Eine Erotik des Hörens - Deutsche Oper Berlin
Eine Erotik des Hörens
Mit seinem Welterfolg VIOLANTA wurde der 18-jährige Erich Wolfgang Korngold 1916 zum großen Hoffnungsträger der Oper. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Werk vergessen. Wiederzuentdecken ist ein Thriller im Zeichen der Psychoanalyse
Schon der Anfang ist unvergesslich: ein dunkel vibrierendes Raunen von Kontrabässen, Celli, Klavier und tiefer Glocke, in das die Hörner einen geheimnisvollen Akkord setzen, bevor Oboe, Glockenspiel, Harfe und hohe Streicher den Klang nach oben hin auflichten, ohne ihm seine fiebrige Spannung zu nehmen. Drei Takte nur, aber sie eröffnen einen Sog, der das ganze Stück hindurch unvermindert anhalten wird – so beginnt Erich Wolfgang Korngolds VIOLANTA, Geniestreich eines Komponisten, der zum Zeitpunkt der Uraufführung am 28. März 1916 in München unter Bruno Walter gerade einmal 18 Jahre alt war.
Der fulminanten Orchestereinleitung, die sich im Gegensatz zu vielen anderen Einaktern der Zeit – man denke nur an SALOME und ELEKTRA – auf etwa fünf Minuten Dauer auswächst, folgt ein psychologischer Thriller, gekleidet ins Gewand der italienischen Renaissance, wie sie damals auf dem Theater Mode war. Erzählt wird die Geschichte Violantas, einer schönen Venezianerin, die mit dem sittenstrengen Hauptmann Simone Trovai vermählt ist, sich ihm aber verweigert, seit ihre Schwester Nerina durch Alfonso, den Sohn des Königs von Neapel, verführt wurde und Selbstmord beging, um der daraus resultierenden Schande zu entgehen. Inmitten des Karnevals, den Simone als Pfuhl der Sünde und des Lasters verabscheut, will Violanta die Gelegenheit zur Rache wahrnehmen. Im Inkognito einer Tänzerin lockt sie Alfonso in ihr Haus und überredet Simone, den verhassten »Frauengott« während des Stelldicheins zu töten. Simone stimmt zu, als Violanta ihn davor warnt, dass »Haß und Liebe […] Brüder im Herzen« seien: »Wie, wenn ich selbst einst begehrte, / was jetzt mich mit Schauern erfüllt?« Genau dies geschieht: Beim Zusammensein mit Alfonso entfährt Violanta das Geständnis, dass sie seit der ersten Begegnung leidenschaftliche Liebe für ihn empfinde. Beide durchleben einen Moment höchster Trunkenheit. Dann gibt Violanta Simone das Signal zur Tat – aber nur, um den für Alfonso gedachten Dolchstoß mit ihrem Körper aufzufangen. »Hab Dank, du Strenger – / nun ist dein Weib wieder dein!«, so lauten ihre letzten, an Simone gerichteten Worte, die in das Bekenntnis münden, erst mit dem Tod das »höchste Heil« erreicht zu haben: einen Zustand »frei von Schuld und Lust«.
Die Handlung wurde von dem Librettisten Hans Müller frei erfunden, locker inspiriert durch das noch heute im Wiener Kunsthistorischen Museum hängende Tizian-Porträt einer unbekannten Dame, der das Veilchen in ihrem Dekolleté den schönen Namen »Violante« eingetragen hat (entstanden um 1510/15). Die Renaissance-Fassade ist jedoch nicht beim Wort zu nehmen. Dahinter lauern Abgründe, die Korngolds Oper als Zeitstück par excellence ausweisen, von der Psychoanalyse ebenso beeinflusst wie von der Lebensphilosophie Friedrich Nietzsches. Keinesfalls geht es darum, dass Violanta, als vermeintlich »schwache« Frau, einfach nur den Verführungskünsten eines Playboys erliegen würde, den sie doch eigentlich bestrafen will. Alfonso ist »Frauengott« in ganz anderem Sinne, eine Inkarnation des zügellos-rauschhaften Dionysos, an dessen Epiphanie die moralische Engstirnigkeit von Violantas kleiner Welt zuschanden wird. Tugend, Sittsamkeit, Keuschheit – was Violanta seit Kindheitstagen im Zeichen christlicher Prinzipien internalisiert hat, entpuppt sich, mit Nietzsche gesprochen, als »Vampyrismus«, als eine »List, das Leben selbst auszusaugen, blutarm zu machen«. Korngolds Musik gibt den Mechanismen von zwanghafter Triebunterdrückung und ekstatischer Triebbefreiung eine geradezu schockierende Intensität. Und das Ende, in schonungslosem Moll komponiert, bildet keineswegs einen tröstlichen »Erlösungstod«, sondern stempelt Violantas Selbstopfer zur letzten Konsequenz jener Irrlehre, der sie die Bewahrung ihrer »Reinheit« bis zuletzt schuldig zu sein glaubt. Nicht fern ist hier, was Fanny Gräfin zu Reventlow, Ikone der Schwabinger Bohème, schon 1899 im Sinne einer Art von »erotischem Feminismus« postuliert hatte: »So geht mir doch mit der Behauptung, die Frau sei monogam! – Weil Ihr sie dazu zwingt, ja! Weil Ihr sie Pflicht und Entsagung lehrt, wo Ihr sie Freude und Verlangen lehren solltet.«

Müller und Korngold machen sich in der Oper zu Anwälten der Kritik an einem Frauenbild, das in den 1910er Jahren noch das herrschende war und von Stefan Zweig in dem Kapitel »Eros Matutinus« seiner Welt von Gestern unüberbietbar genau beschrieben wurde: »Diese ‚gesellschaftliche Moral‘, die einerseits das Vorhandensein der Sexualität und ihren natürlichen Ablauf privatim voraussetzte, anderseits öffentlich um keinen Preis anerkennen wollte, war […] doppelt verlogen. […] Daß ein Mann Triebe empfinde und empfinden dürfe, mußte sogar die Konvention stillschweigend zugeben. Daß aber eine Frau gleichfalls ihnen unterworfen sein könne, daß die Schöpfung zu ihren ewigen Zwecken auch einer weiblichen Polarität bedürfe, dies ehrlich zuzugeben, hätte gegen den Begriff der ‚Heiligkeit der Frau’ verstoßen.« Selten dürften die Folgen solcher Bigotterie radikaler offengelegt worden sein als in VIOLANTA: Die Tragödie der Titelfigur ist die Tragödie einer Gesellschaft, die sich aus falschem Sündenbewusstsein gegen das Leben versündigt und von der Psychoanalyse über die daraus entstehenden seelischen Schäden aufgeklärt wird. Hinter dem Venedig des 15. Jahrhunderts zeichnen sich die Konturen Wiens der Zeit um 1900 überdeutlich ab. Gerade die Tatsache, dass der 1897 geborene Korngold noch in der Pubertät war, als er seine Oper zwischen 1914 und 1916 schrieb, mag hierbei entscheidend gewesen sein, zumindest eingedenk der scharfsichtigen Selbstdiagnose Stefan Zweigs im Rückblick auf seine eigenen Teenager-Jahre: »Dieses Erwachen der Pubertät scheint nun ein durchaus privates Problem, das jeder heranwachsende Mensch auf seine eigene Weise mit sich auszukämpfen hat […]. Für unsere Generation aber wuchs jene Krise über ihre eigentliche Sphäre hinaus. Sie zeigte zugleich ein Erwachen in einem anderen Sinne, denn sie lehrte uns zum erstenmal jene gesellschaftliche Welt, in der wir aufgewachsen waren, und ihre Konventionen mit kritischerem Sinn zu beobachten.«
Nicht nur vor diesem Hintergrund ist die Radikalität des Stückes bemerkenswert und entspricht der lodernden Intensität seiner Tonsprache. Irisierende Farbenpracht im Orchester verbindet sich mit Korngolds Fähigkeit, Szenen von höchster dramatischer Spannung zu bauen, denen man atemlos folgt und die sich dann immer wieder in weiten melodischen Bögen entladen – Triebunterdrückung und Triebbefreiung auch hier, durchaus im Sinne einer erotischen Kultur des Hörens, wie sie ebenso DAS WUNDER DER HELIANE auszeichnet, jene Oper, die so etwas wie die Fortsetzung der VIOLANTA bildet. Und zwar sehr konkret, denn es ist überliefert, dass Hans Kaltneker sein Mysterium »Die Heilige«, literarische Vorlage des WUNDERS DER HELIANE, unter dem Eindruck einer VIOLANTA-Aufführung in der Wiener Hofoper (vermutlich 1917) eigens für Korngold geschrieben haben soll. Dass der HELIANE-Produktion an der Deutschen Oper Berlin nun die VIOLANTA folgt, ist nicht nur in dieser Hinsicht konsequent: Korngold bleibt jenseits seiner bekanntesten Oper DIE TOTE STADT als Bühnenkomponist immer noch wiederzuentdecken und der dramatische Prankenhieb der VIOLANTA, dessen Wucht innerhalb des Musiktheaters der Moderne keinen Vergleich zu scheuen braucht, bietet dazu den allerbesten Anlass.
Arne Stollberg ist Professor für Historische Musikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Gemeinsam mit Friederike Wißmann leitet er die »Erich Wolfgang Korngold Werkausgabe«, ein Projekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie und der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Musikgeschichte, vor allem im Musiktheater ab dem 18. Jahrhundert. Zu Korngold hat er eine Reihe von Publikationen vorgelegt und arbeitet derzeit an einer größeren Monographie über den Komponisten.