Sieben Fragen an Aigul Akhmetshina - Deutsche Oper Berlin
Sieben Fragen an Aigul Akhmetshina
Mezzo-Sopranistin Aigul Akhmetshina verkörpert in CARMEN eine Frau, die ihrer Freiheit alles opfert – die Liebe und zuletzt auch sich selbst
Für Carmen ist Freiheit das wichtigste Gut. Sie steht für sie über allem. Können Sie sich damit identifizieren?
Carmens Freiheit liegt in meinen Augen darin, dass sie brutal ehrlich ist. Mit den anderen, aber auch mit sich selbst. Sie folgt ihrem Gefühl und sagt ganz klar: »Das kann ich, das will ich, das nicht«. Damit kann ich mich sehr gut identifizieren, selbst, wenn ich diese Stärke erst lernen musste. Man verbringt so viel Zeit damit, es allen recht machen zu wollen, bis man versteht, dass es niemandem etwas nützt, wenn man sich verbiegt, nur um den anderen zu gefallen. Man macht damit weder sich noch die anderen glücklich. Ich glaube, dass Carmens Suche nach Freiheit neben der wunderbaren Musik auch den anhaltenden Erfolg dieser Oper ausmacht: Wir wären alle gerne mehr wie sie.
Carmen ist frei, darin aber auch ein wenig skrupellos. Sie spielt mit den Männern. Ist sie denn in der Lage, wirklich zu lieben?
Ich würde nicht sagen, dass sie mit ihnen spielt – und wenn, dann nur in dem Rahmen, in dem die Männer es zulassen. Sie ist absolut ehrlich und sagt, was sie will und was nicht. Wenn sie mitmachen, ist das ja ihre freie Entscheidung. Deshalb glaube ich auch, dass sie durchaus in der Lage ist, zu lieben. Sie liebt sogar sehr aufrichtig. Zu hundert Prozent. Nur verbrennen ihre Gefühle schneller als bei anderen, einfach weil sie extremer sind. Carmen will sich ganz erleben und hat keine Lust darauf, Kompromisse einzugehen. Heute sind wir so daran gewöhnt, alles abzuwägen und zu analysieren, dass uns diese Intensität fremd und vielleicht sogar skrupellos erscheint. Wohl auch deshalb ist sie so faszinierend.
Carmen lebt nach ihren eigenen Regeln. Macht sie das zur Feministin?
Ja und nein. Natürlich unterscheidet sie sich sehr vom gängigen Typus der sich aufopfernden Frau: Sie geht ihren Weg, lässt sich nicht kontrollieren oder reinreden. Das war damals ungewöhnlich und wirkte skandalös. Jedoch tut sie das meiner Meinung nach ausschließlich für sich. Carmen kämpft nicht für eine Gruppe, sondern für sich allein. So gesehen ist sie in der Tat egoistisch. Zwar sorgt sie sich um andere, ihre Freundinnen zum Beispiel, aber sie ist die Anführerin. Am Ende entscheidet sie.
Ist das nicht auch eine sehr einsame Position?
Carmens Freiheit bringt große Einsamkeit mit sich. Es ist schwer für sie, anderen wirklich nah zu sein. Ich weiß nicht, ob es für sie möglich gewesen wäre, jemanden zu finden, der sie so akzeptiert, wie sie ist. Jemanden, der sie schützt, aber ihr auch den Raum lässt, den sie braucht. Darin ist sie sehr aktuell: Ich kenne so viele unabhängige schöne, tolle Frauen, die allein sind, weil Männer Angst vor ihnen haben und offenbar denken, dass starke Frauen niemanden brauchen. Doch das ist vollkommen falsch. Am Ende des Tages brauchen wir alle jemanden, der uns unterstützt und da ist.
Was denken sie, woher stammt Carmens extreme Unabhängigkeit?
Das ist für mich eine große Frage. Wir wissen nichts über ihre Vorgeschichte, wie sie aufwuchs, was ihr widerfuhr. Womöglich wurde sie missbraucht? Oder sie machte eine andere prägende Erfahrung. Sicher ist: Sie zählt auf niemanden.
Die Männer sind von Carmens Freiheit fasziniert, kommen aber nicht damit zurecht. Am Ende kommt es zu einem Femizid: Ihr Liebhaber bringt sie um, weil sie ihn verlassen will. Wie stehen sie zu diesem leider noch aktuellen Aspekt der Oper?
Carmens Tod lässt sich auf unterschiedliche Art und Weise interpretieren. Manchmal denke ich, dass sie sterben wollte, weil sie wusste, dass sie nicht leben kann, da ihre Gefühle zu stark waren. Dann wiederum scheint mir ihre Ermordung für die extreme Schwäche des Don José zu sprechen: Er verwechselt Lieben mit Besitzen und kommt mit ihrer Freiheit und Ehrlichkeit nicht klar. Er will sie kontrollieren, will, dass sie ganz sein ist, und da es ihm nicht gelingt sie einzufangen, tötet er sie. Das ist entsetzlich tragisch. Und leider in der Tat sehr aktuell.
Sie singen die Carmen in der kommenden Saison in München, Berlin, New York, London. Was verbindet sie mit dieser Figur?
Carmen ist für mich eine sehr wichtige Rolle, sie begleitet mich seit dem ersten Tag meiner Karriere. Mein erster Auftritt in London war 2017 als Carmen in LA TRAGÉDIE DE CARMEN von Bizet und später als Mercédès in CARMEN. Im Jahr darauf war ich dann die jüngste Carmen in der Geschichte des Royal Opera House. Die Produktion wurde damals per live-Stream in die ganze Welt ausgestrahlt, das war mein Durchbruch. Seitdem hat sich meine Karriere vollkommen verändert. Ich habe Carmen nun seit zwei Jahren nicht gesungen und freue mich sehr, sie an der Deutschen Oper Berlin wieder neu zu entdecken. Denn das ist das Schöne an Carmen: Sie ist so reich, so komplex, dass sich immer wieder neue Facetten auftun.