Zwölf Fragen an Aribert Reimann - Deutsche Oper Berlin
Zum 4. März
Zwölf Fragen an Aribert Reimann
Aribert Reimann ist mit der Deutschen Oper Berlin verbunden, seit er nach seinem Abitur Korrepetitor am Haus war. Nun feiert der große deutsche Komponist seinen 85. Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch!
Herr Reimann, Sie werden 85 – und haben ein Jahr Corona hinter sich. Wie geht es Ihnen?
Es ist furchtbar traurig, dass ich meinen Geburtstag nicht in der Deutschen Oper Berlin feiern kann, wie wir es geplant hatten. Eigentlich sollte an dem Tag ja die Wiederaufnahme von L’INVISIBLE gezeigt werden. Tja, was soll man dazu sagen? Im Moment wird ja alles abgesagt, da habe ich volles Verständnis.
Sie gehören zur Risikogruppe. Wie haben Sie das Coronajahr erlebt?
Natürlich sehe ich kaum Menschen, nur einige enge Freunde. Ich gehe nur noch zum Einkaufen vor die Tür, oder zu sehr wichtigen Terminen. Sechs Premieren mit meinen Werken konnten nicht stattfinden und einige Konzertaufführen mit Stücken von mir. Alles abgesagt. So viele Absagen habe ich überhaupt noch nie erlebt.
Wie vertragen sich Corona und das Komponieren?
Meine Arbeit beeinflusst das gar nicht weiter. Wissen Sie, als Komponist lebt man immer zurückgezogen. Und wenn man an einem großen Projekt arbeitet wie ich im Moment, ist man der Welt eh abhandengekommen. Ich bin nur in meinem Arbeitsraum, ich denke nur in dem Stück. Das war in den heißen Phasen des Opernschreibens bei mir immer so.
Worüber machen Sie sich momentan Gedanken?
Ich denke jeden Tag an die vielen Sänger und Instrumentalisten, die gerade nicht singen oder spielen können. Für die Interpreten ist das eine Katastrophe.
Welche Erkenntnisse hat Ihnen das Coronajahr gebracht?
Ich vermute, diese Krise führt zu einem Umdenken, was den Missbrauch der Natur betrifft. Das geht ja Hand in Hand. Ich denke viel darüber nach, dass unser Leben, wie wir es gewohnt waren, eben nicht selbstverständlich war. Wissen Sie, ich habe sehr bewusst den Krieg und die Nachkriegszeit erlebt.
Wie hilft Ihnen diese Kriegserfahrung heute?
Ich trage dieses tiefe Bewusstsein in mir, dass nichts von Bestand ist. Es kann jeden Tag ein Krieg ausbrechen, nichts ist verbindlich. Ich bin mit Entbehrungen großgeworden, dadurch kann ich mit Mangel besser umgehen als jüngere Generationen. Nach dem Krieg waren wir als Familie vier Monate auf der Flucht. Wir waren nur mit einem Handkarren unterwegs, so wie bei Mutter Courage. Da war ich neun. Das Einzige, was wir hatten, war ein Karton voller Knorr-Suppenwürfel, damit haben wir überlebt.
Die Oper L’INVISIBLE, die an Ihrem 85. Geburtstag am 4. März in der Deutschen Oper Berlin gezeigt werden sollte, haben Sie Ihrem Bruder gewidmet, der bei einem Bombenangriff ums Leben kam. Auf welche Weise konfrontiert Sie das Werk mit Ihrem eigenen Schmerz?
Die drei Kurzdramen von Maurice Maeterlinck, auf die das Stück aufbaut, hatten mich schon Jahre beschäftigt. Vor allem der dritte Teil, La Mort de Tintagiles, hat sich in meiner Vorstellung sehr mit meinem Bruder verwoben: der Junge Tintagiles wird geraubt von einer unsichtbaren Königin. Ich wusste, ich muss etwas für meinen Bruder schreiben, aber es hat siebzig Jahre gedauert, bis ich es schreiben konnte. Es war der 6. März 1944, ich war acht Jahre alt, als der Tod über mich einbrach. Bei dem Angriff auf Templin kam mein Bruder ums Leben. Ich konnte kaum darauf reagieren, als mir das mitgeteilt wurde. Ich verstummte. Mein Bruder spielte in meinem Leben eine sehr große Rolle, weil wir als Kinder öfter gemeinsam weggeschickt wurden, wegen der Bombenangriffe. Er war fünf Jahre älter als ich. Er hat auf mich aufgepasst. Ich hing wahnsinnig an ihm und er an mir. Als ich das Stück fertig hatte, fühlte ich mich erlöst.
Was können wir gerade jetzt von L’INVISIBLE lernen?
Man kann aus diesem Stück natürlich auch heute lernen, dass der Tod allgegenwärtig ist. Seit dem Tag im März 1944 war der Tod für mich immer mein Begleiter. Mir war klar: Irgendwann sind wir alle dran.
L’INVISIBLE dreht sich auch um die Hilflosigkeit der Menschen, dem Tod zu begegnen. Was können wir von ihrer Musik über Trauer lernen?
Man kann sich nicht an Trauer festbeißen. Trauer ist in Bewegung, sie verwandelt sich – auch wenn es manchmal dauert. Ich hatte lange Zeit das Gefühl, ich muss einmal in meinem Leben eine Oper gegen den Krieg schreiben. Im April 1945, drei Wochen vor der Kapitulation, habe ich erlebt, wie Potsdam in einer Nacht zerstört wurde. Diese Nacht war fürchterlich. Eine Apokalypse. Vierzig Jahre später schrieb ich diese Oper gegen den Krieg, TROADES, nach einem antiken Stoff von Euripides. Kurz bevor die Oper fertig war, träumte ich jede Nacht von meiner Mutter. Ich verstand: Sie will, dass ich ihr das widme. Kaum hatte ich das getan, verschwand sie aus meinen Träumen. Ich fühlte mich erlöst. Es ist berührend, wie das alles zusammenhängt: die Arbeit als Komponist, die Gedanken, die Trauer, das Erlebte. Das kann man nicht trennen, wir sind ja keine Maschinen. Trotzdem wird es in meiner künstlerischen Arbeit niemals nur um das Persönliche gehen. Ich kann keine Stoffe vertonen, die nicht auch gesellschaftlich relevant sind.
„Es gibt immer Hoffnung, in jedem Stück“ haben Sie einmal gesagt: Was ist Ihre Hoffnung jetzt gerade?
Meine Hoffnung ist, dass wir das Virus gemeinsam überwinden. So wie wir im Krieg gehofft haben, dass er irgendwann zu Ende geht. Es ist es doch ein Wunder, dass in so kurzer Zeit Impfstoffe entwickelt werden! Deshalb bin ich so dankbar, dass ich gerade meine Aufforderung zum Impfen bekommen habe.
Pandemiebedingt sind alle Feste abgesagt. Wie feiern Sie?
Im kleinen Kreis mit ein paar Menschen, die mir sehr nahe sind. Mehr ist nicht möglich.
Ihr größter Geburtstagswunsch?
Dass ich mein Projekt fertig schreiben kann – da werde ich sicher noch zwei Jahre dran arbeiten. Und danach habe ich noch einen Auftrag! Ich wünsche mir, dass ich gesund bleibe, damit ich meine Arbeit beenden kann.