Gefühlswelten erfahrbar machen - Deutsche Oper Berlin
Gefühlswelten erfahrbar machen
Gedanken zur Musik von LASH … Ein Essay von Enno Poppe
Kontrapunkt, Harmonie und Klangfarbe
Ich kenne kaum jemanden, der heute noch den Begriff des Kontrapunkts verwenden würde, um über seine Musik zu sprechen. Das klingt einfach zu akademisch, nach etwas, was über Jahrhunderte an Hochschulen gelehrt wurde, ein veraltetes Regelwerk. Da hat der Papst auf dem Konzil von 1562 gesagt, so und so muss man Musik schreiben, so ein wenig ajatollahhaft, und dann musste man sich über Jahrhunderte daranhalten. Wenn wir das Wort Kontrapunkt nicht im engeren, historischen Sinne verwenden, gibt es dieses Phänomen aber auch in der Musik des 21. Jahrhunderts. Unter Kontrapunkt versteht man ja nicht mehrere Linien, die nebeneinander herlaufen, sondern Stimmen, die sich miteinander verbinden. Bei Palestrina ist es ganz klar, dass das harmonische Gefüge der Musik aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Melodielinien gebildet wird.
Bei der Musik von Rebecca Saunders gibt es ein solches Ineinandergreifen verschiedener Schichten ebenfalls. Es gibt zum Beispiel unterschiedliche Ebenen im Orchester von LASH, das Schlagzeug, die elektronischen Instrumente (zwei Korg BX3-Synthesizer und eine E-Gitarre), die Blasinstrumente. Diese verschiedenen Farben greifen ineinander und geben sich Raum. Die eine Schicht hört auf und die andere öffnet sich, das geht manchmal schnell und manchmal langsam. Die ganze Art der Verzahnung der Klangfarben, wie die eine aus der anderen hervorgeht und wie dann auch die Singstimmen aus diesem Kontinuum von verschiedenen Farben hervorgeht, das könnte man durchaus als kontrapunktisch bezeichnen. Das ist etwas, was in LASH unheimlich differenziert und subtil gehandhabt wird. Während die Musik von Palestrina immer um die Begriffe Konsonanz und Dissonanz kreist, und aus den Auflösungen von Dissonanzen ihre Schönheit gewinnt, so gilt dies bei Saunders für die Klangfarben: manche Instrumente stehen in einem dissonanten Verhältnis, weil ihre Farben sich nicht verbinden, andere verschmelzen nahezu vollständig. Daraus entsteht die Schönheit ihrer Musik.
Harmonik gibt es in der zeitgenössischen Musik nicht mehr ohne die Klangfarbe und damit die Frage, welches Instrument spielt in welcher Lage, mit welcher Lautstärke und welcher Spieltechnik welchen Ton. In der abendländischen Musiktheorie gab es über Jahrhunderte hinweg die Idee, dass ein Ton grundsätzlich derselbe bleibt, unabhängig davon, in welcher Oktave er erklingt. Wenn man aber auf dem Klavier einen Dur-Akkord in einer ganz hohen Lage spielt, kann man diesen Akkord gar nicht als einen solchen erkennen. In der ganz tiefen Lage ist das ebenso. Das geht nur in der Mittellage. Die Musiktheorie hat sich hier geirrt und die akustischen Phänomene missverstanden.
Die Grundlage für die Farbigkeit der Musik in LASH ist das profunde Wissen um die Bindekraft der Klangfarben. Jeder Klang hat hier mindestens einen Partnerklang. Zu den tiefen Bässen gehören die tiefe E-Gitarre, die Basstrommeln, tiefe Töne der Harfe, des Akkordeons und der elektrischen Orgeln. Und es gibt von dort aus fließende Übergänge, weil jeder Klang mit einem anderen Klang verbunden ist, so dass man irgendwie von jedem Klang zu jedem anderen Klang kommen kann. Ein Kontinuum der Farbverläufe.
Melodien
In der zeitgenössischen Musik wird das Konzept der Melodie mit Vorsicht behandelt. Und zwar aufgrund dieser Selbstverständlichkeit, mit der etwas als Norm und Regel grundsätzlich vorausgesetzt wird: Musik wird von vielen erst einmal mit Melodien gleichgesetzt. Jeder kann sich mit Melodien identifizieren, die er aus seiner Kindheit kennt oder die von überall her ständig zu hören sind, im Restaurant und auf der Straße. Aber wenn man auf der Suche nach etwas Unverbrauchtem ist, nach etwas, was nicht an der Vergangenheit klebt, wenn man das Überraschende und Ungewöhnliche sucht, ist das Konzept „Melodie“ nicht gerade naheliegend.
Daher finde ich es geradezu revolutionär, dass es in der Musik von LASH zahllose Melodien gibt. Und zwar auf eine derart gelungene Weise, dass die Melodien, die man hier hört, nichts Sentimentales haben, nichts von einer „guten alten Zeit“, aber auch nichts Kommerzielles, Manipulatives und keine Fast-food-Qualität. Sie schauen wirklich nach vorne, in die Zukunft.
Es gibt ganz grob zwei Verfahren, wie sich das Orchester diesen Melodien der Sängerinnen anschmiegt. Zum einen ist es das, was man traditionell Heterophonie genannt hätte: Es gibt die Melodielinie der Sängerin und dann gibt es dazu eine ähnliche Melodie in einem Blasinstrument oder einer Geige, in drei oder manchmal auch zehn Blasinstrumenten. Die spielen ganz ähnliche oder auch die gleichen Töne, umspielen die Singstimme und man weiß eigentlich nie, welche Melodielinie im Vordergrund steht. Ist es die Sängerin oder das Blasinstrument? Wer hat gerade die Hauptstimme?
Und dann gibt es diese Satzweise, dass die Streicher die Sängerinnen mit unterschiedlich großen Clustern umspielen. Das wird in der Partitur mit einer unheimlichen Vielfalt und Meisterschaft gehandhabt und geht manchmal so weit, dass die Streicher komplett aufgeteilt werden und jeder einen eigenen Ton spielt. Das erinnert mich an Bachs „Matthäuspassion“. Wenn dort die Jesusworte kommen, gibt es immer Streicherakkorde, die die Stimme wie mit einem Heiligenschein umgeben. In LASH gibt es etwas Vergleichbares. Es sind diese Streichercluster, die sich mit den Singstimmen bewegen. Gehen die Singstimmen zum Beispiel nach oben, geht der Cluster mit, wird dabei auch breiter oder enger, verändert sich in seiner Zusammensetzung. Das finde ich unheimlich schön und zugleich trägt es auch die Stimmen. Ich habe den Eindruck, die Sängerinnen genießen es geradezu, dass sie vom Orchester wie auf ein Kissen gebettet und unterstützt werden. Und das gelingt umso mehr, wenn man die Musik mit den vielen, in der Partitur enthaltenen Details auch möglichst genau so spielt, wie sie dort notiert ist. Diese Musik ist wirklich bis ins kleinste Detail durchdacht, aber auch mit dem Körper erspürt.
Entscheidend für die Arbeitsweise von Rebecca Saunders ist die genaue Zusammenarbeit mit Musikerinnen und Musikern, um möglichst persönliche und besondere Klänge zu erfinden. Die Gestaltung der vier Solopartien von LASH ist in Verbindung mit den vier Solistinnen entstanden und die Oper hätte so niemals geschrieben werden können, wenn die Komponistin sich nicht über Jahre mit den Sängerinnen immer wieder getroffen hätte. Der spezifische Charakter von LASH basiert auf der absolut originellen und ungewöhnlichen Art, mit den Singstimmen umzugehen. Ich kenne keine zeitgenössische Oper, der es gelingt, zugleich experimentell und melodisch zu sein.
Kontraste
Beim Blick auf die einzelnen Szenen fällt auf, in was für einem weiten Spektrum sich die einzelnen Szenen und Momente von ihrem Charakter her unterscheiden. Es gibt ganz zarte Stellen, dann aber auch sehr laute Klangeruptionen mit den neun Schlagzeugern, von denen vier als Bühnenmusiker auf der Bühne stehen. Auch die elektronischen Instrumente können sehr laut spielen, aber eben auch unheimlich leise. Es gibt eine sehr große dynamische Bandbreite und auch eine große Geduld darin, nach und nach den Raum immer weiter zu öffnen.
Im ersten Akt entfaltet sich das Stück erst einmal sehr langsam. Da werden in Form klassischer Auftrittsarien die einzelnen Sängerinnen vorgestellt, dann gibt es Duette und schließlich größere Ensembles. Im zweiten Akt werden die Kontraste immer größer und es gibt Szenen unterschiedlichsten Charakters. Vom Präludium des Aktes, wo die elektronischen Instrumente sehr starre und zum Teil auch geradezu unangenehme Klänge produzieren, über einen Choral geht es zu zwei schnellen, kurzen Stücken, die fast nur mit Geräuschen im Orchester begleitet werden.
Der Akt endet mit den Szenen 7, 8 und 9, die sich über insgesamt 20 Minuten immer weiter steigern. Dort wird die Musik immer schneller und immer massiver. Und im dritten Akt wird die Musik dann verräumlicht mit Sängerinnen und Instrumentalisten rund um das Publikum, eine Musik, die die Zeit anhalten möchte und ganz ins Offene geht. Man hat das Gefühl unterzutauchen, als ob man unter Wasser wäre, und verliert die klare Orientierung, weiß nicht mehr, wo man sich befindet, Dinge passieren gleichzeitig und sind miteinander verwoben. Ich habe das Gefühl, es könnte ewig so weitergehen.
Gefühle
Es gibt ein Missverständnis über zeitgenössische Musik, sie sei verkopft und intellektuell. Das ist einfach falsch. Davon abgesehen wird in anderen Kunstsparten nicht so negativ darüber gesprochen, wenn der Verstand angesprochen wird. Wenn ich mich mit zeitgenössischer Musik beschäftige, geht es mir immer darum, den spezifischen Ausdruck und die Emotionalität der Musik zu finden und für das Publikum erfahrbar zu machen. Die Musik von Rebecca Saunders hat eine Unmittelbarkeit des Ausdrucks, die selten ist und ungewöhnlich. In diesem Sinn ist die Musik von LASH richtige Opernmusik. Sie hat den Mut zu großen Gefühlen.