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Ein Schrei nach Vergeltung - Deutsche Oper Berlin

Aus dem Programmheft

Ein Schrei nach Vergeltung

Olivier Py im Gespräch mit Jörg Königsdorf

LES VÊPRES SICILIENNES handelt vom blutigen Aufstand eines Volkes gegen seine Unterdrücker. Inwieweit hat der Überfall auf die Ukraine Ihre Sichtweise auf das Werk verändert und zu Änderungen geführt?
Natürlich habe ich mir die Frage gestellt, ob ich etwas ändern müsse, aber je mehr ich darüber nachdachte, desto wichtiger schien es mir, das Konzept der Inszenierung so zu belassen, wie es ist. In dieser Oper erleben wir ja einen Extremzustand, der vor einigen Wochen vielleicht als übertrieben und theatralisch hätte wahrgenommen werden können. Aber für mich hat sich gezeigt, dass die Oper gerade in ihrer extremen Zuspitzung genau den richtigen Schlüssel gibt, um die aberwitzige Realität verstehen zu können.

Dieser Schlüssel ist allerdings sehr speziell: Die Grand Opéra als Kunstform bringt zwar einerseits existenzielle Zustände auf die Bühne, hat aber auch Züge großen Entertainments. Es gibt da beispielsweise eine Ballettmusik, zu der wir Soldaten in tänzerischer Choreografie sehen.
Für mich ist die Ballettmusik, von der wir nur den besten Teil, »L’hiver«, spielen, in erster Linie ein Anlass, den Kontext und den Hintergrund zu vermitteln, die zum Verständnis der Situation nötig sind – ebenso wie die Ouvertüre, in der wir die Hinrichtung von Hélènes Bruder zeigen, die zur Vorgeschichte der Handlung gehört. Tatsächlich ist die Musik von Verdi im Ballett manchmal leichter als das Libretto, aber ich denke, diese Tanzrhythmen können durchaus auch ironisch gedeutet werden und sind ein Weg, das ganze militärische Gehabe lächerlich zu machen – so wie es auch Jacques Offenbach in seinen Operetten getan hat. Die Oper zeigt damit auch, wie nahe Schreckliches und Banales, ja Lächerliches beieinanderliegen können – und auch das entspricht ja oft der Realität.

Sie betonen den Ernst, mit dem der Librettist Eugène Scribe bei diesem Libretto zu Werke ging. Dabei hat Scribe als Vielschreiber in der Opernwelt keinen besonders guten Ruf.
Für mich ist Scribe ein durchaus ernstzunehmender Autor und Dichter, auch wenn die meisten Franzosen das noch nicht gemerkt haben. Und ich sage das nicht nur, weil ich lange das Pariser Théâtre d‘Odéon geleitet habe, für das Scribe viele seiner Stücke geschrieben hat. Ich habe die Qualität seiner Texte schon in meinen Inszenierungen von Meyerbeers LES HUGUENOTS und LE PROPHÈTE schätzen gelernt, aber bei LES VÊPRES SICILIENNES hatte er meiner Meinung nach ein besonderes Anliegen. Der Aufstand der Sizilianer gegen ihre französischen Besatzer im Jahre 1282 war auch damals ein Ereignis, das niemand genau kannte – deshalb hat Scribe sich gegenüber der Geschichte nach eigenem Eingeständnis auch manche Freiheiten genommen. Für Scribe ist dieses Thema aber ein Weg, zu einem ganz aktuellen Ereignis Stellung zu beziehen: der Eroberung Algeriens durch die Franzosen, die 1830 begonnen hatte und in deren Verlauf immer wieder Aufstände der Bevölkerung extrem brutal niedergeschlagen wurden. Deshalb spielt die Geschichte bei uns während des Algerienkriegs, das heißt, in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, aber im Kostümball des dritten Aktes auch mit Reminiszenzen an das Sécond Empire. Und wenn man bedenkt, dass damals an der Spitze Frankreichs mit Napoléon III. ein Diktator stand, drängen sich Parallelen zum heute von selbst auf.

Zumal dieser Diktator zum Zeitpunkt der Uraufführung sein Land auch noch in einen anderen Krieg getrieben hatte, der hunderttausende Opfer forderte: den Krimkrieg. War es für Sie auch eine Option, die VÊPRES dort spielen zu lassen?
Nein, ich glaube, dass Scribe in diesem Fall tatsächlich vor allem an Algerien dachte. Denn es handelt sich hier, anders als im Krimkrieg, ja nicht um einen Krieg zwischen Soldaten zweier Nationen, sondern um den Aufstand einer mehr oder weniger waffenlosen Bevölkerung gegen ihre Unterdrücker. Allerdings haben wir uns bemüht, die Bühne so zu gestalten, dass man auch an andere Orte denken kann. Wir nutzen beispielsweise ein Foto von Algier, aber das könnte auch Paris oder Palermo sein – oder Odessa.

Wenn Sie sich mit den Grausamkeiten der Franzosen auseinandersetzen, verändert sich da
auch ihr Blick auf das eigene Land?
Die Arbeit an VÊPRES hat mich sicher dazu gebracht, Frankreich zwiespältiger zu sehen und natürlich stellt sich in so einem Lichte die Frage, was es bedeutet, Franzose zu sein, noch einmal anders. In Frankreich ist der Algerienkrieg immer noch ein unaufgearbeitetes Trauma, das in den letzten Jahren durch das zunehmende Erstarken der Rechten und Figuren wie Eric Zemmour noch einmal an Gewicht gewonnen hat. Bis heute hat die Nation kein wirkliches Verhältnis zu den Gräueltaten, die damals passierten. Man merkt das unter anderem daran, dass es zwar in jedem Dorf Monumente für die Gefallenen des Ersten und Zweiten Weltkriegs gibt, aber keines für die Gefallenen des Algerienkriegs. Mich betrifft das übrigens auch ganz persönlich, da meine Eltern aus Algerien kommen und zwar immer über ihre alte Heimat sprachen, aber das Wort »Krieg« beispielsweise nie gefallen ist. Es wurde immer nur von »Geschehnissen« gesprochen, so wie es ja auch der offizielle Sprachgebrauch der französischen Regierung war.

Es scheint also, als ob es schon im 19. Jahrhundert Konsens war, das Thema Algerien möglichst nicht zu erwähnen.
Ja, selbst Victor Hugo schweigt sich darüber aus. Tatsächlich ist mir keine Stellungnahme irgendeines französischen Intellektuellen aus dieser Zeit zu dem Thema bekannt und auch Bildmaterial gibt es kaum. Die Abbildung, die wir während der Ouvertüre zeigen, ist eines der ganz wenigen Beispiele, das die Grausamkeiten der Franzosen zeigt. Durch den Kontrast zwischen der naiven Darstellung und dem menschenverachtenden, zynischen Text hat es für mich eine ganz besondere Eindringlichkeit.

Angesichts dieser politischen Stoßrichtung des Librettos ist es umso verwunderlicher, dass Verdi mit Scribes Libretto offenbar einige Probleme hatte.
Ich glaube, man muss daran denken, dass Verdi vor den VÊPRES stark vom romantischen Theater Victor Hugos beeinflusst war, der ja auch die Vorlagen zu ERNANI und RIGOLETTO geschrieben hatte. Und dieses Theater Hugo’scher Prägung lebt immer von der Durchdringung des Tragischen mit dem Komischen – ganz in der Tradition Shakespeares, die Hugo quasi wiederaufnimmt. Das fehlt bei Scribe völlig, er ist dagegen im Aufbau seiner Stücke von einer geradezu klassischen Klarheit. Bei ihm gibt es nicht die Unwahrscheinlichkeiten, wie sie uns etwa bei RIGOLETTO begegnen, sondern ganz im Gegenteil vollzieht sich die Entwicklung von Akt zu Akt mit der Unausweichlichkeit einer antiken Tragödie. Ich denke, das war für Verdi einfach ungewohnt, auch weil er sein Musiktheater der starken, unmittelbaren Kontraste hier so nicht umsetzen konnte.

Impliziert diese Dramaturgie eines unausweichlichen Schicksals nicht auch ein fatalistisches Geschichtsbild?
Nein, da verhält sich Verdi anders als zum Beispiel Meyerbeer in LE PROPHÈTE, er fordert den Zuschauer auf, das Schicksal herauszufordern, indem er uns sagt, dass man das Schicksal ändern kann, wenn man nur entschlossen genug ist. Für mich ist die Schlüsselszene des ganzen Stücks in diesem Sinne Hélènes Szene im ersten Akt, in der sie dem Volk zuruft: »Votre avenir est dans vos mains« – »Euer Schicksal liegt in euren Händen«.

Ist Verdi also eindeutig auf Seiten der Sizilianer?
Ja. Letztlich ist der Aufstand das Ziel der ganzen Oper und es geht um die Frage, was alles passieren muss, bis das unterdrückte Volk genug Energie hat, um gegen die Besatzer aufzustehen. Die Energiekurve des Stücks läuft auf den finalen Schrei »Vengeance!« – »Vergeltung!« zu. Allerdings präsentiert sich der Anführer des Aufstands, Procida, auch eher als zwielichtiger Charakter. Er hat zwar ein nachvollziehbares Ziel, scheut aber keinerlei Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. Wir haben hier keinen echten, mitreißenden Revolutionär nach dem Muster Garibaldis, sondern eher einen Strippenzieher im Hintergrund.

Die Rolle des Anführers müsste in der Oper eigentlich der Tenor übernehmen. Dieser Henri ist aber eigentlich der schwächste Charakter von allen.
Tatsächlich sind sowohl der Tenor als auch der Bariton weite Teile des Stücks über von einer extrem ungewöhnlichen Vater-Sohn-Beziehung beherrscht, die von Leidenschaft, Hass, Sadismus und Sentimentalität geprägt ist und die in der Oper des 19. Jahrhunderts einzigartig ist. Während der Tenor durch diesen privaten Konflikt unfähig ist, eindeutig Stellung zu beziehen, übernimmt Hélène diese Rolle und wird zur Seele des Aufstands. Deshalb ist sie für mich auch die zentrale Figur der Oper.

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DEZ

Advents-Verlosung: Das 22. Fensterchen

Am 7. März 2025 feiert der erste Teil von Tobias Kratzers Strauss-Trilogie ARABELLA im Rahmen unserer „Richard Strauss im März“-Wochen seine Wiederaufnahme mit u. a. Jennifer Davis als Arabella, Heidi Stober als Zdenka/Zdenko, Thomas Johannes Mayer als Mandryka, Daniel O'Hearn als Matteo und wie in der Premierenserie mit Doris Soffel und Albert Pesendorfer als Ehepaar Waldner. Heute verlosen wir unsere DVD, die erst ab 14. Februar 2025 überhaupt im Handel erhältlich sein wird. Wir danken NAXOS aufs Herzlichste dafür, dass wir die ganz besondere Möglichkeit wahrnehmen dürfen, für Sie beinahe acht Wochen vor dem offiziellen Verkaufsstart ARABELLA in unseren Los-Topf zu geben.

Im heutigen Adventskalender-Fensterchen verlosen wir 2 Mal eine DVD von ARABELLA – eine lyrische Komödie in drei Aufzügen von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal. Wenn Sie eine der zwei DVDs gewinnen möchten, schreiben Sie bitte heute eine E-Mail mit dem Betreff „Das 22. Fensterchen“ an advent@deutscheoperberlin.de.

Wien, um 1860. Der verarmte Graf Waldner lebt mit seiner Familie in einem Wiener Hotel. Der einzige Ausweg aus seiner prekären Lage ist eine reiche Heirat für eine seiner beiden Töchter. Doch reichen die Mittel der Familie nur, um die ältere der beiden, Arabella, standesgemäß zu präsentieren. Damit die finanzielle Notlage der Familie nicht auffällt, wird Zdenka, die jüngere Schwester, als Junge verkleidet. Zwar interessieren sich etliche Männer für Arabella, doch sie ist entschlossen, solange zu wartet, bis „der Richtige“ für sie auftaucht. Als der reiche Provinzadlige Mandryka erscheint, fühlen beide auf Anhieb, dass sie füreinander bestimmt sind. Arabella bittet sich lediglich aus, auf dem anstehenden Faschingsball ihren Junggesellinnen-Abschied feiern zu dürfen. Auf dem Ball verabschiedet sich Arabella von ihren Verehrern. Dort ist auch der junge Offizier Matteo, in den Zdenka heimlich verliebt ist und mit dem sie unter dem Deckmantel ihrer Verkleidung als Junge eine Freundschaft geknüpft hat. Matteo jedoch begehrt Arabella und ist verzweifelt, als er die Hoffnungslosigkeit seiner Liebe erkennt. Zdenka fasst einen Plan: Sie fingiert einen Brief Arabellas, in dem sie Matteo eine gemeinsame Liebesnacht verspricht. Doch stattdessen will sie selbst im Dunkel des Hotelzimmers auf ihn warten. Mandryka erfährt von Arabellas angeblicher Untreue und begibt sich mit den Ballgästen ins Hotel, um Arabella in flagranti zu überraschen. Die nichtsahnende Arabella ist von Mandrykas Misstrauen zunächst tief gekränkt. Doch als sich die Verwechslung klärt, verzeiht sie ihm. Die beiden werden ein Paar, ebenso wie Zdenka und Matteo.

Die opulente, vielstimmig funkelnde Orchestersprache von Richard Strauss und das historische Wiener Setting haben schon bei der Uraufführung von ARABELLA 1933 dazu geführt, dass diese letzte gemeinsame Arbeit von Strauss und Hugo von Hofmannsthal als operettenhafte Verwechslungskomödie missverstanden wurde. Für Tobias Kratzer, der an der Deutschen Oper Berlin bereits sehr erfolgreich Alexander von Zemlinskys DER ZWERG inszenierte, markiert Strauss’ Oper jedoch die Bruchstelle zweier Weltbilder: Auf der einen Seite das traditionelle Rollenbild von Mann und Frau, wie es sich unter anderem in Arabellas berühmtem Solo: „Und du sollst mein Gebieter sein“ ausdrückt. Auf der anderen Seite steht jedoch eine moderne Vorstellung des gesellschaftlichen Miteinanders, für die beispielsweise Zdenka in ihrem Infragestellen geschlechtlicher Identitäten steht. In seiner Arbeit leuchtet Kratzer diesen Zweispalt in den zahlreichen Charakterporträts der ARABELLA aus und verfolgt das Spannungsverhältnis dieser Rollenverständnisse vom Wien des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. In der Kategorie Raum wurden Manuel Braun, Jonas Dahl und Rainer Sellmaier für diese Produktion mit dem renommierten Deutschen Theaterpreis DER FAUST 2023 geehrt.

Unter der Stabführung von Sir Donald Runnicles erleben Sie in dieser Aufzeichnung u. a. Albert Pesendorfer, Doris Soffel, Sara Jakubiak, Elena Tsallagova, Russell Braun, Robert Watson, Thomas Blondelle, Kyle Miller, Tyler Zimmerman, Hye-Young Moon, Lexi Hutton, Jörg Schörner u. a. sowie Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin. Es wurden die Vorstellungen am 18. und 23. März 2023 von rbb Kultur und Naxos für diese DVD aufgezeichnet.

Wir danken dem Label Naxos für die großartige Zusammenarbeit der letzten Jahre, die Aufnahmen von DER ZWERG, DAS WUNDER DER HELIANE, FRANCESCA DA RIMINI, DER RING DES NIBELUNGEN, DER SCHATZGRÄBER, DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG sowie ANTIKRIST dokumentieren. Im Laufe des Jahres 2025 erscheinen Richard Strauss‘ ARABELLA und INTERMEZZO.



Einsendeschluss: 22. Dezember 2024. Die Gewinner*innen werden am 23. Dezember 2024 per E-Mail informiert. Die DVDs gehen anschließend auf dem Postweg zu. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.