Im Rausch der Bilder - Deutsche Oper Berlin
Im Rausch der Bilder
Sir Donald Runnicles dirigiert die Zweite Sinfonie von Gustav Mahler. Ein Gespräch über die ewige Lust, sich von Musik überwältigen zu lassen.
Warum Gustav Mahler, Sir Donald?
Als ich sechzehn Jahre alt war, habe ich mein Taschengeld aufgebessert und in der Konzerthalle von Edinburgh Programmhefte verkauft. Es lief die Erste Sinfonie, ich stand im Zuschauerraum und hatte das Gefühl, die Zeit steht still. Heute weiß ich, wie lange die Erste Sinfonie dauert, aber ich weiß noch, dass ich keine Erinnerung daran habe, ob das alles eine halbe, eine Stunde oder zwei Stunden dauerte. Alles löste sich auf, der Raum bestand nur noch aus Musik und Erzählungen.
Mahler hat zu Ihnen gesprochen.
Das kann man so sagen. Das Theatralische, das Bildhafte der Musik hat mich einfach umgehauen. Ich habe mich dann manisch mit allem beschäftigt, was mit Mahler zu tun hatte. Drei Jahre später habe ich an der Uni eine Arbeit über Mahler geschrieben und die Frage, inwieweit die Instrumentierung und die Überarbeitungen der Fünften Sinfonie mit dem Komponisten oder dem Dirigenten Gustav Mahler zu tun haben.
Eine der Kernfragen bei Mahler, auf der sich akademische Karrieren gegründet haben dürften ...
Eben, zum Beispiel auch die von Donald Mitchell, der Professor in Southampton war, vier wunderbare Bücher über Mahler geschrieben hat und den ich kennenlernen durfte. Mitchell schickte mir Fotokopien von Robert Schumanns Partituren mit Korrekturen von Gustav Mahler, wo er statt zwei Hörnern vier empfiehlt, die Chromatik verändert. Lange Rede, kurzer Sinn: Ich war fasziniert von Mahler, tauchte richtig tief ein. Dann kam 1972 Leonard Bernstein mit dem London Symphony Orchestra nach Edinburgh, spielte die Zweite Sinfonie, ich stand wieder in der Usher Hall. Und es war einfach nur geil, verzeihen sie das Wort, wie dieser kleine Mann zum Giganten wurde, das Orchester beschwor und das Stück dirigierte, als hätte er es selbst geschrieben. Ich war wie im Rausch, als hätte ich Drogen genommen.
Was macht die Auferstehungssinfonie so besonders? Ist sie Mahlers größte?
Von der Besetzung her ist die Achte größer. Aber die Zweite Sinfonie hat seinen Durchbruch markiert. Mahler hatte sich damals wie alle Komponisten seiner Zeit sehr mit Finalen auseinandergesetzt und nach dem sehr reichhaltigen Aufbau des Stück einen Ruhepunkt zu setzen, mit der zarten gesanglichen Vertonung des »Urlicht« ist einfach nur genial.
Insgesamt aber auch, salopp gesagt, viel Holz!
(Lacht) Eine volle Mahlzeit, sozusagen. Mahlers Zweite ist ein tolles Schaufenster für jedes Orchester, jeden Chor – jeder kann zeigen, was er draufhat, dank dieser unglaublichen Dynamik und Theatralik.
Das wertvollste Musikmanuskript ist Mahlers 2. Sinfonie, 2016 bei Sotheby’s versteigert für 5,3 Millionen Euro.
Ach, das wusste ich nicht. Ist aber verständlich, Mahlers Manuskripte sind ja extrem detailliert, voller Anweisungen für das gesamte Orchester.
Wie bereiten Sie sich auf die Aufführung vor?
Ich arbeite mit der kommentierten Werksfassung von Gilbert Kaplan, er gilt als der Experte schlechthin, wenn es um Mahlers Zweite geht. Auch hier hatte ich das Glück, ihn vor Jahren treffen zu können. Mahler hat ja seine Werke fortlaufend weitergeschrieben. Die Frage ist also stets: Ist der letzte Stand das letzte Wort? Mahler selbst hat dem Dirigenten Otto Klemperer einmal gesagt, dass es völlig okay sei, die Instrumentierung einem Saal oder einem bestimmten Orchester anzupassen.
Tun Sie das? Passen Sie Mahlers 2. Sinfonie an?
(Lacht) Um Gottes Willen, nein! Es ist schwierig genug, alles so hinzubekommen, wie es auf dem Papier steht.
Engt Sie die enorme Ausdifferenzierung der Partituren nicht ein, als Dirigent, als Künstler?
Mahler hat sich gegen die »Schlamperei« der Aufführungen seiner Zeit gewehrt. In der Partitur steht über den Noten mal »nicht schleppen« dann wieder »nicht eilen«. Aber trotz dieser peniblen Genauigkeit – und das ist das Geniale an Mahler – bleibt noch viel Freiraum für eigene Interpretationen.
Zum Beispiel?
Schon gleich den Beginn, den Part der Streicher können Sie mit unterschiedlicher Akzeleration angehen. Rasen Sie durch oder lassen Sie sich Zeit? Diese schnellen, aufbäumenden Spannungen; dann plötzlich – Nichts, völlige Stille. Darin entfaltet sich etwas und Sie spüren: den Raum, das Publikum, den Anlass. Und das können Sie gestalten.
Im Original der Auferstehungssinfonie hat Mahler eine fünfminütige Pause vorgesehen, quasi um das Weltende einsinken zu lassen. Werden Sie die Pause »spielen«?
Es gab mal einen Dirigenten, der hat die lange Pause gespielt, aber es hat sie passenderweise zwischen den zweiten und dritten Satz verlegt.
Wann steht die Pause in der Partitur?
Gustav Mahler hat die Pause nach dem Ende des ersten Satzes vorgesehen. Aber er hat es auch gebilligt, dass andere die Pause nach dem zweiten Satz setzen. Ich mache nach dem ersten Satz eine Pause, weil wir alle diese Pause brauchen, auch das Publikum, aber eben keine fünf Minuten.
Wäre es heutzutage nicht angebracht, das einmal auszuprobieren, bei diesem Inhalt?
Nicht umsonst nannte man den ersten Satz der Zweiten ja lange auch »Totenfeier«. Mahler hatte den ersten Teil 1888 fertig und hörte beim Begräbnis seines Idols und Mentors Hans von Bülow das Gedicht von Klopstock und daraufhin vervollständigte er das Werk um weitere vier Sätze.
Interessanterweise spielte Mahler diesen ersten Satz seinem Mentor von Bülow vor, als der noch lebte. Woraufhin Mahler notierte, dass sich von Bülow in seiner Ablehnung »gebärdete wie ein Verrückter«. Andere wetterten damals von »Lärm, Skandal, Unfug und Umsturz«. Aus heutiger Sicht ist das schwer nachzuvollziehen. Worin lag Mahlers Radikalität?
Das Theatralische der Musik, die dreidimensionale Anordnung der Instrumente. Mahler war ein großartiger Operndirigent, er musste keine Oper schreiben, weil er ständig Oper dirigierte. Andererseits könnte man behaupten, die Zweite, Dritte oder Achte von Mahler sind quasi Opern, weil man die ganze Zeit das Gefühl hat, es wird eine Geschichte erzählt. Mahler wusste als Dirigent genau, was man aus einem Orchester herausholen kann und diese Wucht, die Bilder, das Erzählerische, dieser Sturm hat viele Leute irritiert.
Klingt nach frühem Kino, als Menschen aus Filmtheatern flüchteten oder ohnmächtig wurden.
Sehen Sie? Genau das dürfte bei Gustav Mahler auch passiert sein. Mahler hat den Konzertsaal wie ein Opernhaus benutzt, Trompeten hinter der Bühne platziert oder im Saal. Bei Gustav Mahler sind sie wortwörtlich um geben von Musik. Sie sitzen mittendrin. Es erinnert an Quadrophonie, nur live.
Nun spielen Sie bald in der Philharmonie. Das Orchester sitzt mit den Sängern und dem Chor quasi auf der Bühne ist umgeben vom Publikum. Was werden Sie ändern?
Das Tempo. In einem so großen, überakustischen Raum müssen Sie Geschwindigkeit rausnehmen, sonst kommt das Ohr nicht mit. »Zum Raum wird hier die Zeit«, heißt es in Wagners PARSIFAL. Konzertsäle sind Tempel, da müssen Sie auch die Silentien, die Zeiten der absoluten Ruhe, zelebrieren.
Worauf achten Sie noch?
Es ist für jedes Orchester von großer Bedeutung, in der Berliner Philharmonie zu spielen. Alle großen Orchester haben hier gespielt, der Klang ist fantastisch, jeder spielt hier besser.
Kein Wunder, das Gebäude ist eigens für Orchester errichtet. Und dieses Orchester sitzt im Kessel, im Zentrum, wird gesehen, die ganze Zeit!
Eben. Und deswegen muss ich alle im Orchester stets daran erinnern, zu lächeln! Vor allem beim Schlussapplaus.