Ein Spiel mit dem eigenen Image - Deutsche Oper Berlin
Ein Spiel mit dem eigenen Image
Tobias Kratzer im Gespräch mit Jörg Königsdorf
INTERMEZZO ist der Mittelteil deiner Strauss-Trilogie an der Deutschen Oper Berlin. Im ersten Teil, ARABELLA, hattest du eine für viele überraschende Modernität in Sachen Emanzipation und Gender freigelegt. Taugt auch INTERMEZZO als Beleg für einen modernen Strauss?
Anders als bei ARABELLA kann man hier keinen verborgenen Kern einer Genderdebatte ausmachen, die Modernität von INTERMEZZO liegt eher in der Aufwertung des Alltags, der bis zur „Neuen Sachlichkeit“ nicht als wertig genug für eine Darstellung auf der Bühne angesehen wurde: Dass beispielsweise in einer Oper ein Telefon klingelt, war bis dahin undenkbar. Je mehr unser Strauss-Zyklus voranschreitet, desto bewusster wird mir aber auch, dass es mir gar nicht darum geht, eine spezielle Modernität bei Strauss hervorzuheben, sondern zu zeigen, dass seine Opern, die in ihrer Klanglichkeit ja zunächst eine unnahbare Monumentalität ausstrahlen mögen, anschlussfähig an unser heutiges Leben sind. Da ist INTERMEZZO ein gutes Beispiel, weil es schon vom Stoff her einen zugänglicheren, dadurch auch anfechtbareren Strauss zeigt. Wenn man mit dem durch INTERMEZZO geschärften Blick dann auf andere Opern wie DIE FRAU OHNE SCHATTEN schaut, erschließen sich diese Werke anders. Hier ist Strauss mehr bei sich als beispielsweise in den mythologischen Spätwerken, bei denen er von den Librettisten zu abwegigeren Erzählungen verführt wurde, als es ihm in seiner Bodenständigkeit eigentlich nahe gelegen hätte.
Die Frage nach der Modernität stellt sich natürlich auch deshalb, weil Strauss selbst im Vorwort zur Partitur behauptet, dem Musiktheater mit INTERMEZZO einen ganz neuen Weg gewiesen zu haben.
Damit meint er einerseits etwas, das man musikalische Prosa nennen könnte: eine unglaublich kleinteilige Gesangsdiktion, die ähnlich wie bei Janáček mehr der Alltagssprache abgelauscht als von großen Melodiebögen her gedacht ist, bis hin zu melodramatischen Passagen, in denen zur Musik gesprochen wird. Das ließe sich als Strauss’sche Variante der „Neuen Sachlichkeit“ bezeichnen. Der andere Aspekt, den Strauss im Sinn gehabt haben mag, ist die schon erwähnte Verklanglichung des Alltags. Für mich heute ist aber ein dritter Aspekt noch interessanter: Indem Strauss eine Figur auf die Bühne bringt, die fast er selbst ist, realisiert er einen selbstironisch autofiktionalen Zugang zu seinem Werk. Er spielt quasi mit seinem eigenen Image. Und das ist ein radikaler Bruch mit den Kunstvorstellungen des 19. Jahrhunderts, wo die Werke der „Großkünstler“ zwar auch oft einen biografischen Hintergrund besitzen, Künstler wie Richard Wagner sich aber nie direkt selbst als Figur auf die Bühne gebracht hätten. Dass Strauss nun kaum verhüllte Alter Egos seiner selbst und seiner Frau auf die Bühne bringt, zeugt von einer Selbstreflexion, die an postmoderne Strategien denken lässt. Der große Reiz des Stücks besteht für mich in diesem Spiel mit der eigenen Komponistenrolle, aber auch im Changieren zwischen Realität und Fiktionalität.
Das verstand 1924 bei der Uraufführung allerdings kaum jemand. Gerade die Selbstdarstellung wurde Strauss zum Vorwurf gemacht.
Weil die Episode seines Lebens, die Strauss in INTERMEZZO verarbeitet, eben nichts mit großen Leidenschaften, heroischen Taten oder gar politischen Verstrickungen zu tun hat, sondern nur ein ganz banales Missverständnis behandelt: den sich alsbald als falsch herausstellenden Verdacht, dass der Mann eine Affäre hat. Das ist erstmal nicht das, was man als Stoff für große Meisterwerke ansieht, sondern gehört eher zu den kleinen peinlichen Nebenerscheinungen einer irdischen Existenz. Der Künstler ist hier eben kein Titan, sondern ein ganz normaler Mensch, der auf Geschäftsreisen geht, Skat spielt und Hagebuttengelee liebt. Es fehlt da eigentlich nur noch, dass es eine Szene auf der Toilette gibt.
Strauss nennt seine achte Oper „Bürgerliche Komödie“. Steht das Bürgerliche hier eher für eine neue Urbanität oder für veraltete Moralvorstellungen und die nostalgische Sehnsucht nach der „Guten alten Zeit“ vor dem Ersten Weltkrieg?
Auf jeden Fall kann man das Stück absolut gegenwärtig sehen, was wir auch tun. Wir bekommen hier das Beziehungsmodell einer bürgerlichen Ehe präsentiert, das noch ziemlich verbreitet ist. Das Bürgerliche beinhaltet da auch eine gewisse Toleranz gegenüber Seitensprüngen, zumindest, solange sie nicht publik werden. Dieses sozusagen französische Ehemodell haben wir übrigens noch etwas verstärkt, indem Christine, die im Original nur einen heftigen Flirt hat, hier tatsächlich eine Affäre hat. Vieles, was sie ihrem Mann vorwirft, ist ja ohnehin extrapolierter Selbstvorwurf. Wir finden in INTERMEZZO zwar nicht ein „Beziehungskonzept 2024“ wie in ARABELLA, aber es gibt keinen Grund, aus dem das Stück in der Kaiserzeit spielen müsste.
Bei der Uraufführung wurde INTERMEZZO sogar ganz konkret im nachgebauten Wohnzimmer der Familie Strauss inszeniert. Inwiefern ist dieser konkrete Bezug auf die Biografie des Komponisten für dich wichtig?
Mich interessiert das systemisch, aber nicht in Bezug auf Strauss. Deshalb lassen wir aus der Inszenierung zwar ihn selbst heraus, aber nicht die archetypischen Figuren, die er geschaffen hat: Marschallin, Elektra, Salome – das sind ja alles Figuren, die einen archetypischen Kern haben, in dem Menschen sich wiedererkennen. Für die Situation des Kapellmeisters Storch war für uns nicht der reale Richard Strauss wichtig, sondern vielmehr die Aufführungssituation hier an der Deutschen Oper Berlin, die explizit thematisiert wird. Ich glaube auch nicht, dass man den echten Richard Strauss durch diese Oper besser kennenlernt, weil er uns hier nicht sein reales Ich, sondern auch wiederum nur ein Bild von sich selbst zeigt – im Grunde gilt das ja für alle Autobiografien. Man lernt den realen Goethe nicht durch „Dichtung und Wahrheit“ kennen, er wird dadurch eher zu einer fiktionalen Figur.
Strauss selbst ist ja in INTERMEZZO sozusagen in zweifacher Form präsent: Einerseits steht er auf der Bühne, andererseits zeigt er uns sein Ego in den Sinfonischen Zwischenspielen, die einen erheblichen Teil der Musik ausmachen und sogar eigens im formbestimmenden Untertitel der Oper genannt werden. Wie verhalten sich diese beiden Manifestationen des Komponisten zueinander?
Ich versuche, diese Intermezzi in ihrem musikalischen Eigenwert deutlich zu machen und sie nicht als illustrierende Theatermusik zu bebildern. Deshalb zeigen wir hier das Orchester selbst im Live-Video. Im zweiten Aufzug bekommt dann das, was wir vorher gefilmt haben, auf spielerische Weise einen thematischen Bezug. Da erkunden wir, was für eine inhärente Theatralität in dieser – fast – absoluten Musik liegt. Denn anders als die meisten Opernkomponisten, die immer einen dramatischen Zusammenhang im Sinn haben, wenn sie Intermezzi in ihre Opern einschließen, denkt Strauss hier wirklich sinfonisch.
Gegenüber dem Ehepaar Storch wirken alle anderen Figuren fast nur wie Stichwortgeber und erinnern an das Figurengewimmel in ARIADNE oder auch an Figuren der Commedia dell’Arte im Alltagsgewand.
Diesen Eindruck haben wir dadurch verstärkt, dass wir mit Ausnahme der Orchesterszenen auf Statisterie verzichtet haben und stattdessen nur Mitglieder des Ensembles einsetzen, die so in kleinen Partien, aber auch stummen Rollen, beispielsweise als Passanten oder Fluggäste auftreten. Das ist im Grunde eine Konsequenz aus ihrer gesellschaftlichen Rollenhaftigkeit: Diese Figuren treten ja nur in ihrer jeweiligen sozialen Funktion für die Hauptfiguren auf. Ob sie ein eigenes privates Innenleben haben, interessiert Strauss genauso wenig wie es die meisten Menschen bei 95 Prozent der Menschen interessiert, denen sie in ihrem Alltag begegnen. Das meine ich gar nicht wertend, das ist notgedrungen so. Die soziale Funktion steht da über dem Individuum.
Selbst der junge Baron, mit dem Christine eine Affäre anfängt, scheint wie aus einem alten Lustspiel ausgeborgt.
Jedenfalls macht es Spaß, sich mit dieser Figur zu beschäftigen, auch wenn sie etwas oberflächlich sein mag. Ebenso wie innerhalb des metafiktionalen Spiels, das den Abend durchzieht, auch der echte Dirigent des Abends eine Art Cameo-Auftritt in einer Nebenrolle hat, habe ich in Ironisierung meiner selbst dem Baron einige Züge meiner eigenen Person beigegeben. Aber das sind keine semantisch eindeutigen Bezüge, sondern ihrerseits wieder falsche Spuren, die zum metafiktionalen Spiel dieses Werkes beitragen.
Das Vorbild der Christine, Pauline Strauss, galt als ziemlich verschroben und wird von ihrem Mann auch so dargestellt. Wie muss eine heutige Inszenierung dagegenarbeiten?
Das hängt sehr stark von der Persönlichkeit der Sängerin ab. Obwohl diese Christine im Zentrum steht, ist unser Blick auf sie natürlich durch den Blick des Mannes bestimmt. Da muss jede Sängerin in Zusammenarbeit mit der Regie ihren Weg finden, sich zu behaupten. Ich habe versucht, am Ende sehr klar zu zeigen, dass die Figur selbst in dem Moment, in dem sie selbst sich als absolut authentisch erlebt, doch gewissen vorgeprägten Rollenmustern folgt. Dieses Gefangensein in Rollen, die durch unsere soziale Situation vorgeprägt sind, ist letztlich auch der tragische Anteil in dieser Komödie.
Darüber hinaus gibt es auch noch ein gemeinsames Kind der Storchs. Ist dieser Franzl ein Opfer?
Ich finde die Rolle dieses Kindes großartig gezeichnet, in ihrer ganzen Ambivalenz. Die Kindheit ist hier kein Refugium der Unschuld und das Kind kein tragisches Opfer wie im WOZZECK, sondern fast ein Abbild seines Vaters, den es ja auch vehement verteidigt. Wie im realen Leben stellen sich hier automatisch Fragen wie: Wen liebt das Kind mehr? Was haben die Eltern falsch oder richtig gemacht? Damit ist Franzl eine der realistischsten und präzisesten Darstellungen eines Kindes auf einer Opernbühne überhaupt.
Am Ende steht der Satz „Das nennt man doch wahrhaftig eine glückliche Ehe“. Kannst du dem beipflichten?
Ich glaube, das ist das ironischste und mehrdeutigste Opernende, das Strauss je komponiert hat. Ironisch nicht im Sinne einer Behauptung des Gegenteils, sondern als offene Frage an uns: Was verstehen wir eigentlich unter Glück?