Gidon Saks – Mein Seelenort: Trinity College

Der Bassbariton Gidon Saks singt den Hagen in Wagners GÖTTERDÄMMERUNG. Am Ufer der Themse denkt er an die Helden der Nibelungensage

Götterdämmerung
Dritter Tag des Bühnenfestspiels für drei Tage und einen Vorabend von Richard Wagner
Musikalische Leitung: Donald Runnicles
Inszenierung: Stefan Herheim
Mit With Clay Hilley, Thomas Lehman, Jürgen Linn, Gidon Saks / Albert Pesendorfer, Nina Stemme, Aile Asszonyi, Okka van der Damerau u. a.
Premiere am 17. Oktober 2021

Mein Seelenort ist das Trinity College of Music in Greenwich. Es liegt im Südosten Londons, direkt am Ufer der Themse, die hier eine große, träge Biegung nimmt. Im Moment unterrichte ich an dem College, führe dort Regie für einen Abend mit Werken von Beaumarchais, Massenet und Corigliano. Ich bin also täglich am Haus und setze mich jeden Tag draußen hinter dem Haus auf eine Bank am Ufer der Themse und schaue auf den Fluss.

Gidon Saks auf seiner Bank © Danny Lowe
 

Hier entspanne ich mich, denke nach, gebe mich meinen Fantasien hin. Das ist für mich wie ein Ritual. Ich brauche das inzwischen regelrecht, mir dort meine Zeit zu nehmen und einfach nur zu schauen. Das College wurde im 17. Jahrhundert erbaut, es ist ein wunderbares Ensemble von Barock-Bauwerken, doch gegenüber, in der Ferne, sehe ich die Skyline von London mit ihren silbergrauen Hochhäusern, wo Geld und Macht in den Chefetagen der großen Konzerne regieren.

Da, wo ich sitze, ist die Welt in Ordnung. Es riecht nach dem Fluss, den Blumen und Büschen, die in der Nähe wachsen, immer gut und frisch. Die Themse kann manchmal eine ziemliche Beleidigung für die Nase sein, an dieser Stelle ist sie es aber nie. Hier fühle ich mich wohl und frei. Selbst wenn ich manchmal beinahe die Zeit vergesse, ich bin ja in zwei Minuten wieder zurück im Seminarraum und kann meinen Unterricht geben. Von dort kann ich meine Bank sogar vom Fenster sehen, sie ist immer für mich da.

Hier, am Ufer der Themse, riecht es nach Algen, Fisch und altem Gemäuer. Für Gidon Saks der perfekte Ort, um über Bösewichte nachzudenken © Danny Lowe
 

Früher habe ich diese alten Gebäude des Trinity College oft vom Fluss aus gesehen, wenn ich mit dem Schiff vorbeifuhr. Ich mag die Londoner U-Bahn und die Züge nicht allzu sehr und nahm stattdessen immer eine Bootslinie von Westminster nach Greenwich. Die Fahrt dauert eine Stunde und ist wunderschön und atemberaubend, man fährt am Big Ben vorbei, unter der Tower Bridge hindurch, in die Docklands. Leider fährt das Schiff nicht mehr ganz bis nach Kent raus, wo ich wohne.

Heute sitze ich oft hier am Ufer, um Musik zu lernen, Texte einzustudieren oder mir etwas aufzuschreiben. Ein paarmal bin ich dort sogar eingeschlafen, das war auch sehr schön. Im Moment ist es angenehm ruhig in der Gegend, denn zurzeit kommen nicht so viele Touristen wie sonst. Der wunderbare Greenwich Market – der älteste Markt der Stadt – ist nahe und der Klipper Cutty Sark liegt auch hier, ein berühmtes Museumsschiff aus dem 19. Jahrhundert. Ich habe es mehrmals besucht, als ich mich auf die Rolle des John Claggart in Benjamin Brittens BILLY BUDD vorbereitet habe. Denn die Britten-Oper spielt auf einem Kriegsschiff, da passt das Maritime.

Der Blick auf die Themse inspiriert ihn, auch bei der Vorbereitung seiner Rollen. Für den Schurken Hagen entwickelt Gidon Saks sogar Verständnis © Danny Lowe
 

Aber auch über meine neue Rolle des Hagen aus Wagners GÖTTERDÄMMERUNG habe ich nachgedacht, wenn ich von hier aus auf die Skyline schaue. Hagen tötet Siegfried, den großen Helden der Nibelungensage, und für viele ist er damit der deutsche Schurke schlechthin. Aber ich sehe ihn etwas anders. Ich habe viele Bösewichte gespielt und gesungen, eigentlich sogar fast ausschließlich Bösewichte. Ich kenne mich auf diesem Gebiet also aus. Und ich finde, unter den schlechten Menschen ist Hagen eigentlich der beste. Er möchte im Grunde nur die Erwartungen seines Vaters erfüllen, er möchte geliebt werden, wie jeder andere auch. Seine Motive sind sehr verständlich. Deswegen will ich ihn auch so sympathisch wie möglich spielen. Heute weiß man, dass wir psychologisch gesehen alle das Produkt unserer Kindheit sind – auch Hagen ist nicht grundböse, sondern nur von seiner schlechten, gescheiterten Erziehung geprägt.

Wenn ich auf die Themse schaue und über die Sage nachdenke, fühlt es sich gleich ein wenig an, als würde ich am Rhein sitzen. Ich stelle mir vor, dass dort drüben die Gibichungen wohnen, dass Siegfried über den Fluss zu ihnen kommt und anlegt, gleich wird er den Zaubertrank erhalten, seine Liebe zu Brünnhilde vergessen und das Unheil nimmt seinen Lauf. Das sehe ich hier alles vor mir. Ich kann mir eine GÖTTERDÄMMERUNG in Greenwich also sehr gut vorstellen.

Zum Glück ist die Stimmung hier aber ganz und gar nicht unheilvoll. Zurzeit sind die Menschen sogar ganz besonders freundlich und offen, sie reden gern mit Fremden. Das ist bestimmt auch eine Folge der Corona-Zeit, die Menschen wünschen sich jetzt wieder mehr Kontakt. Oft sprechen mich hier Menschen an, die ich überhaupt nicht kenne. Etwa weil sie meine Schuhe mögen oder weil sie wissen wollen, was ich gerade lese. Wenn ich dann sage, dass ich Opernsänger bin und mich auf eine Rolle vorbereite, fragen manche zuerst: »Und was machen Sie tagsüber?« Die erfahren von mir zum ersten Mal, dass Opernsänger ein vollwertiger Beruf ist.

 

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