Maria Bengtsson – Mein Seelenort: Das Café Wildau am Werbellinsee - Deutsche Oper Berlin
Aus Libretto #8 (2023/24)
Maria Bengtsson – Mein Seelenort: Das Café Wildau am Werbellinsee
Im Café Wildau am Werbellinsee spürt Maria Bengtsson ihrer schwedischen Heimat nach. Dazu gehört ein besonderes Ritual
Mein Seelenort ist das Café Wildau am Werbellinsee, eine knappe Autostunde nördlich von Berlin. Den See haben mein Mann und ich für uns entdeckt, als wir 2002 nach Berlin kamen, lange bevor unsere Kinder geboren wurden. Es hat uns von Anfang an immer wieder hierhergezogen, meist im Sommer zum Baden und Segeln, aber auch im Winter, um lange Spaziergänge am Ufer zu unternehmen. Ich bin in Höllviken in Südschweden direkt am Öresund aufgewachsen, der Meerenge zwischen Schweden und Dänemark. Meine halbe Kindheit habe ich auf dem Segelboot verbracht, ich fühle mich dem Meer verbunden und bin es gewohnt, den Horizont zu sehen. So weit kann man am Werbellinsee zwar nicht blicken, aber hier finde ich etwas, das ich auch am Meer finde: Weite und Ruhe.
Einige Jahre später hat mir mein Mann zum 35. Geburtstag ein Wochenende im Café Wildau geschenkt, zu dem auch ein kleines Hotel mit süßen Zimmern gehört. Das alte Gebäude liegt am südwestlichen Ende des langgezogenen Sees, direkt am Ufer, mit einem Garten, der flach zum Wasser abfällt und zu dem ein Steg mit einem kleinen Bootsanleger gehört. An meinem Geburtstagswochenende entdeckten wir auch den Campingplatz ganz in der Nähe – und trafen eine Entscheidung: Wir würden den alten Wohnwagen meiner Großmutter aus Schweden nach Brandenburg transportieren, hier auf diesem wunderschönen Platz abstellen und nie wieder wegbewegen. Also sind wir seit mittlerweile 14 Jahren Dauercamper am Werbellinsee. Wann immer wir Zeit finden, fahren mein Mann, meine beiden Kinder und ich an unseren See.
Über die Jahre habe ich es sogar geschafft, meine Familie für eine besondere Leidenschaft zu begeistern: das Eisbaden. In Schweden gehen gerade die Älteren im Winter jeden Tag in die kalte Ostsee, mein Vater macht es heute noch, mit 82. Auch für uns ist das zu einem Ritual geworden, es fühlt sich fast wie Selbstbetrug an, wenn ich es mal nicht schaffe. Die Kälte sorgt für ein wohliges Köpergefühl, das den ganzen Tag anhält – herrlich, denn eigentlich friere ich immer.
Nach dem Eisbaden gehen wir am späten Nachmittag immer ins Café Wildau, dorthin, wo alles begann. Wenn wir hier zusammen sind, ist die Arbeit tabu. Ich bin beruflich mehr als genug alleine unterwegs und kann meinen Gedanken nachhängen, an meinem Seelenort möchte ich die Zeit so intensiv wie möglich mit meinen Liebsten verbringen. Ich war in all den Jahren noch nie allein hier. Bei einem Spaziergang kam mir kürzlich der Gedanke, dass es Christine aus Strauss’ INTERMEZZO hier auch gefallen hätte. Die Rolle gehört nicht zum Standardrepertoire, ich muss sie mir noch erarbeiten. Auch Christine liebt die Natur, das Spazierengehen – das ist mein erster Anknüpfungspunkt.
In einem anderen Punkt hadere ich mit dem Libretto: Strauss hat mit Christine seine eigene Frau Pauline beschrieben. Er zeichnet das Bild einer jähzornigen, nörgelnden und irrational eifersüchtigen Frau – einfach nur furchtbar. Dabei war Pauline einst auch Sängerin, sie musste alles aufgeben für den Erfolg ihres Mannes. Und zum »Dank« bekommt sie diesen zweifelhaften Auftritt in einer seiner Opern? Eine Passage stößt mir besonders auf. Pauline beschwert sich: Immer nur Rechnungen zu begleichen, das Menü zusammenzustellen und das Haus sauber zu halten, langweile sie. Natürlich langweilt sie das als Künstlerin! Aber er entgegnet: »Das ist doch keine Arbeit.« Da sind wir mitten in der Diskussion um Carearbeit und Kopfarbeit.
Trotz dieser Auseinandersetzungen haben die beiden sich im echten Leben sehr geliebt, ihre Ehe hielt bis zum Tod. Auch in INTERMEZZO blitzt immer wieder eine andere Christine hervor: eine elegante, kluge, schlagfertige Frau. Diese Charaktereigenschaften möchte ich auf der Bühne in den Fokus rücken.
Musikalisch betrete ich mit Christine Neuland. Sie ist die längste und auch vielseitigste Partie, die ich je gelernt habe, wechselt ständig zwischen sehr schnellen und langen lyrischen Phrasen. Aber das Besondere an der Rolle ist das viele Parlando: Passagen, die zwischen Gesang und Sprechen liegen, teilweise noch mit Notenwerten versehen, teilweise völlig frei, fast wie beim Schauspiel. Man muss diese Teile extrem genau einüben, sie mit den Bewegungen des Körpers verschmelzen lassen – eine tolle Herausforderung.