Aus dem Programmheft

Freiheit – und dann?

Harald Hodeige über Ludwig van Beethovens FIDELIO

In Beethovens einziger Oper gibt es keine in Liebesschmerz zerfließende Diva und keinen Tenor, der hingebungsvolle Arien schmettert. Es gibt keinen Herrscher, um dessen Entscheidungen man sich sorgen müsste, und keinen launischen Gott, dem die Menschheit ausgeliefert wäre. Niemandem wird der Hof gemacht, gestorben wird überhaupt nicht. Schon aufgrund dieser Äußerlichkeiten steht FIDELIO an der Schwelle zum 19. Jahrhundert außerhalb der damals gängigen Operntradition. Persönliche Befindlichkeiten in Sachen Liebesglück [bzw. -pech] sind zweitrangig. Jaquino etwa, dessen Verlobte sich plötzlich in einen anderen „Mann“ verliebt, bekommt zu keinem Moment Gelegenheit, in einer Arie darzulegen, was er eigentlich davon hält: Nach dem ersten Streit mit Marzelline darf er nur noch in Ensembles mitsingen, das große Ganze ist wichtiger als sein persönliches Befinden. Dabei sind er und Marzelline das „niedere Paar“ des traditionellen Opernschemas, das als Kontrapunkt die ernste Haupthandlung aufzulockern hat – man sollte annehmen, dass beiden ausreichend Raum gegeben würde. Mitnichten. Denn auch Marzelline, die anfangs noch vom Eheglück mit ihrem vermeintlichen neuen Geliebten träumt, wird im Jubel-Finale ebenfalls nicht nach ihrer Sicht der Dinge gefragt. Ob sie und Jaquino miteinander glücklich werden, ist zweitrangig. Schließlich geht es Beethoven in dem gemeinhin als revolutionäre „Rettungs-“ bzw. „Freiheitsoper“ bezeichneten Werk um Höheres, für das jeder seinen Preis zu zahlen hat, wobei Regisseur David Hermann bereits hier ein erstes Fragezeichen setzt. Für ihn ist das Stück nämlich – zwingendes Bonmot – eine Oper, in der es sich vor allem um Gefangenschaft handelt. FIDELIO beginnt noch ganz im Stil der Wiener Spieloper. Allerdings startet das Ganze schon bald in Richtung universelles Ideendrama durch, das Beethoven während der langen und verwickelten Werkentstehung immer mehr in den Fokus gerückt hat.

 

Die Märtyrerkrone

Das 1799 von Emanuel Schikaneder gegründete Theater an der Wien stand von Anfang an in Konkurrenz zum Wiener Hoftheater. Der Schauspieler, Regisseur und Impresario, der seit 1773 Mitglied der umherreisenden Moserschen Schauspielgesellschaft gewesen war [so hatte ihn Mozart 1780/1781 in Salzburg kennengelernt], verfügte über genaueste Kenntnisse des Wiener Theaterbetriebs, da er bereits umfassende Erfahrungen als Direktor des Theaters im Starhembergschen Freihaus auf der Wieden hatte sammeln können, das als Bestandteil einer steuerbegünstigten Trabantenstadt mit 225 Wohneinheiten gewissermaßen als Sozialeinrichtung fungierte. Mit dem Theater an der Wien rückte er näher ins Stadtzentrum vor, und im August 1802 hatte hier Luigi Cherubinis Comédie lyrique LES DEUX JOURNÉES OU LE PORTEUR D'EAU [DER WASSERTRÄGER] ihre gefeierte Premiere: eine auf dem Nervenkitzel der äußeren Handlung aufbauende zeitgenössisch-französische „Rettungsoper“, ohne die es FIDELIO wohl nicht gegeben hätte: Erzählt wird von einem einfachen Wasserlieferanten, der sich mit Zivilcourage und Humanität in den Dienst des politisch verfolgten Parlamentspräsidenten Graf Armand stellt.

Nachdem Beethoven am 5. April 1803 mit der Premiere des Oratoriums „Christus am Ölberge“ an dem Haus seinen Einstand gegeben hatte, stand für ihn bald auch ein erstes Opernprojekt an, das im März 1804 über die Bühne gehen sollte: VESTAS FEUER nach einer Textvorlage von Schikaneder. Es entstand die Eröffnungsszene – 81 Seiten des Manuskripts sind überliefert, rund 20 Minuten Musik –, bevor Beethoven die Arbeit abbrach, da Schikaneder ausgebootet worden war und seinen Posten verloren hatte. Ein neues Opernvorhaben ließ nicht lange auf sich warten: LEONORE bzw. FIDELIO, ein Bühnenwerk, das Beethoven ab dem Jahreswechsel 1803/1804 als „work in progress“ in den nächsten 11 Jahren immer wieder beschäftigen sollte. Noch Anfang März 1814 übersandte er an seinen letzten Librettisten Georg Friedrich Treitschke den Stoßseufzer: „Die Oper erwirbt mir die Märtirerkrone“.

 

„Lebenswahre historische Ereignisse“

Joseph Sonnleithner, Schikaneders Amtsnachfolger und bald auch Sekretär des Wiener Kärntnertortheaters, lieferte den Text zur „Ur“-LEONORE: eine Übersetzung und Bearbeitung des Librettos LÉONORE OU L'AMOUR CONJUGALE aus der Feder von Jean-Nicolas Bouilly, das in einer Vertonung von Pierre Gaveaux am 19. Februar 1798 am Pariser Théâtre Feydeau seine erfolgreiche Premiere hatte und dort bis 1801 im Repertoire blieb. Die Geschichte basierte, wie Bouilly später in seinen 1836/1837 erschienenen Memoiren „Mes Récapitulations“ berichtete, auf einer wahren Begebenheit, die sich im französischen Département Indre-et-Loire zugetragen hatte: „lebenswahre historische Ereignisse“, bei denen ein von Machtmissbrauch betroffener Aristokrat gerettet wurde; Bouilly behauptete, er selbst habe eine gewisse Madame de La Valette bei ihren Versuchen unterstützt, ihren unschuldigen Mann vor der Guillotine zu bewahren. Verglichen mit den Legenden der klassischen Mythologie, die das Theater im achtzehnten Jahrhundert geprägt hatten, musste die Geschichte in ihrer plakativen Zeichnung ungemein aktuell gewirkt haben – unterstützt von den allgemeinverständlichen, sprechenden Namen, die Bouilly seinen Figuren gab: FIDELIO leitete er vom lateinischen „fidelis“ ab [treu, zuverlässig], Florestan von „florus“ [blühend, prächtig], womit die beiden Lichtgestalten der Geschichte genannt wären. Roc, Beethovens Rocco, gibt sich standhaft wie der sprichwörtliche Fels in der Brandung, auch wenn ihn der verlockende Schimmer des Goldes in Versuchung führt. Der Name Dom Pizare stand damals für den Missbrauch königlicher Macht durch die spanischen Conquistadores während ihrer brutalen Eroberung der Neuen Welt. Und das Buffo-Paar, das traditionell die beiden Helden spiegelt, trägt typische Dienstbotennamen im Diminutiv: Jaquino = kleiner Jakob und Marceline/Marzelline = Mariechen. Allerdings verlegte der französische Dramatiker die Geschichte, die sich in Frankreich zur Zeit des Jakobiner-Terrors ereignet haben müsste, als „fait historique espagnol“ in ein spanisches Staatsgefängnis in der Nähe von Sevilla. Aus dem Bösewicht Pizare einen Repräsentanten der Revolutionsregierung zu machen, wäre 1793, als das Stück entstand, und wohl auch noch zur Zeit der Uraufführung zu heikel gewesen. Dieser Kunstgriff wurde auch in der italienischen Adaption LEONORA OSSIA L'AMOR CONJUGALE übernommen, die am 3. Oktober 1804 in einer Vertonung von Ferdinando Paërs in Dresden erstmals über die Bühne ging.

 

Oper zwischen den Fronten

Die für Sommer 1805 avisierte Uraufführung von Beethovens LEONORE verzögerte sich, weil die Zensur die politische Brisanz des Stoffs mit einer gegen Despotenwillkür agierenden Protagonistin erkannt und Einspruch erhoben hatte. Sonnleither reagierte prompt und katapultierte das Geschehen in ferne Vergangenheit: „Es ist wahr, ein Minister mißbraucht seine Gewalt, aber nur zur Privatrache – in Spanien – im 16. Jahrhunderte –, aber er wird bestraft, durch den Hof bestraft, und der Heroismus der weiblichen Tugend steht [diesem Vergehen] gegenüber.“ Weiterhin lancierte er in seiner Korrespondenz mit der k.u. k. Polizei-Hofstelle den Hinweis, dass „Ihre Majestät die Kaiserinn Königinn [Maria Theresia von Sizilien, die Frau von Kaiser Franz I. von Österreich] das Original sehr schön finden, und mich versichert haben, daß kein Operntext höchstdenselben jemahls so viel Vergnügen gemacht habe“. Im Übrigen seien „bereits Proben gehalten […] worden […], da diese Oper am Namensfest Ihrer Majestät der Kaiserinn gegeben werden soll.“ Die Behörde ging Sonnleither auf den Leim und gab das Stück frei, wenn auch mit der Forderung, die „grobsten Scenen“ zu überarbeiten. Im Manuskript sucht man nach derartigen Änderungen allerdings vergebens.

Die Oper wurde gegen Beethovens Willen als FIDELIO, ODER DIE EHELICHE LIEBE angekündigt, wohl um Verwechslungen mit Paërs LEONORA zu vermeiden. Die Premiere am 20. November 1805 im Theater an der Wien wurde von den politischen Ereignissen überrollt. Napoleon, der sich in der Kathedrale von Notre Dame zum Kaiser gekrönt hatte, war wenige Tage vorher mit seinen Truppen in der österreichischen Hauptstadt einmarschiert. Die zur Premiere erwarteten Adligen waren geflohen, und die ehemals französische LEONORE geriet zwischen die Fronten. In der besetzten Stadt, heißt es in August von Kotzebues Zeitschrift „Der Freimüthige“, herrschte „eine ganz ungewöhnliche Stille […]. Natürlich war es, daß man wenig an Zeitvertreib dachte, wo die Sorge für die Erhaltung so mächtig wirkte, und die Furcht vor möglichen Collisionen und unangenehmen Auftritten so Manchen und Manche zu Hause erhielt.“ Außerdem war das zu der Zeit noch dreiaktige Bühnenwerk weder dramaturgisch noch musikalisch ausgereift, weshalb in der gleichen Zeitung zu lesen war: „Eine neue Beethovensche Oper: FIDELIO, ODER DIE EHELICHE LIEBE, gefiel nicht. Sie wurde nur einigemale aufgeführt und blieb gleich nach der ersten Vorstellung ganz leer. Die Melodien sowohl als die Characteristik vermissen, so gesucht auch manches darin ist, doch jenen glücklichen, treffenden, unwiderstehlichen Ausdruck der Leidenschaft, der uns aus Mozartschen und Cherubinischen Werken so unwiderstehlich ergreift.“

Auch Beethoven war mit seiner LEONORE unzufrieden, da sie noch ganz dem traditionellen Opernschema folgte. Bereits im Dezember 1805 nahm er sich das Werk erneut vor, nun gemeinsam mit seinem alten Freund aus Bonner Zeit Stephan von Breuning, mit dem er das Libretto überarbeitete, den dramatischen Gesamtaufbau straffte und die drei Akte auf zwei zusammenstrich, um „der oper einen lebhaftern Gang zu geben“, wie er schrieb. Dass der Komponist schließlich dieser zweiten LEONORE-Version die dritte Leonoren-Ouvertüre voranstellte, in der der Dramenkern symphonisch verhandelt wird, zeigt, worauf es ihm ankam: auf den Vorrang der hinter dem Ganzen stehenden Idee vor der eigentlichen Bühnenhandlung.

 

Zweiter und dritter Anlauf

In der Revisionsfassung kam LEONORE am 29. März und 10. April 1806 im Theater an der Wien auf die Bühne und machte, wie das „Journal des Luxus und der Moden“ im Mai 1806 berichtete, „ungeachtet mancher Kabalen“ ihr „entschiedenstes Glück“. Dass es dennoch nur bei den beiden Aufführungen blieb, lag wohl an einem Zerwürfnis zwischen Beethoven und dem Intendanten des Theaters, dessen Ursache bis heute ungeklärt ist. Wie auch immer: Beethoven zog LEONORE zurück und ließ die Partitur für einige Jahre in der Schublade verschwinden. Zwar war 1807 eine Wiederaufführung in Prag geplant, für die eine weitere Ouvertüre entstand [die aufgrund einer falschen chronologischen Einordnung der frühen Beethoven-Forschung als Leonoren-Ouvertüre I gezählt wird]. Da es aber keine Berichte über eine Aufführung gibt, nimmt man an, dass sie nicht zustande kam.

1810 ließ Beethoven dann einen Klavierauszug beim Leipziger Verlag Breitkopf & Härtel drucken, wohl in der Hoffnung, seiner einzigen Oper so zu einer Wiederaufführung zu verhelfen. Doch erst 1814 sollte die Stunde des Werks schlagen, da gleich drei Inspizienten der k. u. k. Hofoper, Ignaz Saal, Johann Michael Vogl und Karl Friedrich Weinmüller, Beethoven um eine Aufführung baten – in einer politisch illusionslosen Zeit der Restauration, in der alle Freiheitsträume der Vergangenheit angehörten. Die damit verbundene erneute Revision des Werks, bei der die Autoren die Entwicklung der Handlung erneut beschleunigten, das Drama konzentrierten und die entscheidenden Wendungen schärften, beschrieb Beethoven als äußerst aufreibend. Allerdings erwies sich sein letzter Librettist Georg Friedrich Treitschke als idealer Partner: „Hätten Sie nicht sich so viel Mühe damit gegeben und so sehr vortheilhaft alles bearbeitet, ich würde mich kaum überwinden können – Sie haben dadurch noch einige gute Reste von einem gestrandeten Schiff gerettet“ [Beethoven].

Als die finale Opernfassung am 23. März 1814 im Wiener Kärntnertortheater mit großem Erfolg über die Bühne ging, hatte der FIDELIO endlich die Form angenommen, die Beethoven vorgeschwebt hatte. Laut der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ hat man „die meisten Musikstücke lebhaft, ja tumultuarisch beklatscht, und den Componisten nach dem ersten und zweyten Act einstimmig hervorgerufen.“ Der Rezensent der „Wiener Theater Zeitung“ bezeichnete das Stück euphorisch als „ein tiefgedachtes, feinempfundenes Gebilde der schöpferischen Phantasie, der lautersten Originalität, des göttlichsten Aufschwung des Irdischen in das unbegreifliche Himmlische“. Dabei hatte Beethoven seinen FIDELIO zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz fertig stellen können, weshalb die neukomponierte Ouvertüre erst ab der zweiten Aufführung am 26. Mai zu hören war. Die definitive Version der Leonoren-Arie erklang sogar erst acht Wochen später, im Rahmen einer Benefizvorstellung am 18. Juli 1814.

 

Ideenwerk

In der endgültigen Version seiner Oper nutzt Beethoven alle Möglichkeiten, um dem gängigen Schema in Richtung „zeitloses Ideenwerk“ zu entkommen. Die Handlung schreitet in rasantem Tempo voran. Denn kaum sind die ersten beiden Nummern vorbei, tritt bereits die als Fidelio verkleidete Leonore auf, bevor das Quartett „Mir ist so wunderbar“ hintersinnig die Mechanik des Singspiels außer Kraft setzt, da die Akteure bei gleicher Melodie abwechselnd von höchst unterschiedlichen Dingen singen. Bei Leonores Rezitativ und Arie „Abscheulicher! Wo eilst du hin?“, die wie in einer romantischen Oper beginnt, führt Beethoven eine symphonische Dramatisierung ein, mit der er das Ganze auf eine neue Ebene hebt: Der Zuschauer soll nicht nur die Darstellung der Gefühle durch die Sängerin erleben, sondern die Gefühle selbst erfahren und in das Drama mit hineingerissen werden. Anders als Mozart, der in seinen Opern die Wahrhaftigkeit der Empfindungen in den Mittelpunkt stellte, ging es Beethoven um die Wahrhaftigkeit des Dramas, was in dieser Absolutheit etwas Neues war. Ebenfalls neu ist, dass Beethovens gesamter FIDELIO aus der Perspektive Leonores zu hören ist, einer Frau, womit die traditionell-stereotype Rollentypologie des weiblichen Opernpersonals der Zeit auf den Kopf gestellt wird. Der gesamte Plot dient letzten Endes der Charakterisierung Leonores bzw. der hinter ihrer Figur stehenden Idee; selbst Florestan steuert mit der Vision von seiner Gattin im dunklen Verlies hierzu bei.

 

Dramaturgische Hürden des Plots

Unter dramaturgischen Gesichtspunkten ist der FIDELIO-Stoff alles andere als unproblematisch. Denn er liefert eigentlich keine abendfüllende Handlung, sondern spinnt sich als punktuelles Ereignis um die kurze Schlüsselszene im Gefängnis. Außerdem muss dem Zuschauer, dem die Vorgeschichte von Florestans Verhaftung fehlt, deutlich gemacht werden, dass Leonore keine wirkliche Hosenrolle spielt. Auch hierfür kommt Marzelline ins Spiel, aus deren Liebe zum vermeintlichen Fidelio sich ohnehin allerhand bühnenwirksame Konflikte ableiten lassen. Da Leonore zunächst in den Dienst Roccos gelangen muss, um in die Nähe ihres Mannes zu kommen, war es naheliegend, Marzelline als Roccos Tochter ebenfalls auf den für eine Oper ungewöhnlichen Handlungsraum „Gefängnis“ zu beziehen. Die Exposition ihres Rollenprofils in den ersten fünf Nummern der Oper leitet das Drama ein. Anschließend wird der Konflikt zwischen Don Pizarro und Florestan verdeutlicht: Pizarro tritt auf und findet als gezielte Indiskretion eine Nachricht, die ihn vom Kontrollbesuch des Ministers unterrichtet, dem seine krummen Machenschaften zu Ohren gekommen sind. Es besteht dringender Handlungsbedarf, weshalb der unschuldig Inhaftierte so schnell wie möglich beseitigt werden soll. Doch es kommt zu Verzögerungen. Denn Leonore hat von Rocco die Erlaubnis bekommen, den Inhaftierten, deren düster-stickige Verliese unter der Erde liegen, Ausgang ans Tageslicht zu gewähren. Der Beweggrund des Manövers läuft allerdings ins Leere: Ihr Mann ist nicht dabei, da er in Einzelhaft gefangen gehalten wird. Anschließend spitzt sich die Situation zu, da Leonore und Rocco in die tiefsten Tiefen des Gefängnisses hinabsteigen, um in der Zisterne ein Loch auszuheben, in dem Florestan verscharrt werden soll. Es kommt zum Dialog, der zur Erkennungsszene zwischen Leonore und Florestan führt. Jetzt erst vollzieht sich mit Leonores Vereitelung der Tat und der Ankunft des Ministers die eigentliche „Handlung“, die schließlich mit dem allgemeinen Jubel-Finale ausklingt.

 

Per aspera ad astra

Betrachtet man die Konzeption der endgültigen FIDELIO-Fassung, wendet sich das Geschehen im ersten Akt zunehmend vom Heiteren ins Düstere, während dann der zweite Akt bis zum triumphalen Finale ins Licht zurückkehrt. Akzentuiert wird dieser gegenläufige Verlauf durch die Musik, die in deutlicher Abkehr zur damals gängigen Opernkonvention die jeweilige Bühnensituation nicht nur illustriert, sondern den Stoff, in dem das Personal als Verkörperung abstrakter Ideen über sich hinauswächst, in einem bis dahin ungeahnten Maß vertieft und ausdeutet – etwa, wenn der Schurke des Stücks im Marsch Nr. 6 mit einer aus dem Tritt geratenden Militärmusik eingeführt wird, voller metrischer und formaler Irregularitäten. Die Nummer, die in der Fassung von 1806 noch die bloße Aufgabe hatte, den Aufmarsch von Pizarros sich ordnender Wachmannschaft zu choreographieren, wird zum Charakterstück umgedeutet, zu dem sich nicht wirklich marschieren lässt: Das militärische Zeremoniell gerät zur Groteske. Pizarros hohle Herrscherpose wiederum findet ihre musikalische Entsprechung in einem grellen Moll-Dur-Wechsel sowie in der Tempobezeichnung „Allegro agitato“ als Ausdruck aggressiver Spannung. Zudem äußert sich die Brutalität dieser holzschnittartig das Böse schlechthin repräsentierenden Figur in einem schwerlich als Belcanto zu bezeichnenden Ansingen gegen das bis ins fortissimo gesteigerte Orchester – kein Wunder, dass sich Rocco vor diesem Mann fürchtet. Das offen ausklingende erste Finale mit der Rückkehr der Gefangenen in ihre Zellen führt dann über die Aktgrenzen hinweg direkt in Florestans lichtloses Verlies, wobei das Orchester hier mit dunklen Farben, Tremoli und grellen Hell-Dunkel-Kontrasten eine düstere Stimmung evoziert. Florestan sieht dem Tod ins Auge. Erst danach folgt als Auftakt seiner Rettung die zentrale Demaskierungsszene, in der sich Pizarro seinem Gegenspieler Florestan zu erkennen gibt. Zweimal schreitet Leonore bei diesem „Showdown“ gegen Pizarros Mordversuche ein, zuletzt mit gezogener Pistole, wobei die Musik erwartungsgemäß ihren dramatischen Höhepunkt erreicht. Der Orchestersatz steigt während Pizarros gesanglichem Ausbruch chromatisch in die Höhe, um sich dann im martialischen D-Dur-Triumph zu entladen. Nach der Dialogpassage „Soll ich vor einem Weibe beben?“ – „Der Tod sei dir geschworen“ erfolgt die Rettung – durch das von außen einfallende Trompetensignal, das die Ankunft des Ministers ankündigt.

 

„O namenlose Freude!“

Im gleichen Tempo beginnt das Finale: „Heil sei dem Tag, heil sei der Stunde!“ – in der finalen Opernfassung auf dem Paradeplatz des Schlosses, wo sich die gesamte Menschheit eingefunden zu haben scheint. Treitschke hat diese Schluss-Apotheose, in der die Utopie der Freiheit in der Art eines Oratoriums ihre musikalische Erfüllung findet, bewusst mit einem Szenenwechsel von der linearen Opernhandlung getrennt, weshalb nicht wenige Regisseure diesen utopischen Schluss wie ein Oratorium inszeniert haben – bei offenem Saallicht und mit Sängern in Alltags- oder Konzertkleidung. Dennoch: Leonore, die Florestan selbst die Fesseln abnehmen darf, hat als einzelner Mensch und Frau das Unerhörte vollbracht und durch Zivilcourage Gewaltmaschinerie und Unrechtsregime überwunden. Das gesamte „Volk“, Marzelline und Jaquino inklusive, stimmt in die chorisch vertonte Schiller-Hommage ein, die eine Brücke zum idealistischen Finale der Neunten Symphonie schlägt. Doch obsiegt am Ende die Freiheit?

Zunächst schon, sagt auch Regisseur David Hermann, da Leonore unter Einsatz ihres Lebens das Unmögliche erreicht, da sie nicht nur ihren unschuldigen Mann befreit, sondern auch den entscheidenden Anstoß zum Zusammenbruch von Pizarros Unrechtsregime gibt: Nach lang erduldeter Ungerechtigkeit ist für das Volk der vom Minister verkündete Regimewechsel ein vollkommen unerwartetes Ereignis „vor unseres Grabes Tor“, wie der Chor in düsterem Unisono feststellt. Allerdings, so Hermann weiter, erfolgt diese Befreiung vollkommen unvermittelt, wie ein „Fremdkörper“. Und tatsächlich wäre Leonores Mut und Entschlossenheit ohne den eigentlich überkommenen Kunstgriff des alle Konflikte lösenden „Deus ex machina“ [in Form des Ministers] wirkungslos geblieben. In Bouillys LÉONORE, die zur Zeit der Terreur entstand, als zahllose „konterrevolutionärer“ Umtriebe Verdächtigte verhaftet und viele von ihnen guillotiniert wurden, war die tröstliche und ermutigende Botschaft dieses Schlusses, dass man die Veränderung der Verhältnisse nicht aktiv herbeiführen muss – eine Botschaft, die nach dem Ende der Terreur noch gern gehört wurde, da die gesellschaftlichen Umwälzungen seit 1789 zweifellos radikal waren. [Interessant in diesem Zusammenhang: Die Musik zu Florestans Rückkehr in die Freiheit, „O Gott! Welch’ ein Augenblick!“, stammt aus Beethovens frühem Hymnus „Da stiegen die Menschen ans Licht“ aus der 1790 komponierten „Kantate auf den Tod Kaiser Joseph II.“, einem Aufklärer und Neuerer in vielen Bereichen.] Doch was bedeutet die abrupte Wendung in Beethovens „Gefangenenoper“ FIDELIO? Ohnehin bleibt offen, was nach dem bewusst szenisch abgesetzten und quasi symphonischen Ende geschieht. Denn, so muss man sich fragen, kann die gerade noch vom Freiheitstaumel überwältigte Gesellschaft mit all ihren Partikularinteressen überhaupt etwas mit der neu gewonnenen Freiheit anfangen? Eine Frage, die für David Hermanns Inszenierung zentral ist. Denn wie geht die Geschichte weiter, nachdem die Herrschenden die Bühne verlassen haben?

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