Elena Tsallagova – Mein Seelenort: Das Opernhaus von Glyndebourne - Deutsche Oper Berlin
Aus Libretto #3 (2024/25)
Elena Tsallagova – Mein Seelenort: Das Opernhaus von Glyndebourne
Elena Tsallagova glänzt bei uns als Infantin in DER ZWERG. In einem zur Oper umgebauten englischen Landsitz findet sie Inspiration
Mein Seelenort ist das Opernhaus von Glyndebourne, etwa zwei Stunden südlich von London, kurz vor der Südostküste. Hier hatte ich 2009 mein erstes großes Engagement, ich gab die Nannetta aus FALSTAFF, in England besser bekannt als Ann Ford. Diese englische Adelsgeschichte passt perfekt zu Glyndebourne, aber das wusste ich damals noch nicht, als ich mich von London aus in den Zug in Richtung Lewes setzte und dachte, ich sei wohl in die falsche Richtung gefahren. Denn Opernhäuser, das waren für mich klassizistische Bauten mit Säulen vor den Eingangsfoyers, gelegen an großen Plätzen inmitten trubeliger Städte. Und nun fuhr ich durch diese wunderschöne südenglische Landschaft und sah rechts und links nur Schafe und Kühe auf grünen Wiesen und vereinzelt Menschen vor viktorianischen Herrenhäusern – alles extrem »old fashioned«, auf gute, stilvolle Art. Und plötzlich tauchte mitten im Nirgendwo der ehemalige Landsitz mit dem angegliederten modernen Opernhaus auf, mich hat das sofort fasziniert. Wann immer ich hierher zurückkehre, muss ich an diese erste Zugfahrt denken.
Die Geschichte von Glyndebourne ist eine sehr britische, leicht exzentrische – und es ist eine Liebesgeschichte: John Christie, Landlord mit einem Faible für die Wagner-Festspiele, baut sich 1923 einen Orgelsaal als Anbau an sein Tudor-Haus, um für seine Freunde kleine private Opernaufführungen zu veranstalten. Bei einer dieser Aufführungen lernt er die Sopranistin Audrey Mildmay kennen, sie verlieben sich ineinander, heiraten und kurze Zeit später baut er ihr ein prächtiges Opernhaus im Garten seines Landsitzes, um ein wenig Bayreuth-Festival-Feeling nach Sussex zu bringen. Zusammen ziehen sie ihr Projekt Jahr für Jahr professioneller auf und übergeben irgendwann an die nächste Generation. Nachdem das alte Auditorium immer wieder erweitert worden war, lässt Johns Sohn George 1994 ein neues supermodernes Opernhaus in Glyndebourne bauen. Am Ende wurde aus den Opernabenden für 50 Freunde ein weltbekanntes Opernfestival mit 1.200 Zuschauern pro Aufführung.
Das Glyndebourne Festival ist eine durch und durch britische Angelegenheit. Die Vorstellungen beginnen schon mittags, damit das Publikum während der anderthalbstündigen Pause ausgiebig in den umliegenden Gärten spazieren und picknicken kann – in Abendgarderobe, versteht sich. Die ist beim Festival zwar nicht vorgeschrieben, aber man kleidet sich in dieser Region Englands gerne stilvoll. Ich liebe das, ich liebe ohnehin alles Britische, die Kultur, den Lifestyle, die Traditionen, die hier nie so weit gehen, dass man sich Neuem gegenüber verschließen würde Ich habe mich immer zur britischen Kultur hingezogen gefühlt, lange bevor ich zum ersten Mal hierherkam. Erst kürzlich wurde mir klar, dass ein Teil meiner Faszination in der englischen Theater- und Schauspieltradition begründet ist. Von dieser spezifischen, sehr glaubwürdigen Art zu schauspielern kann ich selbst noch viel lernen. Mir fällt das immer wieder auf, wenn ich englische Filme oder Theaterstücke sehe. Zu meinem Seelenort wurde Glyndebourne aber erst während meines zweiten Engagements 2013, als ich hier am Haus meinen Mann Ian Jackson kennenlernte. Er ist in der Region verwurzelt und hat bereits mit 12 hier auf der Opernbühne gestanden – im Kinderchor bei CARMEN. Mittlerweile ist er »Head of Planning and Company Management«, sein ganzes Leben drehte sich immer um Glyndebourne.
Dieser Ort ist auch mir ans Herz gewachsen, spätestens seit wir nicht weit entfernt vom Opernhaus in ein kleines Dorf gezogen sind. Ich bin beruflich so viel unterwegs, dass ich nur im Sommer und an Weihnachten durchgängig hier lebe, aber wann immer ich die Zeit finde, spaziere ich durch die Parkanlagen rund um das Opernhaus – und komme zur Ruhe. Wenn ich über die seichten Hügel wandere und in der Ferne sehe, wie die Bauern die Maisernte in ihre Scheunen fahren, dann bin ich glücklich. In dieser Stimmung bin ich konzentriert und aufnahmefähig für Neues: Ich habe alle meine Rollen hier einstudiert, durch die Landschaft spazierend oder mit dem Notentext auf einer der vielen Parkbänke sitzend.
Auch die Partie der Infanta aus Zemlinskys DER ZWERG habe ich hier gelernt – aber nur bis zu einem gewissen Punkt, denn irgendwann brauchte ich die Hilfe von Elda Laro, der Pianistin, Dirigentin und langjährigen Korrepetitorin an der Deutschen Oper Berlin. Elda ist unglaublich musikalisch und einfühlsam, ich verdanke ihr mein ganzes Repertoire. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass sie eine der wichtigsten Personen in meinem Leben ist. Manchmal fahre ich nur nach Berlin, um mit ihr zu lernen.
Für mein Verständnis der Rolle war noch eine Person prägend: der Regisseur Tobias Kratzer. Er hat die seltene Gabe zu wissen, was andere zu leisten im Stande sind, auch wenn diese es selbst noch nicht ahnen. Donna Clara war die erste bösartige Rolle meiner Karriere: Sie bekommt zu ihrem 18. Geburtstag einen kleinwüchsigen Menschen geschenkt und behandelt ihn wie einen Gegenstand, gefühlskalt und selbstbezogen. Aber durch die Zusammenarbeit mit Tobias habe ich einen anderen Blick auf sie gewonnen und beinahe Mitleid mit ihr. Sie ist die traurigste Figur der ganzen Oper, so sehr gefangen in ihrer Selbstbezogenheit, dass sie unfähig ist, Rührung oder Verletzlichkeit zuzulassen. Sie liebt den Gesang des Zwerges und ist von ihrer eigenen Regung entsetzt, was für eine Tragik. Ich freue mich schon jetzt, diese Zerrissenheit auf der Bühne in Berlin, meiner zweiten Heimat, zu verkörpern.