Hosianna in der Höhe - Deutsche Oper Berlin

Was mich bewegt

Hosianna in der Höhe

In Verdis MESSA DA REQUIEM steht nach mehr als einem halben Jahr endlich der Chor der Deutschen Oper Berlin wieder auf der Bühne. Warum berührt uns Chorgesang so sehr? Ein Essay von Sebastian Hanusa, Dorothea Hartmann und Jörg Königsdorf

Wenn die Stimmen ein Körper werden, wenn achtzig Sänger*innen gemeinsam singen, dann drückt das manche in die Sitze – und irgendwas geschieht. Von der berühmten Träne im Augenwinkel bis zu jenem Gefühl der Rührung, das aus dem Bauch nach oben steigt: Es passiert einiges im Saal, wenn diese Wand aus Stimmen sich rüberschiebt, ins Publikum. Aber was auch immer das ist, messen kann man es nicht. Es wird weder lauter noch wärmer, die Dezibel-Werte des Chors unterscheiden sich nicht signifikant von denen einer Solistin. Aber irgendwas verändert sich, wenn viele Menschen auf der Bühne stehen und singen. Und wir, das Publikum, die Vielen auf der anderen Seite, wir spüren das. Die Frage ist nur: was? Wieso steigt die Energie, sobald der Chor einsetzt?

Verstehen lässt sich die Flut der Emotionen, wenn wir einen Blick zurückwerfen in die Geschichte des Chors. Geboren im antiken Theater, gab der Chor den Kommentar, war Spiegel der Gesellschaft. Mit ihm wurde auf der Bühne das Verhältnis zwischen Volk und Obrigkeit gespiegelt. Und ursprünglich gab es in der Antike die Trennung von Chor und Publikum ohnehin nicht: Die singende Gruppe auf der Bühne war zusammengesetzt aus Bürgern der Polis. Der Chor als singende Bürgerschar ging mit den Griechen unter, wiedergeboren wurde die schöne Idee spätestens mit der Reformation der Protestanten, deren Eucharistie immer eine Feier der Gemeinde ist, inklusive des gemeinsamen Gesangs. Im Gegensatz zur katholischen Tradition, in der exklusiv die Mönche sangen (also quasi »Profisänger«!). Als im Barock die Oper aufkam, bezogen sich die Komponisten und Autoren explizit auf ihre Vorväter in der Antike. Nur interessierten sie sich wenig für den Chor. Kein Wunder, schließlich war die Stimme des Volkes in der barocken Hofoper kaum relevant: Auf der Bühne wurde der Souverän gefeiert (für ihn war das Werk ja geschrieben worden).

Seinen großen Auftritt in der Oper bekam der Chor erst, als die Masse als eigenständiger Akteur wahrgenommen wurde, der Politik verändern kann: im Gefolge der Französischen Revolution. Plötzlich wurde das Volk zum politischen Faktor – und es wurden Revolutionsopern mit opulenten Chornummern geschrieben, etwa Beethovens FIDELIO. So wurde das 19. Jahrhundert zum Jahrhundert der Opernchöre und aus seinen Chören (etwa in NABUCCO oder den Meyerbeer-Opern) klingt das Selbstbewusstsein des Bürgertums. Wenn wir diese Chöre hören, hören wir immer auch das: Emanzipation und Politik, Stolz, blutige Kämpfe, schmerzhaft errungene Freiheiten.

Damit sie in MESSA DA REQUIEM den Abstand wieder verringern können, werden die Sängerinnen und Sänger vorher auf Covid-19 getestet © Marcus Lieberenz
 

Parallel zu diesen neuen Zeiten entwickelte sich um 1800 – der großen Wetterscheide der Geschichte – ein anderes Phänomen, das unser Verhältnis zum Chor erklärt: 1791, unmittelbar nach der Französischen Revolution, wurde die Sing-Akademie zu Berlin gegründet: der weltweit erste gemischte Chor. Plötzlich gab es ein völlig neues Konzept, losgelöst von Hof oder Kirche, hier sangen Bürger gemeinsam, einfach so, aus Freude, kamen einander körperlich nah, erhoben ihre Stimme. Die Berliner Bewegung ging Hand in Hand mit dem Entstehen eines Nationalbewusstseins, verbreitete sich innerhalb kürzester Zeit in ganz Europa und existiert auch heute noch.

In ihren Sing-Akademien wagten sich die Bürger auch an große sakrale Werke. Die MATTHÄUS-PASSION, gesungen vom Volk: Da wird ein religiöses Werk, zu dem in der Kirche am Karfreitag das Leiden Jesu drei Stunden miterlitten wurde, zu einer Art bürgerlichem »Pseudo-Gottesdienst«. Auch Verdis MESSA DA REQUIEM ist eine Verquickung zwischen Sakralem und Profanem. Basierend auf dem Text der katholischen Totenmesse schillert in ihr die Sehnsucht nach Anbindung an eine höhere Kraft – in Kirchen wie in Opernhäusern. Gerade in einer Zeit der Ungewissheit steht Verdis Chor pars pro toto für uns, das Publikum. Wir leben und fühlen mit den Choristen die Umschläge zwischen Verzweiflung und Hoffnung, zwischen Angst und Erlösung.

Die Grenzlinie zwischen dem Chor auf der Bühne und den Menschen im Publikum ist durchlässig. Das sieht man deutlich an einem weiteren Phänomen des 19. Jahrhunderts: der Nationalhymne. Der Grundgedanke ist fast religiös, man singt zusammen und schafft Gemeinschaft. Viele Opernkomponisten schrieben Nationalhymnen und schufen damit so etwas wie die letzte Profanisierungsstufe des Opernchors. Der Gefangenenchor aus NABUCCO wird auch »die heimliche Nationalhymne Italiens« genannt. Wird sie gespielt, steht das italienische Publikum singend auf. Wir sind der Chor! Spätestens seit den Erfahrungen des Faschismus und des Stalinismus birgt dieser Gleichklang immer auch einen Misston. Einerseits ist da die Überwältigung der entfesselten Energie, das Baden im Klang – und andererseits ist da die Verführbarkeit der rhythmisierten Masse. Die Herzen schlagen synchron (das tun sie tatsächlich), das tun sie aber auch bei Sprechgesängen im Kloster, im Stadion, bei Marschierenden einer Militärparade. Der tief empfundene Gleichklang der Gemeinschaft wurde missbraucht, seit es Gemeinschaft gibt. Kein Wunder, dass die große Chormusik immer wieder vereinnahmt wurde. Beethovens 9. Sinfonie etwa, »Alle Menschen werden Brüder«, funktionierte im Faschismus wie in der DDR und der Bundesrepublik. In der klassischen Moderne werden daher fast keine großen Choropern mehr geschrieben. Skepsis herrscht gegenüber dem Sound der Masse, etwa wenn Regisseur Benedikt von Peter in seiner AIDA den Chor in Individuen aufspaltet, verteilt und im Publikum platziert.

Sicherheit geht vor: Auch die Partituren für die Proben von MESSA DA REQUIEM werden an der frischen Luft verteilt © Marcus Lieberenz
 

Du, ich, wir. Individuum und Kollektiv. Singular und Plural. Person und Masse. Es bleibt spannend um das, was Chöre machen. Wir gehen auf in Teams, steigen manchmal sogar empor im Gleichklang des Gesangs – und wollen im nächsten Moment auch gerne wieder autonomes Individuum sein. Wahrscheinlich ist die Geschichte des Chors auch eine Geschichte der Sehnsucht. Nach Teilhabe und Transzendenz. Die Stimme erheben – und sich auflösen in der Gruppe. Sänger*innen kennen das Gefühl, diesen schönen, wirklich unschuldigen Moment des Gleichklangs. Und Chorsänger reden daher ganz frei von ideologischem Ballast vom »Kollektiv«, wenn sie von ihrem »Wir« berichten. Wahrscheinlich ist es das, was uns so berührt, wenn die Stimmen der Vielen unsere Körper im Publikumssaal erreichen: dieses ganz besondere Wir-Gefühl.

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