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Frankenstein – Jenseits des Monsters - Deutsche Oper Berlin

Frankenstein – Jenseits des Monsters

Ein Musiktheater-Abend mit Neukompositionen von Gordon Kampe, musikalischen Überschreibungen von Rameau bis Radiohead und Texten von Ovid bis Mary Shelley blickt hinter den Mythos „Frankenstein“

 

Christopher Nell, Anna Rot
Frankenstein © Thomas Aurin
 
 

 

Vom Kindstod zum modernen Schöpfungsmythos

„Habe geträumt, dass mein kleines Baby wieder zum Leben erwacht ist; dass es nur kalt war und wir es nur ordentlich vor dem Feuer aufwärmen mussten und es konnte wieder leben. Wache auf und sehe kein Baby. Ich denke jeden Tag an das kleine Ding.“ So notiert Mary Godwin am 19. März 1815 in das gemeinsam mit ihrem Partner Percy Shelley geführte Tagebuch. Wenige Tage zuvor war ihr schon im siebten Monat geborenes, erstes Kind gestorben. Noch drei weitere Kinder sollten Mary und Percy später bekommen, nur eines davon wird die ersten Lebensjahre überleben. Mary selbst wird fast an den Folgen einer Fehlgeburt sterben. Die hohe Sterblichkeitsrate bei Neugeborenen – und deren Müttern – im 19. Jahrhundert wird an solchen Einzelschicksalen erschreckend deutlich sichtbar.

 

Vielleicht ist es kein Zufall, dass bald darauf – im verregneten Sommer 1816 – in der fruchtbaren Gesellschaft Lord Byrons und seines Leibarztes John Polidori am Genfer See, Mary die Idee für ihren ersten Roman hat: Inspiriert von den gothic novels der britischen Romantik, den Ideen der Galvanisten und neuesten wissenschaftlichen Experimenten sowie der Lektüre von Miltons „Paradise Lost“ erschafft sie eine der prägenden Geschichten der Moderne: „Frankenstein“. Ein kühner Entwurf, den die 19-jährige nach und nach ausformuliert, und zwei Jahre später – inzwischen verheiratet, zunächst anonym, dann unter dem Namen ihres Gatten Percy Shelley – veröffentlicht.

 

Christopher Nell
Frankenstein © Thomas Aurin
 

 

Die Geschichte vom „modernen Prometheus“ Doktor Frankenstein, der eine aus Leichenteilen zusammengesetzte Kreatur erschafft und zum Leben erweckt, dann aber nicht für seine Konsequenzen einstehen will, vor allem aber die existenzialistischen Fragen der namenlosen Kreatur, die Plutarch, Milton und Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ liest und sich bildet, überführen die alten Mythen vom „homo plasticator“, vom „schöpfenden Menschen“ in die Moderne. Prometheus, in der griechischen Mythologie selbst Teil einer entmachteten, alten Götterwelt, ist in Ovids „Metamorphosen“ nicht nur Bringer des Feuers, sondern soll Menschenschöpfer selbst gewesen sein. Parallel zur christlich-jüdischen Schöpfungsgeschichte schafft er den Menschen als Ebenbild der Götter. Für seine Hybris, die göttlichen Gebote ignoriert zu haben, wird er bestraft – der Topos des an den Kaukasus gefesselten Titanen ist heute ungleich stärker als das des Menschenschöpfers und -freundes Prometheus.

 

Mary Shelley gibt in ihrer modernen Fort- und Überschreibung nun nicht nur dem Schöpfer, sondern auch dem „Geschöpften“ eine Stimme: Das Monster konfrontiert Dr. Frankenstein mit dem Vorwurf „Verfluchter, verfluchter Schöpfer! Weshalb lebte ich?“. Die Schöpfung fordert den sich zum Schöpfer aufschwingenden Menschen auf, die Konsequenzen zu übernehmen. „Ersucht’ ich Dich, O Schöpfer, mich aus Lehm zu einem Menschen zu schaffen? Bat ich Dich, aus ew’ger Nacht mich zu erheben?“ Dieses Zitat aus Miltons „Paradise lost“ steht dem Roman vor – und es fasst die Anklage des Monsters konsequent zusammen.

 

Christopher Nell, Anna Rot
Frankenstein © Thomas Aurin
 

 

Die Schöpferin hinter dem Monster

Mary Shelleys Roman ist heute vor allem durch die zahlreichen Verfilmungen und Bearbeitungen bekannt und Teil des popkulturellen Gedächtnisses geworden. Doch fokussieren die meisten Fassungen den Moment des Schöpfungsaktes selbst, konzentrieren sich auf die Horror-, Grusel- und Splatter-Aspekte und machen die Kreatur zu einem tumben, sprachlosen Monster und Dr. Frankenstein zum Abziehbild des verrückten Wissenschaftlers. Die vielfältigen philosophischen Implikationen des Romans werden marginalisiert. Die Autorin selbst verschwindet dabei komplett hinter ihrem Werk und hinter ihren Figuren. Dabei liest sich ihre Biografie selbst wie ein Roman: Mary Godwin wurde am 30. August 1797 in London als erstes Kind von William Godwin und Mary Wollstonecraft geboren. Ihre Mutter, die 1792 mit „A vindication of the rights of woman” eine der grundlegenden Schriften der europäischen Frauenrechtsbewegung veröffentlicht hatte, starb nur elf Tage nach Marys Geburt.

 

Jens Holzkamp, Andrew Dickinson
Frankenstein © Thomas Aurin
 

 

Ihr Vater, der im gleichen Jahr wie seine spätere Frau sein Hauptwerk „Enquiry Concerning Political Justice“ publizierte, worin er die Französische Revolution feierte und die Ehe als unsinniges Monopol anprangerte, war zu einem der Vordenker des Sozialismus und des politischen Anarchismus geworden – später milderten sich viele seiner radikalen Ansichten ab. Der junge Schriftsteller Percy Bysshe Shelley war fasziniert von den Ideen Godwins und gehörte zu einem größeren Kreis von Bewunderern. Die 15-jährige Mary kam, nachdem sie mehrere Jahre bei befreundeten Familien verbracht hatte, im Mai 1814 zurück nach London, wo Percy mit seiner Frau Harriet mittlerweile ein fast täglicher Gast im Haus der Godwins geworden war. Zwischen Percy und Mary entwickelte sich bald eine Freundschaft – sie besuchten gemeinsam das Grab von Marys Mutter, diskutieren und lasen Bücher. Aus Freundschaft wurde Liebe – und im Juli reiste Percy mit Mary auf das europäische Festland, sie wurden begleitet von Marys Halbschwester Claire. Mit nur wenig Geld schlugen sich die drei durch Frankreich und die Schweiz, kehrten aber bald über Deutschland und die Niederlande zurück nach London. William Godwin verurteilte die Beziehung zutiefst und entzog seiner Tochter jegliche Unterstützung. Mittlerweile hatte sich Percy von seiner schwangeren Frau Harriet getrennt – obwohl er sie zunächst noch mit auf die kleine Europareise mit seiner Geliebten eingeladen hatte: Percy nahm die Grundsätze einer freieren Eheführung, die Godwin postuliert hatte, durchaus ernst – traf dabei aber immer wieder auf gesellschaftliche Grenzen. Später wird Harriet Selbstmord begehen – Percy bekommt nicht das Sorgerecht für die beiden gemeinsamen Kinder zugesprochen, kann nun aber Mary heiraten.

 

Den Sommer 1816 verbringen Mary und Percy, wiederum mit Claire, am Genfer See. In Gesellschaft von Lord Byron – der später mit Claire ein Kind bekommen soll – und dessen Leibarzt John Polidori entstehen eine Reihe von Gruselgeschichten, darunter auch Marys Idee vom skrupellosen Wissenschaftler, der eine aus Leichenteilen zusammengesetzte Kreatur zum Leben erweckt. Bald darauf beginnt Mary die Geschichte zu einem Roman auszuarbeiten, der 1818 zunächst anonym veröffentlicht wird. Die Shelleys verbringen die folgenden Jahre in Italien, hier soll Percy Shelley dann 1822 bei einem Segelunfall ums Leben kommen. Mary wird bis zu ihrem frühen Tod mit 53 Jahren 1851 als Schriftstellerin und Herausgeberin aktiv bleiben.

 

Sandra Hamaoui, Christopher Nell, Anna Rot, Paul Hübner
Frankenstein © Thomas Aurin
 

 

Mary Shelleys kühnes Erstlingswerk überschattet heute ihre späteren Romane, die ebenso wie „Frankenstein“ durch ihre teils assoziative und sprunghafte Erzählweise durchaus modern und zeitgenössisch anmuten. In „Frankenstein“ schaffte Mary Shelley es, die implizierten Sinn- und Daseinsfragen des antiken Prometheus-Mythos in romantische Topoi zu übertragen: Der überambitionierte Wissenschaftler, der die Verantwortung für sein „Kunstwerk“ nicht übernehmen will; das Monster als eine Varianz des „wilden Fremden“, der sich bildet und zum verzerrten Spiegelbild seines Schöpfers wird; die Frage nach dem Sinn der Schöpfung und der Wunsch nach einem [weiblichen] Gegenüber – all diese angerissenen, zum Teil nur skizzenhaft aufleuchtenden, Aspekte der Frankenstein-Geschichte weisen hin auf maßgebliche philosophischen und soziologische Fragestellungen, die weit über das 19. Jahrhundert hinaus diskutiert wurden und werden.

 

Ein Essay von Lars Gebhardt, seit 2017 Dramaturg an der Deutschen Oper Berlin