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Komponierte Psychogramme – Musikalische Paradigmenwechsel in Verdis „Macbeth“ - Deutsche Oper Berlin

Komponierte Psychogramme – Musikalische Paradigmenwechsel in Verdis „Macbeth“

Ein Essay von Kerstin Schüssler-Bach

Der Anfang vom Ende

„Tutto è finito“ – „Alles ist vorbei“. Worte, die das Ende ankündigen, gehen dem ersten Duett der Eheleute Macbeth unmittelbar voraus. Ihre Schicksalsgemeinschaft ist schon in jenem Augenblick dem Untergang geweiht, in dem andere Opernpaare zunächst einmal Raum für gemeinsame Zukunftsträume haben. Vordergründig bezieht sich dieses „Tutto è finito“ auf Macbeths Meldung des vollzogenen Mordes an König Duncan. Doch die eindringliche Phrase ist der buchstäbliche Anfang vom Ende. Die fallende kleine Sekunde auf den letzten beiden Silben knüpft an den alten Topos des Seufzermotivs an, schon seit der barocken Figurenlehre Ausdruck von Klage und Schmerz. Dieses Seufzermotiv zieht sich durch das gesamte Duett „Fatal mia donna! un murmure“: Es wird Macbeth von den Violinen in der gleichen Tonhöhe abgenommen, bohrt sich dann ein in einer ostinaten Drehfigur der zweiten Violinen als Begleitung der ersten, gehetzten Duettphrasen, lässt Macbeth und seine Lady nicht mehr aus den Klauen. Die dunklen Klangfarben von Englischhorn und Klarinette übernehmen das Seufzermotiv, reichen es wieder an Macbeth zurück, wenn ihm die Stimme des Gewissens üble Prophezeiungen einflüstert („Allor questa voce“ – „Dann diese Stimme“). Und noch einmal verwandelt sich diese Figur. Sekundrotationen in Violoncelli und Klarinette wühlen unablässig zum spöttischen Aufruf einer zweiten inneren Stimme durch die Lady: Sie nennt ihren Gatten bei seinen Titeln, verkehrt deren Ruhm jedoch ins Gegenteil („Fanciul vanitoso, Caudore, tu se‘“ – „Du bist ein selbstgefälliges Kind, Cawdor!“). Einen entschlossenen, aufpeitschenden Charakter nimmt das Motiv an, wenn die Lady selbst beherzt zum Dolch greift. Dann wieder sinkt es zurück zur beharrlich um sich selbst kreisenden Seufzerfigur, die bis zum leise ersterbenden Schluss in der Orchesterbegleitung präsent bleibt.

So zeigt Giuseppe Verdi mit diesem erstaunlichen Duett selbstbewusst auf, wohin ihn sein Weg im frühen Meisterwerk MACBETH führt: Die Rolle des Orchesters als Kommentator der Szene erscheint erheblich aufgewertet, motivische Detailarbeit verleiht dem musikalischen Material einen subkutanen Zusammenhalt – ganz zu schweigen von den Vortragsanweisungen wie „con voce soffocata“ („mit erstickter Stimme“) oder „sottovoce“ („mit gedämpfter Stimme“), die in dieser Szene wie in der ganzen Oper immer wieder auftauchen. Von den Zeitgenossen wurde diese beginnende Auflösung des vokalen Primats als Kampfansage an die Tradition verstanden. Verdis Image zur Zeit der Uraufführung im März 1847 fasste der Bildhauer Giovanni Dupré zusammen: „Damals kam Giuseppe Verdi nach Florenz, um MACBETH auf die Bühne zu bringen. Sein Ruhm war ihm vorausgeeilt, und er hatte natürlich viele Feinde. (…) Seine Feinde sagten, dass er als Künstler äußerst grob sei und die Kunst des italienischen Belcanto korrumpiert habe, und dass er als Mensch ganz einfach ein Bär sei, der, hochmütig und stolz, jeden gesellschaftlichen Umgang verschmähe.“

Schon in den vorangegangenen Werken hatte Verdi gezeigt, dass er den bis ins Akrobatische gesteigerten Ziergesang des Belcanto durch athletische Muskelmasse zu ersetzen gedachte. In MACBETH tritt die Übersteigerung des zuvor als gelegentliches Stilmittel eingesetzten sprachnahen „canto declamato“ hinzu, wenn manche Vokallinien tatsächlich mehr gesprochen oder gerufen als gesungen werden – so etwa in Macbeths Dolchmonolog („Mi si affaccia un pugnal“). War die Koloratur auch für die männlichen Protagonisten Rossinis, Bellinis und Donizettis noch selbstverständliches Ausdrucksmittel, so verschwanden Ornamente, Kadenzen und Fiorituren bei den Tenor-, Bariton- und Basspartien Verdis fast gänzlich.

Ein neues Gesangsideal

Für diesen Paradigmenwechsel des Gesangsideals spielte ihm die Florentiner Uraufführungsbesetzung des MACBETH in die Hände. Da dem Teatro alla Pergola ein geeigneter Tenor in jener Saison nicht zur Verfügung stand, legte Verdi alle Opernpläne, die einen Tenor als Primo uomo erfordert hätten, zur Seite. Stattdessen griff er zu Shakespeares MACBETH, für den er einen Bariton im Zentrum sah. Felice Varesi, später der erste Rigoletto und Giorgio Germont in LA TRAVIATA, war der richtige Mann, um Verdis provokative Ideen auf der Bühne zu verwirklichen: ein Sänger von großer musikalischer Intelligenz, hervorragenden darstellerischen Qualitäten, aber eher kleinem Wuchs. Ihm zur Seite sollte ursprünglich die deutsche Sopranistin Sophia Löwe stehen, für die Verdi bereits 1846 die halsbrecherische Partie der Odabella in ATTILA komponiert hatte. Doch Löwe zog sich von der Bühne zurück, um den Fürsten von Liechtenstein zu heiraten. So wurde die Rolle der Lady Macbeth von Marianna Barbieri-Nini kreiert, die schon in der Uraufführung von Verdis I DUE FOSCARI (1844) gesungen hatte. Nach übereinstimmenden Zeitzeugnissen kompensierte Barbieri-Nini ihr Äußeres, das den gängigen Schönheitsidealen nicht entsprach und sie fast die Bühnenkarriere gekostet hatte, mit einer glühenden darstellerischen Intensität. Ihre Verkörperung der Lady Macbeth soll die so mancher berühmteren Schauspielkollegin in den Schatten gestellt haben.

Verdi hätte wohl keine besseren Protagonisten finden können – trotzdem hämmerte er beiden immer wieder sein ästhetisches Credo ein, als fürchte er mangelnde Deutlichkeit. Umfangreiche Briefe an Varesi und Barbieri-Nini während der im Herbst 1846 begonnenen Kompositionsphase zeigen, wie sehr er seine Interpreten auf sein neues Konzept einschwor: „Es gefällt mir viel besser, wenn Du mehr dem Dichter als dem Komponisten dienst“, heißt es dort, denn er habe versucht, „die Musik so weit wie möglich dem Wort anzunähern“. Barbieri-Nini blickte in einem Interview kurz vor ihrem Tod 1887 auf die anstrengende Probenzeit in Florenz zurück: Verdi habe die Sänger nie gelobt, sondern in exzessiven Proben erschöpft und gequält. Noch unmittelbar vor der Generalprobe ging er das erste Duett von Macbeth und seiner Lady erneut durch – Varesis Einwand, man habe es doch schon hundertfünfzigmal geprobt, fand wenig Gehör. „Ob man wollte oder nicht, man musste dem Tyrannen gehorchen“, erzählte Barbieri-Nini, die sich aber nicht ohne Bewegung daran erinnerte, wie Verdi nach der umjubelten Schlafwandelszene mit roten Augen zu ihr in die Garderobe kam.

Auch Verdis Librettist Francesco Maria Piave erkannte bald die Neuartigkeit des Projektes, in dem die Rolle der Lady Macbeth „die am kühnsten konzipierte sein wird, die man je auf der italienischen Opernbühne gesehen hat“. Trotzdem war der Komponist, der ein detailliertes Szenario entworfen hatte, nicht zufrieden mit Piaves Versen und ließ vor allem große Teile des dritten und vierten Aktes durch den Schiller- und Shakespeare-Kenner Andrea Maffei neu schreiben. Mit Maffei hatte er im Frühjahr 1846 anregende Gespräche über die beiden Dichter geführt – willkommene Abwechslung bei einer langweiligen Trinkkur im Thermalbad Recoaro. Shakespeare hatte sich zu jener Zeit noch keineswegs auf italienischen Bühnen durchgesetzt, erst wenige Jahre zuvor waren Übersetzungen erschienen.

Gegen die „gewohnten Modelle“

Ende Januar 1847 stellte Verdi in einem Brief an Marianna Barbieri-Nini fest, „dass es nun an der Zeit ist, die gewohnten Formen und die gewohnten Modelle aufzugeben“. Diese „gewohnten Modelle“ hatten sich in der Belcanto-Oper zu einer standardisierten Disposition verengt. Das formale Baukastenprinzip ermöglichte nicht zuletzt die rasche Fertigstellung von neuen Stücken, nach denen das Publikum gierte und somit die Gesetze des Opernmarktes mitbestimmte. Als normatives Muster galt die Gliederung einer Arie in vier Teile, in denen die szenische Aktion vorangetrieben wird oder innehält: Rezitativ – Cavatina (langsamer Teil) – Tempo di mezzo (Zwischensatz) – Cabaletta (schneller Abschluss). Diese „solite forme“ („gewohnte Formen“) oder „solite convenzione“ („gewohnte Regeln“) waren ebenso vorhersehbar wie erwünscht. Verdi warf sie nicht radikal über Bord, sondern brach sie im Laufe seines Opernschaffens Schritt für Schritt auf. MACBETH war in diesem kontinuierlichen Prozess der „Evolution statt Revolution“ (Anselm Gerhard) eine wichtige Station.

Gleich die übliche Auftrittsarie, die „Sortita“, wird dem Helden verweigert. Nach dem Duett mit Banquo ist es erst der erwähnte Dolchmonolog, der Macbeth einen ersten solistischen Auftritt gönnt, sich aber um die „gewohnten Regeln“ wenig schert. Deklamatorisch eng am Text entlangführend, verweigert die kurzgliedrige Gesangslinie im freien Rezitativ jegliche kantable Entfaltung ebenso wie virtuose Bravour. Auch die letzte Arie des sterbenden Macbeth „Mal per me“ bietet in ihrem trauermarschartigen Gestus mit schroffen Exklamationen keine Gelegenheit zur Ausstellung einer besonderen Stimmschönheit. Es solle „keiner jener üblichen süßlichen usw. Tode sein“, kündigte der Komponist an. Wenigstens hat der Sänger des Macbeth zuvor in der Arie „Pietà, rispetto, onore“ Gelegenheit, seine kantablen Qualitäten eindrucksvoll unter Beweis zu stellen. Diese großbogige, von sanfter Melancholie umschleierte Arie mutet fast wie ein Rückfall in belcanteske Konventionen an – inklusive Verzierungen. Es scheint, als schlüpfe der besiegte Feldherr und gescheiterte Machtpolitiker hier unter das schützende Dach eines verbindlichen Regelwerks. Dass die hinreißende Melodie dieser Arie von großer Wirkung ist, versteht sich – und nicht zuletzt darf man dem Theaterpraktiker Verdi die Erkenntnis zutrauen, dass zur Katharsis des Publikums neben der Furcht eben auch das Mitleid gehört.

Anders als ihr Gatte trumpft Lady Macbeth mit einer effektvollen Auftrittsarie auf („Vieni, t’affretta“). Diese „Scena e Cavatina“ wird mit erregten Tremoli der Streicher eingeleitet. Überraschenderweise folgt eine gesprochene Passage, in dem die Lady einen Brief ihres Mannes vorliest. Die allerersten Laute der Protagonistin gelten somit dem gesprochenen Wort, und wenn sie zum Gesang wechselt, schweigt das Orchester zunächst. Eine Heldin, die nicht singt, eine Einzelgängerin ohne Begleitung. Wenn sich beide Elemente schließlich doch vereinigen, ist der Eindruck umso stärker, und schon schießt die Lady in einer Koloraturkette bis zum hohen c hinauf. Ihre Arie ist quasi regelkonform in den „solite convenzione“ gebaut: vierteilig mit sogar wiederholter Cabaletta; eine Bravourarie ohne Zweifel, die aber auch die ganze Vitalität und Entschlossenheit der Lady vorstellt. Der für den frühen und mittleren Verdi typische elanvolle Begleitrhythmus untermalt gleich beide Hauptteile der Arie, die sich in ihrem Charakter nur wenig unterscheiden. Zusätzliche Kraft holt sich Lady Macbeth aus dem Orchester durch stützende, unisono geführte Instrumente und durch rhythmische Stauungen in akzentuierten Synkopen.

Dieses Porträt der „fatal donna“ war trotz des Festhaltens an den Konventionen so stimmig, dass Verdi es auch für die zweite Fassung des MACBETH, die er 1865 für das Pariser Théâtre-Lyrique erarbeitete, nicht mehr veränderte. Der Entschlossenheit der Lady, die sie auf ihren zaudernden Mann zu übertragen versucht, gesellt sich im erwähnten Duett eine gehörige Portion Zynismus dazu. Auch dieses Duett überarbeitete Verdi in der Zweitfassung kaum, von einigen Straffungen abgesehen.

Wahnsinn und Umnachtung

Zufrieden war er offensichtlich ebenfalls mit einem weiteren Höhepunkt der Oper: der Schlafwandelszene der Lady Macbeth. Wie ungewohnt sie auf die Zeitgenossen gewirkt haben muss, zeigt sich schon an der sorgfältigen Einstudierung, die selbst die erfahrene Sängerin der Uraufführung drei Monate Zeit gekostet hatte. Diese Szene empfand Verdi zusammen mit dem Duett „Fatal mia donna“ als Klimax der Partitur: „Wenn diese nicht gelingen, wird die Oper durchfallen. Und diese beiden Nummern dürfen nicht gesungen werden. Sie müssen gespielt werden, deklamiert mit einer hohlen, verschleierten Stimme.“ Drei Jahre nach der Uraufführung konnte er seinem Verleger Giovanni Ricordi stolz vermelden, dass der „ungewöhnliche Effekt“ gerade dieser Nummern beim Publikum ankam, „denn niemals war es bisher üblich, Stücke drei- oder viermal zu wiederholen.“ Verdi stützte sich für den Abgesang seiner Heldin auf einen geradezu rituellen Höhepunkt der Belcanto-Oper: die Wahnsinnsszene, zentraler Bestandteil im Konzept der emotionalen Erschütterung. Sie war mit ihrer Aufhebung der stimmlichen „Schwerkraft“ nicht nur Primadonnen[1]Prüfstein für technische Bravour, sondern erfüllte auch eine entscheidende drama[1]turgische Funktion: Die Um-Nachtung stand für die romantische Sphäre des Eigent[1]lichen, in die sich das Individuum vor der Wirklichkeit zurückzieht. So brachte Charles Nodier, französischer Dichter der Romantik und Shakespeare-Kenner, seine Ich-entgrenzten Gestalten fast zeitgleich zu Bellini, Meyerbeer und Donizetti hervor: „Was ich suchte“, heißt es in Nodiers Novelle DIE KRÜMELFEE (LA FÉE AUX MIETTES, 1832), die in einem schottischen Asyl für „Mondkranke“ spielt, „war nicht der verrückte Kranke, der erschreckt oder anwidert, sondern der erfinderische und fast freie Verrückte, der sich in den Alleen verliert unter den aufmerksamen Augen voll Mitleid.“ In den schaurig-fantastischen Stoffen der englischen „gothic novels“ fanden die Belcanto-Komponisten ein reizvolles, fremdartiges Milieu für die Zeichnung ihrer Heldinnen. Verdi wusste natürlich, dass die beiden großen Wahnsinns- und Schlafwandelszenen von 1835, Donizettis LUCIA DI LAMMERMOOR und Bellinis I PURITANI, im grauen Großbritannien spielten. Auch dies dürfte ihn bei der Wahl des MACBETH beeinflusst haben – britische Schauerromantik war, bei aller ehrfürchtigen Bewunderung für Shakespeare, eben auch modern: Noch Gustave Flauberts Figur der Madame Bovary las 1856, neun Jahre vor der Pariser Fassung des MACBETH, in Walter Scotts Romanen, wobei es ihr war „als höre sie den Klang schottischer Dudelsäcke über die nebelige Heide hallen.“

Anders als Bellini, Donizetti und Meyerbeer („Schattenarie“ in DINORAH OU LE PARDON DE PLOËRMEL, 1859), verzichtete Verdi aber in seiner Szene auf den ekstatischen Taumel der Koloraturkaskaden. Die Lady wird nicht ins Filigran der hohen Noten entrückt (sieht man von ihrem Spitzenton, einem dreigestrichenen des, ab), sondern teilt sich in abgerissenen, scheinbar zusammenhanglosen Phrasen mit. Dafür nimmt das Orchester wiederum eine kommentierende Funktion ein: Auch hier bohrt sich im Englischhorn der Klagelaut der fallenden kleinen Sekunde ins Gehör und wird in der Begleitung als chromatische Linie durchgehend fortgeführt. Mit der Absage an die virtuose Koloratur gibt Verdi der Konvention der Wahnsinnsszene eine ästhetische Wendung, die von der gläsernen Fragilität zu einem fast realistischen Sprachverlust führt. An ihrem Schluss aber soll das Publikum, nicht anders als bei Macbeths Arie, die in blühender Melancholie „pietà, rispetto, onore“ anruft, Mitleid empfinden: „di lei pietà“ („Erbarmen mit ihr“) singen die beiden einzigen Zeugen, der Doktor und die Kammerfrau. Hier wie in der für die Zweitfassung nachkomponierten Arie „La luce langue“ setzt Verdi konsequent um, was er in einem berühmten Brief forderte, als es um die Besetzung der Partie für eine Aufführung in Neapel 1848 ging: „Die Tadolini [die Sopranistin Eugenia Tadolini] hat eine fantastische Stimme, klar, rein, kräftig; und ich möchte für die Lady eine raue, erstickte, dumpfe Stimme.“

Ein Trinkspruch als Psychogramm

Eine nachgerade geniale Aushöhlung der „gewohnten Regeln“ gelang Verdi auch durch die Integration eines Trinkliedes im zweiten Akt. Das sogenannte „Brindisi“ war ein fester Topos im Formelkanon der italienischen Oper. Diesen scheinbaren Rückgriff auf die Gattungskonvention nutzt Verdi zu einem fesselnden musikalischen Psychogramm: Das Brindisi fungiert nicht als schwungvoller Auftakt zum Geschehen, wie noch in ERNANI (1844) und später in LA TRAVIATA (1853), sondern als völlig in die Handlung eingebetteter Träger der Personencharakteristik. Verdi und seine Librettisten halten sich eng an die Bankettszene Shakespeares (III, 4), in der das Fest durch Macbeths Halluzinationen von Banquos Geist gestört wird. Doch gibt in der Oper nicht mehr Macbeth selbst den Trinkspruch aus, wie bei Shakespeare, sondern die Lady. Und sie setzt sich die Maske der perfekten Gastgeberin auf, führt die Festgesellschaft mit einem schwer aufstampfenden alkoholgetränkten Zuruf an. Die markante, geradezu triumphale Phrase löst sich zusehends in Bravourgesang auf: Verzierungen, Vorschläge, Staccato – alle Insignien der Primadonna fallen der Königin des Festes plötzlich zu. Innerhalb der bisherigen vokalen Konzeption der Rolle war das so auffällig, dass Verdi seine erste Lady Macbeth, Marianna Barbieri-Nini, explizit darauf hinwies: „Überflüssig Ihnen zu sagen, dass dies leicht, brillant, mit allen appogiature, Trillern und Mordenten usw. vorzutragen ist.“ So sehr Verdi eigenmächtige Ornamentierungen um des Starkults willen hasste, so sehr war der Ziergesang hier in den Dienst eines psychologischen Ausdrucks gestellt. Die Lady übertüncht die angespannte Stimmung – schließlich ist Banquo gerade erst ermordet worden – mit einer überrumpelnden Heiterkeit. Vom Sprungbrett der Synkopen schießt die Devise „muoia il dolor“ („es schwinde der Kummer“) nach oben und reißt den Chor mit. Kaum kann sie sich an ihren Trillern genugtun, da verdüstert sich die Szene durch das Zwiegespräch Macbeths mit dem gedungenen Mörder. Mit tänzerischen Takten in Verdis schwungvollstem F-Dur-brillante-Stil holt die Lady ihren verunsicherten Mann zurück zum Fest. Doch die hüpfende Tanzfigur läuft ins Leere, und ein markerschütternder Akkord öffnet den Höllenschlund zu Macbeths f-Moll-Vision von Banquos Geist. Seine Frau hat keine Kontrolle über diese Naturgewalt, kann sich ihrem Mann nur mit fassungslosen Kommentaren nähern. Erst als der Geist verschwunden ist, lenkt sie Macbeth mit einer überdeutlich ruhigen Melodie wieder zur Festgesellschaft zurück, was immerhin so erfolgreich gelingt, dass der verstörte Feldherr sich sogar zu munteren Verzierungen zwingt. Die Lady singt die zweite Strophe ihres Brindisi mit zurückerkämpfter Verve, doch diesmal ist der schockhafte Umschwung zur erneuten Halluzination noch größer. Und so mündet die vermeintliche Erfüllung einer „gewohnten Form“ in eine denkbar unfestliche Situation, an deren Schluss die „Schande“ („vergogna“) steht. Auch diese bahnbrechende Szene wurde in der Pariser Fassung kaum verändert, nur etwas geschärft bei Banquos Erscheinung. In ihrer beginnenden Dekonstruktion der Form fand sie eine Weiterführung im zynischen Trinklied einer weiteren Shakespeare-Vertonung: Franco Faccios HAMLET (AMLETO, 1865) auf ein Libretto von Arrigo Boito. Die beiden „jungen Wilden“ nahmen es in diesem Manifest des „nuovo melodramma“ mit dem Übervater Verdi auf. Dieser reagierte gelassen und ließ sich später auf Boitos Libretto für OTELLO (1887) ein. Dort zerlegt Jago die Form noch weiter und lässt seine destruktive Natur in einem jegliche Architektonik außer Kraft setzenden Brindisi spüren.

Omnipräsenz der Hexen

Dass seine Oper für Florenz im „fantastischen Genre“ beheimatet sein sollte, war für Verdi von Anfang an klar gewesen, denn dort hatte sich sogar Webers FREISCHÜTZ als Kassenerfolg behauptet. In Franz Grillparzers Trauerspiel „Die Ahnfrau“, das kurzzeitig als Vorlage zur Disposition stand, wäre immerhin ein Gespenst erschienen. Als die Wahl schließlich auf MACBETH fiel, behielt Verdi den sofortigen Auftritt der übernatürlichen Kräfte bei, vergrößerte aber Shakespeares drei Hexen zu „drei Gruppen von Hexen“ des dreistimmigen Damenchors. Die Hexen ergreifen sogleich das Wort, nämlich schon im Vorspiel. Dessen erste Takte entstammen ihrer Musik: Das geheimnisvoll raunende Thema der Holzbläser ist der Hexenszene des dritten Aktes entnommen („Tre volte miagola la gatta in fregola“), eine unruhige Figur in den Violinen flackert hastig auf. Die Hexen sind immer in Bewegung: mit einer Musik voll rhythmischer Elastizität, geschärft durch widerborstige Akzente. Ein fast tänzerischer Übermut, die mechanistische Verve von Rossinis Rhythmus-Drive ins Sarkastische wendend, begleitet vom schrillen Meckern der hohen Holzbläser, quecksilbrigen Motiven der Streicher, abgehackten Staccato-Figuren, die wie Blitze dreinfahren.

Mit den Hexen verband Verdi wohl weniger eine dämonische Naturkraft als die groteske Überzeichnung von seltsamen Wesen, die keiner sozialen Ordnung unterworfen sind. An Piave schrieb er schon in der Konzeptionsphase im September 1846, dass er die Hexenchöre „ordinär, aber dennoch extravagant und originell“ haben wolle – Piave solle ihm dafür eine „bizarre Dichtung“ liefern. Extravaganz und Bizarrerie prägen die eigenwillige Musik der „sorelle vagabonde“ in jedem Takt.

Als Verdi sich die Partitur für die geplante Serie am Pariser Théâtre-Lyrique 1865 noch einmal vornahm, bildeten die Hexen den Ausgangspunkt seiner Revision. Zunächst hatte er sich dem ungeschriebenen Gesetz zu beugen, nach dem eine Ballettszene für Pariser Opernaufführungen obligatorisch war. Als er die Noten „in der Absicht, die Ballettmusik zu schreiben“ aufklappte, fiel sein Blick mit dem Abstand von fast 20 Jahren auf „verschiedene Stücke, die entweder schwach oder – was noch schlimmer ist – ohne Charakter sind.“ So verdanken wir die psychologische Verdichtung des MACBETH in der Pariser Fassung letztlich einer Theaterkonvention. Zudem wertet die Ballettmusik im dritten Akt auch die Omnipräsenz der Hexen weiter auf. Mögen Verdis Ballettmusiken nicht immer der subtilste Teil seiner Partituren sein – in MACBETH unterstützt die Ballettszene das Kolorit, indem sie das klangliche Signum der Hexen aufgreift: irreguläre rhythmische Akzente und huschende Streicherfiguren, ja sogar der lärmende „Blitz und Donner“ ihres allerersten Auftritts wird integriert.

Die Einfügung der Ballettmusik nahm Verdi nach dem eröffnenden Hexenchor des dritten Aktes vor. Sie verlängert deren zerstörerisches Wirken und bringt eine neue Figur, die auch schon bei Shakespeare auftritt: Hekate, die nächtliche Hexengöttin. Hier verwandelt sich die Musik zu einem ruhigen, chromatisch angereicherten Streichersatz in Verdis reifem Stil: Alle stehen „andächtig und fast zitternd vor der Göttin“, so seine Regieanweisung. An seinen Pariser Verleger Léon Escudier schreibt Verdi im Januar 1864: „Die Erscheinung der Hekate (…) passt dort sehr gut, da sie die höllischen Tänze unterbricht und Raum für ein ruhiges und strenges Adagio eröffnet. Unnötig, Euch zu sagen, dass Hekate nie tanzen darf, sondern lediglich Posen machen.“ Verdi verlangte also eine pantomimische Aktion, keine tänzerische Choreografie für Hekates Anweisung an die Hexen, Macbeth sein weiteres Schicksal zu prophezeien. Die geforderte „Strenge“ des Adagio erreicht er durch eine feierliche Melodie, die in der dunklen Farbenmischung des Unisono von Bassklarinette, Fagott und Celli eine ganz wundersame Tönung annimmt und sich zu majestätischer Größe aufrichtet. Umso robuster dann der abschließende gewaltsam stampfende Walzer, der mit spöttischen Vorschlägen, abrupten dynamischen Kontrasten, staccato-Artikulation und höhnisch kichernden Trillern wieder in das Hexenidiom taucht. Die finale, Macbeth so grausam täuschende Weissagung ist nahe.

Hass statt Liebe

Als Macbeth vom Tod seiner Frau erfährt, die sein Denken und Handeln so dominiert hat, reagiert er merkwürdig uninteressiert. Doch dieser pathoslose, von Frustration und Sarkasmus geprägte Kommentar ist Shakespeares Text wörtlich entnommen, von Verdi und seinen Librettisten bis zur Beiläufigkeit verknappt. Dass Verdi die Schicksalsgemeinschaft des Ehepaars aber keineswegs aus dem Blick verlor, zeigt auch eine der umfangreicheren Bearbeitungen für die Pariser Neufassung: Dort ersetzte er im Finale des dritten Aktes Macbeths Cabaletta „Vada in fiamme“ durch ein Duett mit der Lady: „Ora di morte e di vendetta“. Tatsächlich erscheint es wenig glaubhaft, dass Macbeth nach der seelischen Erschütterung, die ihm die Erscheinung der königlichen Nachkommen Banquos zugefügt hat, noch den Elan für eine energiegeladene Cabaletta hat, in der er Schottland mit „Zorn und Rache“ überziehen will. In der Neukonzeption von 1865 taucht die Lady noch einmal auf und lässt sich von ihrem Mann die Prophezeiungen der Hexen berichten. Ihre spannungsvolle, jeweils um einen Halbton gesteigerte Aufforderung „Segui“ („Weiter!“) zu den fahlen, am Steg gespielten Tremoli der Streicher bringt gleich wieder dramatisches Leben in die Szene – ein Feuer von wahrhaftigeren Flammen, als es die etwas schematische Cabaletta der Erstfassung entfachen konnte. Bis zur Manipulation geht der Ruf Lady Macbeths nach Ermordung der Banquo-Sippe, in den ihr Mann schließlich einfällt. Doch wenn sie ihm in großer melodischer Geste seinen „alten Mut“ bescheinigt, reißt er das Heft wieder an sich. Die Stretta des Duetts wird von Macbeth angeführt, die Lady folgt ihm. Statt im Liebesduett sind sie im Ruf nach Hass vereint. Ein gemeinsamer Schlusston ist ihnen im Einklang vergönnt, bevor sich ihre Wege im vierten Akt unwiderruflich trennen.

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DEZ

Advents-Verlosung: Das 21. Fensterchen

Am 12. April 2025 feiern wir im Rahmen unserer „Richard Wagner im April“-Wochen die Wiederaufnahme von DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG in der Inszenierung von Jossi Wieler, Sergio Morabito und Anna Viebrock, dann mit Thomas Johannes Mayer als Hans Sachs, Elena Tsallagova als Eva, Magnus Vigilius als Walther von Stolzing und Chance Jonas-O'Toole als David. Heute aber verlosen wir erst einmal unsere DVD, die in Zusammenarbeit mit dem Label NAXOS in der Premierenserie im Frühsommer 2022 aufgezeichnet wurde.

Im heutigen Adventskalender-Fensterchen verlosen wir 2 Mal eine DVD von DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG – Oper in drei Aufzügen von Richard Wagner. Wenn Sie eine der zwei DVDs gewinnen möchten, schreiben Sie bitte heute eine E-Mail mit dem Betreff „Das 21. Fensterchen“ an advent@deutscheoperberlin.de.

Populär wie kaum ein anderes Bühnenwerk Richard Wagners sind DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG geliebt und gehasst zugleich. Das Stück verbindet eine heiter-fassliche Komödienhandlung mit sommernachts-trunkenem Spiel um Wahn und Wirklichkeit der Liebe, erhebt aber zugleich den Anspruch eines Gründungsmanifests deutschnationaler Kunst und ist damit in seiner Rezeption historisch belastet wie kaum ein anderes Werk Richard Wagners. Zugleich und an allererster Stelle sind DIE MEISTERSINGER jedoch ein Stück über die Musik und das Musikmachen.

DIE MEISTERSINGER in einer Welt zu erzählen, die sich der Musik verschrieben hat, ist auch der Ausgangspunkt für die Regiekonzeption von Jossi Wieler, Anna Viebrock und Sergio Morabito. Darin erzählen sie von den Regeln wie erstarrten Dogmen, die diese Welt bestimmen und die damit Beispiel für zahlreiche Lebenszusammenhänge werden, in denen Menschen sich Regeln setzen, sich unterordnen und bei ihnen Zuflucht finden oder aber ausbrechen und entkommen wollen. Sie bringen ein Stück auf die Bühne, in dem zudem Sänger*innen Sänger*innen spielen, um singend eine Geschichte über das Singen zu erzählen. Und sie zeigen Figuren wie die des Hans Sachs, der als alternder Mann zugunsten eines Jüngeren auf seine Liebe zu Eva verzichtet und zugleich das System reformieren will, dabei aber auch vor Demagogie und Populismus nicht zurückschreckt – während ab und an der Atem der Geschichte die Geister der Meistersinger-Vergangenheit hereinweht.

Musikalische Leitung John Fiore; Inszenierung Jossi Wieler, Anna Viebrock, Sergio Morabito; Mit Johan Reuter, Albert Pesendorfer, Gideon Poppe, Simon Pauly, Philipp Jekal, Thomas Lehman, Jörg Schörner, Clemens Bieber, Burkhard Ulrich, Stephen Bronk, Tobias Kehrer, Byung Gil Kim, Klaus Florian Vogt, Ya-Chung Huang, Heidi Stober, Annika Schlicht u. a.; Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin



Einsendeschluss: 21. Dezember 2024. Die Gewinner*innen werden am 23. Dezember 2024 per E-Mail informiert. Die DVDs gehen anschließend auf dem Postweg zu. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.