Händel als „happy place“, als Heimat, als vermeintliches Idyll - Deutsche Oper Berlin
Zur Uraufführung von „Delirio“
Händel als „happy place“, als Heimat, als vermeintliches Idyll
In loser Folge werden in der Tischlerei Werke des Opernrepertoires be- und hinterfragt – nach HOFFMANN und DIDO beschäftigen sich Komponist Zad Moultaka und Regisseur Wolfgang Nägele diesmal mit einer Solo-Kante von Händel
Delirio
Georg Friedrich Händel / Zad Moultaka
Eine Überschreibung von Händels IL DELIRIO AMOROSO
Mit einem neuen Text von Hyam Yared
Musikalische Leitung: Christian Karlsen
Inszenierung: Wolfgang Nägele
Mit Flurina Stucki, Matthew Peña, Paull-Anthony Keightley, Guilhelm Terrail sowie Musikern des Orchesters der Deutschen Oper Berlin
Uraufführung am 4. Juni 2019
In loser Folge werden in der Tischlerei, dem Ort für Uraufführungen und Neues an der Deutschen Oper Berlin, bekannte und unbekannte Werke des Opernrepertoires be- und hinterfragt – nach HOFFMANN und DIDO beschäftigen sich Komponist Zad Moultaka und Regisseur Wolfgang Nägele diesmal mit einer Solo-Kante von Georg Friedrich Händel. Bei IL DELIRIO AMOROSO, entstanden 1707 während Händels Italien-Reise, handelt es sich zwar um ein Frühwerk, das mit Ouvertüre, Menuett und vier sehr unterschiedlichen Arien jedoch mehr ist als nur eine Fingerübung. Händel nimmt hier den für die Form der Solokantate typischen Topos der verlassenen Frau, die dem Wahn verfällt, auf, formt ihn aber um: Clori trauert um ihren verschwunden Tirso. Sie will ihn aus dem Hades erretten und führt ihn auf die elysischen Felder – doch er schaut sie noch nicht mal. Ganz am Ende erfahren wir erst, dass es diesen Tirso wohl nie gegeben hat und sich alles in Cloris Kopf abspielt. Der Moment des Verschwindens wird für das Inszenierungsteam zum Ausgangspunkt für ihre Produktion DELIRIO. Der Komponist Zad Moultaka – im Libanon geboren, in Paris lebend – schrieb bisher u. a. für Ensembles in Frankreich, die Neuen Vocalsolisten Stuttgart und diverse Festivals. Sein Kindermusiktheater HAMED UND SHERIFA wurde am Staatstheater Mainz, am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen und kommende Saison an der Staatsoper Hannover aufgeführt. Er arbeitet aber auch als Bildender Künstler – nachdem er 2017 den libanesischen Pavillon auf der Biennale in Venedig gestaltete, wurde er dieses Jahr von Belgien eingeladen eine Installation für Venedig zu entwerfen. Dramaturg Lars Gebhardt traf ihn für drei kurze Fragen zu DELIRIO:
Zad, es ist nicht das erste Mal, dass du dich mit einem Werk der Musikgeschichte auseinandersetzt. Immer wieder arbeitest du mit Zitaten der europäischen Kunstmusik, aber auch der klassisch arabischen Musik. Worin liegt für dich der Reiz?
Ausgangspunkt ist bei mir immer der Stoff, sind die Worte und Gefühle, die der Text transportiert. Vor zwei Jahren habe ich eine Antwort und Ergänzung auf Monteverdis „Combattimento di Tancredi e Clorinda“ geschrieben. Ich näherte mich dabei dem dramatischen Rezitativ-Ton Monteverdis an, verband ihn aber auch mit anderen Elementen. Natürlich hat auch meine libanesische Heimat Einfluss auf meine Arbeit – oft ist sie in speziellen Rhythmen, einer gewissen Leichtigkeit spürbar. Diese trifft gerade bei Händels oftmals von Tänzen geprägten Arien auf einen fruchtbaren Boden.
Der Regisseur Wolfgang Nägele und ich finden in Händels Kantate gerade das Ungesagte, Ungehörte spannend: Cloris „Wahnsinn“ ist nicht in Musik gefasst – nur zwei episch rahmende Rezitative verweisen darauf, dass es Tirso wohl nie gab. Die Musik erzählt dagegen von Stationen der Liebe: Freude, Trauer, Hoffnung. Ausgangspunkt für mich ist tatsächlich der „Gang in die Hölle“. Das Ungesagt hörbar zu machen, aber auch zu vergrößern.
Ihr arbeitet mit einem neuen Text. Die libanesisch-kanadische Autorin Hyam Yared hat ausgehend von dem Text der Händel-Kantate ihren eigenen Kommentar weitergesponnen. Wie kann man diesen Text beschreiben?
Hyams Texte verbinden sehr oft extrem private Momente mit gesellschaftlichen Entwicklungen. Uns alle interessiert der Moment des Verschwindens und die Ungewissheit der Zurückgebliebenen: Hat Tirso Clori vielleicht einfach verlassen? Ist er gestorben? Wurde er entführt? Hyams Text setzt an dem Moment der Höllenfahrt ein. Clori begegnet einem Fährmann und einem Küstenwachmann, die ihr versichern, dass es keinen Tirso gibt oder gab. Sie bewachen nur die Weite des Meeres. Die Hölle nach der Clori sucht, sei nur eine Illusion. Eine dritte Partie, das Echo, konterkariert ihre Texte. Tirso und Tyr(os), die libanesische Hafenstadt, verschwimmen zu einem Heimatbegriff. Clori spürt noch die Spuren seiner Liebe in ihrem Leben, ihrem Körper, ihrer Stimme. Das Stück endet mit den Worten des Echos: „Seid ihr sicher, dass ihr jemals geliebt habt?“ Ich folge der Dramaturgie ihres Textes – binde aber immer wieder die Texte der Händel-Arien in den Verlauf ein.
Was bleibt von Händels Musik übrig?
Wir beginnen mit der Ouvertüre und ersten Arie von Händel und steigern uns dann immer weiter. Aber Händel bleibt die ganze Zeit als Folie anwesend. Wir haben mit dem Orchester und der Sopranistin Flurina Stucki die Kantate vorab komplett aufgenommen und ich habe daraus eine zweite musikalische Ebene gebaut – nachdem wir mit dem Händel beginnen, bleiben von ihm Reste übrig: einerseits in meiner Neukomposition, andererseits in einem Surround-Zuspiel. Händel ist so etwas wie der „happy place“, die Heimat, ein vermeintliches Idyll, das Clori immer wieder heraufbeschwören möchte.