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Fragen an ... Liv Redpath - Deutsche Oper Berlin

Fragen an ... Liv Redpath

Die Sopranistin Liv Redpath singt in LUCIA DI LAMMERMOOR die Heldin. Ein Gespräch über das Verhältnis von Verrücktheit und Vernunft

Lucia di Lammermoor
Dirigent Christoph Gedschold
Regie Filippo Sanjust
Mit Ernesto Petti, Liv Redpath, Ioan Hotea, Ya-Chung Huang, Henning von Schulman, Arianna
Manganello, Patrick Cook  u. a.
4., 6., 11. März 2022

Muss man den Wahnsinn fühlen, um ihn zu spielen?
Die Frage ist doch: Was bedeutet es, wahnsinnig zu sein? Menschen, die an einer Psychose leiden, halten sich selbst in der Regel nicht für verrückt. Im Gegenteil, sie haben oft ein in sich kohärentes Weltbild. Dieser Gedanke hilft mir, mich in Lucia einzufühlen.

Geraten Sie selbst in einen Zustand des Furors beim Singen?
Hier zeigt sich Donizettis Meisterschaft. Wenn man die richtige Stimmfarbe für die Partie hat, dann passiert das von ganz alleine. Die Passagen sind so komponiert, dass man als Sängerin gar nicht anders kann, als sie zu fühlen – auch den Furor.

Am Ende stirbt Lucia. Lässt sich ihrem Tod etwas Positives abgewinnen?
Sie gewinnt durch ihren Tod ihre Handlungsmacht zurück. Der Wahnsinn widerfährt ihr nicht, sie entscheidet sich für ihn. Die Alternative wäre ein Leben unter ständiger Beobachtung an der Seite eines Mannes, den sie nicht liebt – eine andere Form von Tod.

Die Wahnsinnsarie gilt als eine der schwierigsten Szenen der Opernwelt. Wie bereiten Sie sich vor?
Um ehrlich zu sein: Ich finde sie gar nicht so schwierig. Die größte Herausforderung besteht darin, mich in Lucias Lage zu versetzen. In ihrem Kopf herrscht Chaos, die Gefühle wechseln sich unvermittelt ab, alles geschieht gleichzeitig. Es ist so, als würde man die Nadel immer wieder auf einer anderen Stelle der Platte ansetzen, so sehr wird man in wechselnde Emotion hineingeschleudert. Meine Stimme muss dieses Chaos widerspiegeln.

Und wie schaffen Sie es, in dieses Chaos einzutauchen?
Einerseits indem ich mir Lucias Umstände klarmache. Sie wird zum Spielball mächtiger Männer, sie hat keine Chance. Wer würde da nicht verrückt werden? Andererseits hilft mir die Musik. Noch in der Mitte der Oper singt sie wunderschöne und sehr kontrollierte kleine Schlaflieder. Von da ist es ein weiter Weg bis zum Furor der Wahnsinnsarie, aber er kommt eben nicht aus dem Nichts. Donizetti führt mich als Sängerin langsam in diesen Zustand. Auf einer musikalischen Ebene versteht man diese Entwicklung intuitiv.

Wahnsinn bedeutet Kontrollverlust, sie jedoch müssen ihn mit großer Präzision darbieten. Wie geht das zusammen?
Auf den ersten Blick ein Widerspruch. Am Ende ist es wie mit jeder Partie: Sie muss einem in Fleisch und Blut übergehen, damit man sich wirklich in die Rolle begeben kann.

Was nehmen Sie persönlich aus LUCIA DI LAMMERMOOR mit?
Es mag merkwürdig klingen, aber angesichts der Ausweglosigkeit ihrer Situation erscheint mir Lucias Entscheidung für den Wahnsinn beinahe als ein Akt der Vernunft. Die Oper lässt mich über das Verhältnis von Rationalität und Irrationalität nachdenken. Denn man könnte ja auch die Frage stellen: Wer ist hier eigentlich verrückt – eine Gesellschaft, die solche Ungerechtigkeiten hervorbringt, oder eine Frau, die daran zerbricht?

Gibt es etwas, das wir von Wahnsinnigen lernen können?
Interessante Frage. Ich glaube, Wahnsinnige – wir würden heute natürlich von psychisch Erkrankten sprechen – sind Figuren, die uns noch immer auf gesellschaftliche Missstände hinweisen können. Natürlich ist das nicht immer der Fall, aber wir wissen doch, dass viele Erkrankungen durch Lebensumstände begünstigt werden. Sie werfen also immer ein Licht auf die Gesellschaft, die sie hervorbringen.

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