Kein Mensch entzieht sich der Wirkung dieser Chöre! - Deutsche Oper Berlin
Aus dem Programmheft
Kein Mensch entzieht sich der Wirkung dieser Chöre!
Dirigent Sebastian Lang-Lessing im Gespräch mit Katharina John
Richard Wagner
RIENZI, DER LETZTE DER TRIBUNEN
Wir danken dem Label Unitel für die freundliche Sendegenehmigung. Eine DVD dieser Produktion liegt im Handel vor, zum Beispiel im
Amazon-Shop
RIENZI gehört zu Wagners weniger bekannten Werken. Die Ouvertüre aber ist ein häufig verwendeter Reißer. Besitzt das Werk »Ohrwurmqualitäten«?
RIENZI ist ein sehr melodisches Stück mit einer einfachen Phrasenstruktur. Die Periodik ist ganz klar, es sind achttaktige Melodiebögen. Man kann es drehen und wenden wie man will, RIENZI ist der italienischen Oper näher als dem späteren Wagner. Und so sollte man auch musikalisch an das Stück herangehen, wie an einen frühen Verdi. Die Artikulation zum Beispiel ist beim frühen Wagner noch ganz anders. Alles, was Wagner später lang konzipiert, ist bei RIENZI ganz extrem kurz. Ein großer Unterschied besteht auch in der Behandlung des Blechs. Hier lässt er es noch – wie ein Pedal – über große Strecken mitlaufen. Später dann setzt er es immer sehr gezielt und nur an expressiven Stellen ein. Insgesamt muss man RIENZI eher wie einen Bellini behandeln. Man darf auch nicht vergessen, dass das Stück unter dem Aspekt der Instrumentenentwicklung eine Scharnierstellung einnimmt: Wagner unterscheidet ganz klar zwischen Naturhörnern und Ventilhörnern, Naturtrompeten und Ventiltrompeten. Das findet man auch bei Schumann und Mendelssohn, bei Wagner selbst bis zum HOLLÄNDER. Der Klang des Naturhorns galt als der schönere, wegen der harmonischen Entwicklung hin zur Chromatik konnte man aber auch nicht auf die Ventilinstrumente verzichten.
Begegnet man trotz seines überwiegend italienischen Charakters in RIENZI auch schon dem späteren Wagner?
Zwischendurch hört man plötzlich acht geniale Takte und denkt, das ist schon PARSIFAL oder GÖTTERDÄMMERUNG. Natürlich schimmert auch sehr viel TANNHÄUSER durch. An der ein oder anderen Stelle hört man diese chromatischen HOLLÄNDER-Sextolen, eine LOHENGRIN-Stelle gibt es übrigens auch. Dieses Wiedererkennen oder Vorausahnen geschieht manchmal durch ganz einfache Techniken, z. B. durch eine harmonische Rückung, die Wagner benutzt. Aus der Rückschau merkt man, wie vieles schon in RIENZI angelegt ist. Im Gegensatz zu Mendessohn, der eine lange und hervorragende Ausbildung genossen hat, war Wagner ja Autodidakt. Meines Erachtens hat Wagner ihn um seine Eloquenz und Reife schon in verhältnismäßig jungen Jahren sehr beneidet. Nur so kann ich mir Wagners Verurteilung von Mendelssohn erklären. Sie waren ja Altersgenossen, Mendelssohn nur vier Jahre älter, aber Wagner war in jungen Jahren noch weit davon entfernt, ihm das Wasser reichen zu können.
Wagner hat sich schnell wieder von RIENZI distanziert und die Tradition, an die dieses Werk anknüpft, hinter sich gelassen. Er empfand es als eine Etappe, die – kaum erreicht – schon wieder überwunden war. Offenbar hatte er eine präzise Vorstellung von dem, was er musikalisch erreichen wollte, davon, dass er als Komponist etwas zu sagen hatte, was weit über die Musik der Gegenwart hinausreichen würde.
Es ist schwer zu beurteilen, was bei Wagner kalkuliert und was nicht kalkuliert war. Auf jeden Fall war RIENZI für ihn ein enorm wichtiges Stück und eine entscheidende Etappe. Alles davor, DAS LIEBESVERBOT, DIE FEEN, kann man wirklich vernachlässigen. RIENZI aber ist schon ein Riesenschritt in eine ganz neue Richtung. Die Ouvertüre ist noch immer eine der besten Konzertouvertüren, die man sich vorstellen kann. Sie besitzt zwar noch nicht dasselbe Raffinement wie das MEISTERSINGER-Vorspiel, hat aber als Konzerteröffnung die gleiche zündende Wirkung – ein genialer Wurf.
RIENZI ist eben eine Komponistenwerkstatt, und Wagner entwickelt sich auch innerhalb des Stücks enorm weiter. Das ist aufregend zu beobachten. Er macht z. B. eine harmonische Entwicklung durch und probiert vieles aus, bis hin zur Orchestration. Gegen Ende des Stückes wagt er plötzlich Sachen, die am Anfang noch nicht denkbar gewesen wären. Er bewegt sich chronologisch schrittweise durch das Stück vorwärts und lernt spürbar aus seinen Fehlern. Ausgeprägt war aber schon sein überbordender melodischer Einfallsreichtum. Ein Werk von den Ausmaßen des RIENZI aufs Papier zu bringen, wäre ja für andere eine Lebensaufgabe. Nur als eine »Kladde« für Kompositionstechnik kann man das Stück natürlich auch nicht sehen. Dafür hat Wagner hier schon zu viel zu sagen.
Immerhin brachte es ihm im Alter von 29 Jahren den Durchbruch und eine Kapellmeisterstelle in Dresden. Was ist das Erfolgsgeheimnis dieses Werkes?
Zum einen sicherlich die ungeheure Massenwirksamkeit der Chöre, dieses Phänomen, das wir als »Ohrwurmqualität« bezeichnet haben. Die Musik von RIENZI besitzt streckenweise eine enorm manipulative Kraft. Es wundert einen nicht, dass Hitler das erkannt und verwendet hat. Ich glaube, kein Mensch entzieht sich der Wirkung dieser starken Chöre.
Wodurch erreicht Wagner diese Wirkung?
Durch ihre melodische und rhythmische Qualität. Durch die Rhythmik stellt sich eine enorme Zugkraft her.
Viele der Mittel, die er einsetzt, sind ja relativ einfach: wechselnde Dynamik, häufige Crescendi etc. – wirksam, aber wenig raffiniert.
Der Triumphmarsch in AIDA ist auch nicht der subtilste Moment dieser Oper. Das Stück besitzt überwiegend einen ganz anderen Charakter, ist sehr kammermusikalisch und differenziert. Verdi wusste aber auch genau, an welcher Stelle er den Schalter umlegt und in eine Schublade von Effekten greift, die er vorher nicht geöffnet hat.
Ist RIENZI also Popmusik?
Einzelne Teile können vielleicht so betrachtet werden. AIDA wird auch immer mit dem Triumphmarsch identifiziert und bei RIENZI ist es ebenfalls so. Es überwiegt doch der Belcanto, der Bellini-Charakter mit Koloraturen und Kadenzen. RIENZI ist im Grunde eine große Belcanto-Oper. Man muss ihn einbetten in die Geschichte der 1830er Jahre und sich fragen: Welche Stücke sind damals entstanden, was war neu, welche Leute waren die radikalsten, die Vorkämpfer? Da stößt man sicherlich auf Hector Berlioz, dessen Symphonie fantastique wahrscheinlich das wichtigste Werk des frühen 19. Jahrhunderts war, weil es alles umgekrempelt hat, oder eben auch auf die Strömung um Schumann und Mendelssohn, die für das Opernschaffen erstmal in eine Sackgasse führte. Schumann hat sich daraus später wieder befreit und es entstanden Werke wie Manfred, einzelne »Hybride«, die leider nur noch selten zur Aufführung kommen. Ein anderes Beispiel sind Schumanns Faust-Szenen, die in ihrer Radikalität schon den späten Wagner vorwegnehmen. Aber diese Entwicklung ist ein wenig in Vergessenheit geraten. Im Vergleich dazu bewegt sich Wagner mit RIENZI noch auf sehr vertrautem Terrain.
Erst mit TRISTAN und dessen radikaler Harmonik betritt er wirklich musikalisches Neuland. Erste Schritte in diese Richtung unternimmt er schon vorher, z.B.im LOHENGRIN. Aber auch der TANNHÄUSER ist so ein »Zwitterwerk«. Das wird in Wagners eigener Umarbeitung erkennbar.
Zurzeit ist es gerade Mode, zurück zu den Wurzeln zu gehen, sich darum zu bemühen, die Urfassung als authentischsten Ausdruck eines künstlerischen Wollens zur Aufführung zu bringen. Wenn Wagner genug Zeit gehabt hätte, vielleicht hätte er auch RIENZI noch mal einer Überarbeitung unterzogen?
Wir beziehen uns jetzt sehr stark auf ein perspektivisches Interesse an RIENZI. Ist das Werk heutzutage eigentlich nur noch aufgrund seines historischen, musikwissenschaftlichen Wertes interessant oder gibt es darüber hinaus etwas zu entdecken, was ohne diesen Kontext von Interesse sein könnte?
Ich glaube, das ist ein wichtiger Gesichtspunkt. Absolut gesehen – und so muss man das Stück sehen, denn so wird es ja dem Zuschauer und Zuhörer präsentiert – ist es ein sehr starkes Werk, das den Aufstieg und Fall eines Politikers und Menschen als eine sehr berührende Geschichte darstellt. RIENZI ist eine beinahe intime Erzählung über das Scheitern einer eigentlich großen Idee und darüber, dass einen in Zeiten der Krise die Masse des Volkes immer im Stich lässt.
Hans von Bülow sprach in einem – inzwischen allerdings etwas abgenutzten – Bonmot von RIENZI als »Meyerbeers bester Oper«. Sie haben RIENZI bislang hauptsächlich in die Nähe der italienischen Oper gerückt – die französische Grand Opéra spielt für das Werk aber auch eine wesentliche Rolle.
Von der Grand Opéra, wie Meyerbeer sie vertrat, hat man heute kaum noch eine Vorstellung. Das ist das Problem. Ich spreche von der italienischen Oper, weil wir damit etwas verbinden. Das Repertoire der Grand Opéra tritt auf deutschen Bühnen quasi nicht mehr in Erscheinung. Gerade kann man eine Art zarte Berlioz-Renaissance beobachten. Vieles, was jetzt wieder ausgegraben wird, kommt – aus ideologischem Purismus – völlig ungestrichen zur Aufführung. Bei RIENZI wird in der Regel nicht so verfahren, da sind Striche durchaus üblich.
Unsere Fassung ist mit ca. zwei Stunden zwanzig Minuten reiner Spielzeit sehr kurz. Philipp Stölzl geht es in allen Medien, in denen er sich artikuliert, darum, eine gut gebaute, nachvollziehbare und verdichtete Geschichte zu erzählen. RIENZI verfügt noch nicht über die kompakte musikalische Textur des Musikdramas. Mit der von Wagner gewählten Form der Grand Opéra sind zahlreiche Wiederholungen – aus erzählerischer und musikalischer Sicht Redundanzen – verbunden.
Ich finde, das ist eine legitime Sichtweise von RIENZI. Manches ist sicherlich sehr radikal, aber solche Schnitte erfüllen eher den Zweck, musikalisch und dramaturgisch sinnvoll zu verknappen, als halbherzige Sprünge. Das Problem bei dem Stück ist gar nicht so sehr, dass es nicht genug gute Musik gibt. Das Gegenteil ist der Fall, aber unsere Seh- und Rezeptionsgewohnheiten haben sich grundlegend verändert. Die beste Musik ist zum Beispiel die Ballettmusik, die kein Mensch mehr aufführt. Das sind knapp 40 Minuten tolle Musik, die aber jeden erzählerischen Spannungsbogen kappen würde. In RIENZI gibt es viele Handlungsstränge, die eigentlich eher Seitenschauplätze sind. Philipp Stölzl hat das Werk radikal verknappt und so auch die Personen klarer gezeichnet. Man erkennt deutlicher Rienzis Entwicklung, klarer ist auch die ambivalente Haltung von Adriano. Weniger im Vordergrund steht sicherlich die Liebesbeziehung von Adriano und Irene. Der Fokus ruht jetzt eher auf der Bruder–Schwester-Liebe, dem Siegmund-und-Sieglinde-Phänomen. Da ich erst zu der Produktion gestoßen bin, als dieser kreative Prozess schon abgeschlossen war, besteht das Spannende an meiner Arbeit jetzt darin, diese Fassung musikalisch zu einem großen Ganzen zu formen. Manchmal wenn z. B. etwa dreißig Minuten musikalische Entwicklung fehlen, und ich dafür gerade 12 Takte zur Verfügung habe, ist es durchaus eine Herausforderung, da einen gelungenen Übergang zu schaffen. Mein Ziel ist es, zu erreichen, dass der Zuschauer am Abend eben nicht jeden Sprung als enormen »Gangwechsel« erlebt. Das ist die hohe Kunst.
Welche Anforderung stellt RIENZI musikalisch an Sänger und Orchester im Vergleich zum späteren Wagner?
RIENZI muss »italienisch« gesungen werden, mit italienischer Technik. Der Text ist zwar auch wichtig, aber wenn man nicht legato singen und weite Bögen spannen kann, dann funktioniert das ganze Stück nicht. Das trifft allerdings auf den gesamten Wagner zu. Was ich sagen will: es ist eben auch ein Belcanto-Stück und so muss man es anlegen. Die Titelpartie erfordert einen deutschen Heldentenor mit hervorragender Höhe und Belcanto-Qualitäten wie sie für die anderen Partien auch gefragt sind. Adriano ist eine dramatische Mezzopartie, eigentlich eine Zwischenfachpartie, die schon in den Sopranbereich ragt. Eine gewisse Koloraturfähigkeit und eine Leichtigkeit auch in der Höhe müssen vorhanden sein. Irene, das ist der typische Fall von einem hohen Sopran, der leicht über die Ensembles rüber schweben muss. Insgesamt erfordert RIENZI, mit großer instrumentaler Genauigkeit singen zu können – ähnlich wie bei Beethoven. Beethoven behandelt die Stimmen wie ein Instrument und ein bisschen ist das hier auch so. Die andere Herausforderung an die Musiker ist, zu erkennen, wo das Stück stilistisch liegt. Das Problem ist, man kennt Wagner und verbindet ein anderes Klangideal mit ihm, als das, was wir für RIENZI brauchen. Vielleicht schimmert hier und dort der späte Wagner durch, aber im Gros muss man das Stück transparenter und artikulierter anlegen.
Sie haben vorhin bereits von der manipulativen Qualität dieser Musik gesprochen. Wir kennen die Affinität Adolf Hitlers zu RIENZI. Ein Grund dafür mag genau diese Eigenschaft sein, verstärkend kommt sicherlich noch der heroische Charakter der Musik hinzu, der einem zwei Möglichkeiten zur Identifikation anbietet: In der Masse des Volkes aufzugehen, oder sich heroisch aufbauen zu lassen. Gibt es das »Heroische« in der Musik und was macht es aus?
Das gibt es und es ist ganz einfach: klare Harmonik, punktierte Rhythmen, gloriose Blechbläserbehandlung und monumentale Chöre. Als er dieses Stück gehört hat, hat Hitler sicher erkannt, dass man sich zwar gegen die Musik auflehnen kann, am Ende aber – ob man will oder nicht – sitzt man doch dort, singt es innerlich mit und marschiert in dem Tempo nach Hause.
Wir dürfen aber nicht vergessen, dass Wagner die angestrebte Erlösung am Ende zerstört. Sie findet nicht statt. RIENZI ist das erste und einzige Stück ohne apotheotischen Schluss. In der Urfassung hat auch der HOLLÄNDER keine Apotheose. Die kam erst später dazu. Das Finale ist ja auch sehr kompakt und schnell vorbei. Es endet trübe und die Erlösung findet nicht statt. Das ist radikal und modern. Das Stück an sich kommt gar nicht so plakativ daher, wie viele meinen. Ich glaube, dass Wagner bei allem heroischen Ansatz auch die Schrecken des Krieges zeichnet. Zum Beispiel im Jungfrau-Maria-Chor – fantastisch, wie er die Angst, die unter der Oberfläche kocht, gestaltet. Und dieser grausame Schluss! Er stellt den Heroismus, den er vorher aufgebaut hat, sehr in Frage. Wagners Haltung ist da nicht unreflektiert glorifizierend, sondern sehr wohl die Bedrohung vorausahnend.