Glück, Spiel, Zwang - Deutsche Oper Berlin
Aus dem Programmheft
Glück, Spiel, Zwang
Regisseur Sam Brown im Gespräch mit Konstantin Parnian
Puschkin stellt seiner Erzählung den Satz „Die Pique Dame bedeutet heimliche Böswilligkeit“ als Epigraph voran. Würde Tschaikowskij diesen Satz in Bezug auf seine Oper ebenso unterschreiben?
Sam Brown: Bei Tschaikowskij wird viel stärker die Obsession von Hermann herausgestellt, die ihn ab dem Moment befällt, in dem er zum ersten Mal vom Kartengeheimnis hört. Als Tomskij davon anfangs in seiner Ballade erzählt, nennt er den Spitznamen der Gräfin „Pique Dame“ eher beiläufig. Dann wird der Name eigentlich nicht mehr erwähnt, aber bei Hermann hat er sich so sehr eingebrannt, dass er zum Schluss auf die Pik Dame setzt statt auf das Ass und dadurch alles verliert. Die „Pique Dame“ steht bei Tschaikowskij also vielmehr für das Schicksal, dem man nicht entrinnen kann. Letztlich geht es in der Oper um Figuren, die verzweifelt versuchen, ihrem Schicksal zu entkommen, obwohl sie eigentlich wissen, dass das nicht möglich ist. Das macht dieses Stück so spannend. Alle drei Hauptfiguren sterben im Laufe der Handlung und interessanterweise scheinen sie das von Anfang an zu spüren. Das macht diese Oper so einzigartig und fesselnd.
Wie passt das zu einer Geschichte, die nach einer Spielkarte benannt ist?
Dieser über allem schwebende Fatalismus findet sich auch in der Symbolik wieder, mit der Spielkarten zu dieser Zeit aufgeladen wurden. Im 19. Jahrhundert war das Legen von Wahrsagekarten wie etwa Tarot weit verbreitet, Spielkarten wurde allgemein etwas Magisches zugesprochen. Man kann also davon ausgehen, dass der Gedanke, die Pik Dame stünde für etwas Schlechtes, verbreitet war. Die Vorstellung eines unverrückbaren Schicksals spiegelt sich auch im Kartenspiel Pharo, das in der Handlung gespielt wird, wider. Sind die Karten einmal gemischt, lässt sich nichts mehr am Ergebnis ändern. Es ist eines der sehr wenigen Spiele, die dem absoluten Zufall unterworfen sind. Man kann also nicht wie bei Poker oder sogar Blackjack taktieren und nach Strategie vorgehen, sondern es ist reine Glückssache, welche Seite gewinnt. Trotzdem verbringt Hermann, wie wir zu Beginn erfahren, nächtelang am Spieltisch und beobachtet die Kartenrunde, ohne selbst mitzuspielen, als würde er einen Weg suchen, wie man das Spiel sicher gewinnen kann. So einen Weg gibt es aber nicht. Dass er dabei selbst nie auch nur einen Penny setzt, zeigt zugleich Hermanns extreme Risikoscheue. Aus dieser Vorsicht heraus, hat er Lisa auch nie angesprochen, obwohl er sich so sehr zu ihr hingezogen fühlt. Hermann ist ein Beobachter, der nicht aktiv wird. Wie zum Kartenspiel entwickelt er auch zu Lisa viel mehr eine Obsession als tatsächliche Liebe. All das ändert sich schlagartig, sobald er vom Kartengeheimnis der Gräfin erfährt. Nun traut er sich, Lisa mit seiner Liebe zu konfrontieren, wo er zuvor nur beobachtet, ja geradezu gestalkt hat.
Was löst die Geschichte um das Kartengeheimnis in Hermann aus, dass er von da an eine so starke Charakterwandlung erfährt?
Die Hoffnung auf sozialen Aufstieg, auf Wohlstand. Hermann, so wie wir ihn zeigen, hat noch nicht einmal sein eigenes Zimmer, sondern wohnt im Schlafsaal in der Kaserne. Er sehnt sich nach einem Leben, das ihm immer vorenthalten wurde, von dem er ausgeschlossen ist wegen seines Stands. Zwar hat er Kontakt zu den reichen Kreisen, aber er ist nicht wirklich Teil davon. Das Geld, das er am Ende am Spieltisch setzt, ist sein ganzes Vermögen, das er sich angespart oder – wenn wir nach Puschkin gehen – von seinem Vater geerbt hat. Verglichen mit heute würde es vielleicht dafür reichen, einen Kleinwagen zu kaufen, aber es ist bei weitem keine Summe, bei der man seinen Job kündigen und davon leben könnte. Mit diesem Zwischenzustand, einerseits am Wohlstand teilhaben zu können, andererseits aber doch prekär zu leben, können wir uns heute sehr gut identifizieren. Ich kenne die Zahlen in Deutschland nicht, aber das Medianeinkommen in UK liegt etwa bei 30.000 Pfund im Jahr. Man kann also von 20 bis 65 arbeiten, 45 Jahre am Stück, und trotzdem wenig haben. In diesem Sinne ist Hermann ein Jedermann, der mit seiner Arbeit gerade so viel verdient, dass es für ein ordentliches Leben reicht, aber auch nicht mehr. Ebenso macht ihn seine Position als Außenseiter, der sich aber dennoch viel in Gesellschaft begibt, gut nachvollziehbar, da wir alle das Gefühl von Ausgrenzung aus der einen oder anderen Situation kennen.
Ist Hermann dann einfach Opfer der Gesellschaft oder trägt er Mitverantwortung für seine Situation?
Das Problem Hermanns ist, er denkt immer: Wenn ich nur dieses oder jenes hätte, dann wäre ich endlich glücklich. Aber wir wissen, dass man so nicht glücklich wird. Gesprochen mit der zeitgleich zur Entstehung von PIQUE DAME aufkommenden Psychoanalyse, hat er ein inneres Problem, projiziert das aber nach außen. Denn in seiner Wahrnehmung sind alle um ihn herum immer nur Gewinner. Jeletzkij, dem er in der ersten Szene begegnet, repräsentiert alles, was sich Hermann wünscht. Er ist reich, genießt Ansehen und ist darüber hinaus mit der Frau verlobt, die Hermann begehrt. Im Verlauf sehen wir, dass Jeletzkij auch nicht glücklich ist, da ihm Lisa nicht die erhoffte Liebe entgegenbringt. Hermann aber blendet sowas aus, er sieht an den anderen nur die perfekte Seite ihres Lebens. So eine Wahrnehmung ist natürlich hochaktuell, wenn man sich Social-Media-Plattformen wie Instagram ansieht, auf denen sich alle gegenseitig das makellose Leben vorspielen: die perfekte Beziehung, Essen in den besten Restaurants, ständige Urlaubsreisen. Wir wissen, dass das nicht die ganze Wahrheit ist, aber Hermann lebt in einer Art Instagram-Realität, in der er an den anderen nur das sieht, was er nicht hat. Und das Spannende daran ist, dass Hermann dabei genau jene Welt betreten möchte, der Lisa zu entfliehen versucht. Lisa hat Status, Geld und die Aussicht auf eine lebenslange romantische Partnerschaft mit einem Mann, der sich um sie bemüht. Genau das, wonach sich Hermann sehnt, engt Lisa ein. Sie fühlt sich davon unterdrückt. Deshalb weckt Hermann als jemand außerhalb dieser Welt ihr Interesse. Der Mann, dem sie versprochen ist, Jeletzkij, ist attraktiv, berühmt, reich und emotional gefasst. In seiner berühmten Arie im zweiten Akt drückt er seine Gefühle für Lisa auf liebevolle Weise aus, bleibt dabei aber absolut kontrolliert. Er erklärt ihr, dass er sie nicht beherrschen oder unterdrücken möchte. Auf der anderen Seite ist da Hermann, der durchs Fenster in ihr Schlafzimmer einbricht, ein Romantiker wie Goethes Werther. Das ergreift sie zutiefst, weil dadurch der Alltag durchbrochen wird, den sie als Gefängnis empfindet.
Ist Lisa also auf der Suche nach jemandem wie Hermann, um solche Leidenschaft kennenzulernen?
Ich denke vielmehr, Lisa fühlt schon lange solche Leidenschaft, konnte diese aber nie zum Ausdruck bringen. Wir sehen sie mit ihren Freundinnen, wie sie Canzonen und Volkslieder singen. Als sie dann aber alleine ist, bricht eine unglaublich leidenschaftliche Arie aus ihr heraus. Wir sehen sie etwas artikulieren, zu dem sie erst im Stande ist, weil sie Hermann in die Augen geblickt hat, den sie vorher nur aus weiter Entfernung sieht. Diese Begegnung mit Hermann ist ihr emotionales Erwachen. Die Welt, die in PIQUE DAME gezeichnet wird, wird von starken Rollenbildern dominiert. Alle haben ihren Platz in dieser Gesellschaft, was wir in der ersten Szene mit den Kindern vorgeführt bekommen, die eine Art Modellgesellschaft repräsentieren. Und aus dieser Welt versucht Lisa auszubrechen.
Spiegeln sich diese Welten auch in der Musik wider?
Tschaikowskij gelingt eine kongeniale Gratwanderung: Einerseits stellt er ein musikalisches Pasticcio unterschiedlichster Stile zusammen, andererseits vermag er diese Teile so gut miteinander zu verbinden, dass die raschen Wechsel zwischen den verschiedenen Welten sehr organisch wirken. Das liegt auch an der unglaublichen Dichte des Stücks, in dem es keine Note zuviel gibt. Es gibt kein Fett in dieser Musik. Das Klangbild ist oft sehr illustrativ und verschiedene gesellschaftliche Kreise oder Milieus werden durch indirekte musikalische Zitate vermittelt. So hören wir am Anfang Marschmusik oder in der Kaserne später den Zapfenstreich, aber es gibt auch ausgefallenere Exkurse. Das Lied der Gräfin etwa, bei dem sie in ihren Erinnerungen an das Leben in den Pariser Salons schwelgt, macht als Zitat aus einer Oper des Belgiers André Grétry von 1784 eine gänzlich eigene Sphäre auf. Nicht nur, weil sie plötzlich französisch singt, sondern auch, weil die Musik im Gesamtzusammenhang geradezu fremd klingt. Auf ein Publikum im späten 19. Jahrhundert muss das ungefähr so gewirkt haben, wie wenn man heute ein Chanson wie „Non, je ne regrette rien“ in einer Oper hört. Ein anderes Beispiel sind die erwähnten Volkslieder in Lisas Schlafzimmer, die damals klar als solche erkannt wurden. Musikalische Zitate sind immer auch mit einer Note Humor zu verstehen, was die Möglichkeit vergnüglicher und unterhaltender Passagen eröffnet. Die Schlafzimmerszene folgt auf das sehr dramatische Ende des vorangegangenen Bildes, in dem ein Sturm tobt, der Hermanns zerrissene Gefühle begleitet. Der dramaturgische Aufbau bildet hier also ein Wechselbad der Gefühle. Kurz darauf sehen wir, wie sich die Freundinnen Lisas vergnügen, was durchaus eine gewisse Komik hat. Aber auch das ist gebrochen, denn in ihrer Mitte ist die einsame und melancholische Lisa. So ging es zuvor schon Hermann in der Promenade, wo der Chor den schönen sonnigen Tag besingt. Die Idee dahinter ist, dass erzwungenes Glück ein Mittel der Unterdrückung sein kann. Sowohl Lisa als auch Hermann erleben diese Unterdrückung. Als sie sich begegnen, wollen sie das nicht länger über sich ergehen lassen, sondern ihren wahren Gefühlen nachgehen, ihren Leidenschaften.