zwar gibt es auch bei ihm keinerlei Hoffnung für Wozzeck und die letzte Szene mit den Kindern kündigt unmissverständlich an, dass sich dieses Schicksal in der nächsten Generation wiederholen wird. Aber dennoch spendet seine Musik uns Trost, indem sie Mitleid mit den Menschen hat – ganz so, wie es Agnes in Strindbergs „Traumspiel“ immer wieder verkündet. Auch wenn es keinen Gott gibt, gibt es doch die Musik, die unseren Schmerz angesichts der Unausweichlichkeit unseres Todes und der Nichtigkeit unserer Existenz lindert und uns fühlen lässt, dass wir doch nicht allein sind. Deshalb findet die Musik auch nach dem Tod Wozzecks im letzten großen Orchesterzwischenspiel wieder zurück zur Tonalität.
Wir erleben Wozzeck in der Oper schon recht bald als einen Menschen, der Schwierigkeiten hat, zwischen der äußeren Realität und seinen apokalyptischen Visionen zu unterscheiden. Ist er quasi von Anfang an ein hoffnungsloser Fall?
Wozzecks Grundproblem ist, dass er eben nach dieser Bedeutung im Leben sucht, die es nach Büchner gar nicht gibt. Jede andere Figur im Stück hat etwas, an das sie sich hält - so wie sich jeder Mensch im Leben eben Bedeutungen zur Rechtfertigung seiner Existenz sucht, um seinem Leben Sinn zu verleihen. In der Oper sind Figuren wie der Hauptmann, der Doktor und der Tambourmajor ja zugleich auch Repräsentanten solcher konstruierter Bedeutungen. Der eine glaubt an die Autorität, der andere an die Wissenschaft, der dritte an das simple Recht des Stärkeren. Nur Wozzeck und Marie sind Suchende, jeder auf seine Weise. Deshalb stehen sie auch im Zentrum des Stücks. Wozzeck verzweifelt an der Unmöglichkeit, das Leben zu begreifen – auch weil ihn das Leben nur mit althergebrachten Erklärungsschemata wie der Bibel, alten Ammenmärchen oder Verschwörungstheorien versehen hat. Marie versucht ihrem Leben Bedeutung durch sinnliche Erfahrung zu geben – nur um hinterher Reue zu fühlen, weil sie gegen Verhaltensnormen verstoßen hat, die ihr selbst von Kindheit an eingebläut wurden. Und die Tragik des Stücks ist ja, dass wir spüren, wie wenig daran fehlt, dass diese beiden die Bedeutung ihres Lebens in der Gemeinsamkeit – auch zusammen mit ihrem Kind – finden könnten.
Denn tatsächlich ist die Beziehung zu Marie zunächst noch das einzige, was für Wozzeck Bedeutung hat.
Ja, er nimmt alle möglichen Arbeiten an, um seine Familie zu ernähren. „Darum tue ich es ja!“ sagt er uns ganz direkt. Umso größer ist angesichts seines ohnehin schon gefährdeten Zustands die Angst, als diese Brücke zum Leben auch noch zu brechen droht. Für mich stellt Wozzecks Mord an Marie den ihm noch einzig möglichen Versuch da, das Entschwindende zurückzuholen und eine Sicherheit zu gewinnen, die ansonsten bereits verloren gegangen ist.
Das erinnert an Don José in CARMEN, der Oper, die Sie zuletzt an der Deutschen Oper Berlin inszeniert haben.
Natürlich, auch für José ist die tote Carmen die einzige Möglichkeit, eine geliebte Frau zu besitzen, die ihre Unabhängigkeit bewahren will. Für mich ist es aber vor allem wichtig zu zeigen, dass Maries Sehnsucht nach sexueller Freiheit durchaus legitim ist und dass Sex mit einem anderen Mann nicht das Ende der Welt bedeutet. Sie liebt Wozzeck ja dennoch und als Menschen des 21. Jahrhunderts können wir das in der Regel einigermaßen auseinander halten. Auch wenn es schwierig ist, nach den Geschehnissen wieder zueinander zu finden, so wäre das für Wozzeck und Marie dennoch möglich und es ist umso tragischer, dass dies den beiden nicht gelingt.
Um diese beiden Menschen herum gibt es in der Oper einen Kranz von Figuren, die – wie bereits erwähnt – bestimmte Lebenseinstellungen repräsentieren. Wie real sind diese Figuren überhaupt?
Berg stellt sie verfremdet dar, was aber auf keinen Fall bedeuten kann, dass der Doktor, der Hauptmann und die anderen als bloße Karikaturen gemeint sind. Wir begegnen ihnen in ganz realen, bewusst alltäglichen Lebensumständen: dem Doktor bei einer Untersuchung, dem Hauptmann Bier trinkend in einer Bar, Andres bei der Arbeit. Nur sehen wir sie oft aus der Perspektive Wozzecks, also verzerrt. So wachsen sie momentweise zu Monstren, wechseln dann aber wieder in normale Konversation zurück. Entscheidend ist hier, dass wir uns ebenso wie Wozzeck unsicher sein sollen, wie diese Figuren wirklich sind. Dazu müssen sie aber auf jeden Fall einen gewissen Prozentsatz an Fleisch und Blut haben, so wie sie auch ganz reale menschliche Gefühle wie Angst, Neugier oder Eitelkeit besitzen. Diese Vielschichtigkeit macht sie für das Theater ja erst interessant.
Ihre Inszenierung des WOZZECK spielt weder in einer expressionistischen Fantasiewelt noch im Soldatenmilieu des 19. Jahrhunderts, sondern an einem genau benennbaren Tag und an einem exakt lokalisierbaren Ort. Was hat Sie dazu bewegt, das Stück am norwegischen Unabhängigkeitstag in Oslo stattfinden zu lassen?
Zunächst einmal war es uns wichtig, das Stück im Heute zu verankern. Denn WOZZECK ist ein Stück über Grundfragen und Ängste, die uns heute bewegen. Jeder von uns könnte zum Wozzeck werden, wenn das Schicksal es will. Deshalb sollte eine Inszenierung keinen historischen Abstand aufbauen, sondern klar machen, dass diese Geschichte auch direkt um uns herum passieren könnte. Wir haben deshalb nach einer Szenerie Ausschau gehalten, die eindeutig heutig ist, die aber auch den Vorgaben des Stücks auf natürliche Weise gerecht wird und zudem noch einen plausiblen Rahmen für die Übergangszustände zwischen brutaler Realität und surrealistischen Episoden bietet. Fündig wurden wir bei uns zu Hause, in einer Bar, die in der Nähe des Königsschlosses von Oslo inmitten eines Parks mit Teichen liegt. Dort findet man sowohl die für ihre Exerzierchoreografien berühmten Soldaten der Palastgarde inklusive ihrer Hauptleute und Tambourmajors als auch viele Menschen, die einfach viel trinken oder sich sonst wie amüsieren wollen. Und am norwegischen Unabhängigkeitstag, dem 17. Mai, sieht man dort auch die Kinder, die mit ihrer Parade zum Schloss ziehen, wie es seit 1945 Sitte ist. Zugleich aber ist dieser Tag in Norwegen auch quasi das Signal für Frühling: man erlebt um diese Jahreszeit eine plötzliche Explosion von Grün und die Menschen empfinden die ganze Macht ihrer Triebnatur. Insofern passt das eigentlich perfekt für WOZZECK.

Kommt vielleicht auch hinzu, dass Wozzecks Brüten über den Sinn der menschlichen Existenz etwas sehr Skandinavisches ist? Er erinnert in seiner Obsessivität doch fast an Norwegens Bestsellerautor Karl Ove Knausgard.
Sicherlich. Und Knausgard wäre wohl zum Wozzeck geworden, wenn er nicht das Schreiben für sich entdeckt hätte. Immerhin beschreibt er selbst in seinem Romanzyklus, wie er einst fast seinen Bruder umgebracht hätte. Aber dann fand er eben die Kunst. Und den Trost, den sie spenden kann. Auch wenn es keine Hoffnung gibt.