Ein Essay von Andreas Austilat

Massenmord in Gottes Namen

Giacomo Meyerbeers DIE HUGENOTTEN bringt eines der furchtbarsten Massaker der europäischen Geschichte auf die Opernbühne. Was passierte wirklich in der Pariser Bartholomäusnacht?

Andreas Austilat, geboren 1957 in Berlin, hat Geschichte studiert. Er arbeitet als Reporter im Tagesspiegel, davor lange Zeit als stellvertretender Leiter des Ressorts „Sonntag“.

Die 1836 in Paris uraufgeführten HUGENOTTEN sind die berühmteste Oper des Berliner Komponisten Giacomo Meyerbeer und wurden zum oft kopierten Modell der Grand Opéra. Der Massenmord an den französischen Protestanten im Jahr 1572 dient Meyerbeer nicht nur als farbenprächtiger Hintergrund für die Geschichte des Hugenotten Raoul und der Katholikin Valentine, sondern ist selbst zentrales Thema der Oper: Minutiös zeigt Meyerbeer, wie ein schwelender Konflikt in eine Katastrophe umschlägt.

Warum sich Gaspard de Coligny im entscheidenden Moment vorbeugte, darüber sind sich die Zeugen uneins. War es ein Brief, der ihm plötzlich hingehalten wurde ? Oder hatte sich der hochgewachsene 53-Jährige wirklich den Schuh richten wollen? Eine seltsame Vorstellung, ein Adliger, der den Titel Admiral von Frankreich führt, bückt sich in der Öffentlichkeit nach einem losen Schuhband. Doch aus dem einen oder anderen Grund entkam Coligny am Vormittag des 22. August 1572 einem ansonsten vielleicht tödlichen Anschlag.

Das Glück währte nur kurz. Es war der Auftakt zu einem sich zum Blutrausch steigernden Wahnsinn, der die Geschichte Frankreichs nachhaltig prägte, seinen Widerhall fand in Literatur, Musik und Film. Alexandre Dumas bediente sich später dieses Stoffes, ebenso der Komponist Giacomo Meyerbeer. Heinrich Mann formte seine beiden Romane über Henri IV. daraus. Sehr viel später verkörperte Isabelle Adjani eine der Hauptfiguren des Geschehens im französischen Kino.

Gaspard de Coligny befand sich seinerzeit auf dem Rückweg von einer Besprechung im königlichen Louvre. Tatsächlich sollen es sogar zwei Kugeln gewesen sein, die aus einem Fenster im ersten Stock in der heute nicht mehr existierenden Rue de Poulies im alten 4. Arrondissement abgefeuert wurden. Eine Kugel riss dem Admiral den rechten Zeigefinger ab, die zweite bohrte sich in den linken Ellenbogen.

Der Schütze wurde schnell identifiziert, er war bereits Jahre zuvor in den Mord an einem Führer der französischen Protestanten verwickelt. Und allen Beteiligten war klar, die Tat würde Folgen haben in diesem zerrissenen Land, in dem sich Katholiken und Hugenotten, wie man die der Lehre Calvins nahestehenden französischen Protestanten nannte, unversöhnlich gegenüber standen.

Natürlich ging es in diesem Konflikt nicht um Religion oder wenigstens nicht nur. Karl der Große hatte um das Jahr 800 die Trümmer des alten römischen Imperiums zu einem neuen europäischen Reich zusammengefügt. Das konnte nur Bestand haben, weil er erkannt hatte, dass seine Herrschaft einer Idee bedurfte, die ihr Legitimation verlieh. Diese Idee war der christliche Glaube.

700 Jahre lang hatte dieses Konzept ganz gut funktioniert. Doch mit der Reformation verlor die römische Kirche ihren Alleinvertretungsanspruch. Den wollten deutsche Fürsten fortan ebenso wenig akzeptieren wie der englische König Heinrich VIII., der seiner Insel eine eigene Kirche verordnete. In den Niederlanden begehrten von Calvin inspirierte Bürger gegen den Herrschaftsanspruch der katholischen Vormacht Spanien auf. Auch durch Frankreich zog sich der Riss, er entlud sich im 16. Jahrhundert in vier unübersichtlichen Hugenottenkriegen. Nach hugenottischer Schätzung folgte bis zu ein Drittel der Bevölkerung der neuen Lehre. Sie verbreitete sich unter den Armen, die der Vertröstung auf das Jenseits leid waren, unter den Gewerbetreibenden, deren Fleiß gottgewollt zu sein schien, unter den Adeligen, die nicht zum Zuge gekommen waren. Und so stiegen Frankreichs Protestanten von einer gedemütigten Minderheit zu einem beachtlichen militärischen Machtfaktor auf. Die französische Zentralmacht stand nach drei Bürgerkriegen am Rand der Pleite, und sollte Frankreich nicht ganz zerbrechen, musste irgendein Kompromiss her.

Von den wichtigsten Protagonisten in diesem Ringen spielt nur eine, Margarete von Valois, in Giacomo Meyerbeers Oper mit. Eine gute Wahl, ihre Autobiografie machte sie posthum zu einer der interessantesten Zeuginnen, an der auch Alexandre Dumas nicht vorbeikam. Alle anderen Charaktere bei Meyerbeer sind fiktiv, der historische Hintergrund, der als Bartholomäusnacht in die Geschichte einging, ist es nicht.

Doch der Reihe nach: Da war zunächst Katharina von Medici, Nichte gleich zweier Päpste und Gemahlin eines französischen Königs. Nach dem Tod ihres Mannes führte sie als Regentin die Geschäfte für ihre minderjährigen Söhne, im Jahre 1572 ist das Karl IX. Karl war zwar inzwischen volljährig, galt aber als schwach. Katharina hatte sich der einflussreichen Familie der Guise zu erwehren. Die Lothringer waren der stärkste Faktor auf katholischer Seite. Ihnen gegenüber standen Gaspard de Coligny und seine Sippe aus Châtillon, bewunderter und gefürchteter Feldherr der Hugenotten. Dann war da noch Heinrich von Navarra, einem Königreich auf dem Boden des Baskenlandes. Heinrich stammte aus dem Haus der Capetinger, dem alten französischen Herrschergeschlecht.

Katharina wollte das Königreich ihres Sohnes retten und kam auf eine Idee, die dem Geist der Zeit entsprach. Ihre Tochter Margarete von Valois sollte Heinrich von Navarra heiraten, dann blieben die künftigen Streitereien gewissermaßen in der Familie. Erschwert wurde der Plan durch die europäischen Nachbarn England und die Niederlande, die Frankreich gern als protestantischen Partner an ihrer Seite gehabt hätten, und Spanien, das genau das verhindern wollte. Allen gemeinsam war, dass sie sich Frankreich auch gut schwach und zerrissen vorstellen konnten. Die Hochzeit der beiden Königskinder war ein Balanceakt. Beide waren 19 und zumindest Margarete fand, dass der ihr zugedachte Heinrich schlecht roch und trotz seiner Abstammung ein ungehobelter Bauerntölpel war. Sie selbst stand im Ruf, ungewöhnlich selbstbewusst zu sein. Außerdem war sie katholisch und er protestantisch, das Zeremoniell, das beide vereinen sollte, musste erst noch erfunden werden.

Vor allem die Familie der Guise war von der geplanten Hochzeit entsetzt. Erschwerend kam hinzu, dass sie sich mit der Familie Colignys in Blutrache befand, seit einer der ihren von einem der anderen ermordet worden war. Gaspard de Coligny sah sich hingegen auf der Gewinnerseite. Er hatte einen Plan erdacht, nach dem Frankreich an der Seite Englands Spanien angreifen würde. Und zwar zunächst in dem von Spanien besetzten Flandern, wo man gedachte, als Befreier aufzutreten. Der Feldzug begann noch vor der Hochzeit mit einer Niederlage, was nicht gerade für die hugenottische Sache sprach. Schauplatz der Hochzeit war Paris, beide Delegationen reisten mit ihren höchsten Vertretern an. Wobei die Guise die schlauere Taktik wählten, sie blieben zusammen, während die Hugenotten verteilt im ganzen Stadtgebiet Unterkunft fanden. Die Feierlichkeiten begannen am 18. August 1572, aber schon im Vorfeld gab es Ärger. In der sommerlich heißen Stadt kam es zu Übergriffen seitens angeheiterter Edelleute gegenüber der ansässigen Bevölkerung. Den Anfang machten die Hugenotten, denen Paris nicht besonders zugetan war. Die hugenottischen Hochburgen lagen im Südwesten Frankreichs, in der Gascogne und im traditionell rebellischen Languedoc, in dem schon die Katharer gegen den Papst aufbegehrt hatten, aber auch im Westen um La Rochelle und in der Bretagne.

Was Gaspard de Coligny nicht wusste oder allenfalls ahnte, war, dass die Stadt voller spanischer und englischer Spione war, dass längst Vorsorge für alle Eventualitäten getroffen wurde. England war sich mit seinem spanischen Gegner hinter den Kulissen einig, dass es ein starkes Frankreich, das sich womöglich der bis dahin noch spanischen Niederlande bemächtigte, nicht hinnehmen würde und schloss ein entsprechendes Geheimabkommen. Katharina de Medici war es mit erstaunlichem Geschick gelungen, das Königreich Frankreich zu bewahren. Mal hielt sie es mit den Hugenotten, mal mit den Katholiken. Sie ließ mit den Türken verhandeln und konnte sich sogar eine Partnerschaft mit Algier vorstellen. Sie fürchtete die Spanier, erst Recht nach deren Seesieg über die Türken, trotzdem gratulierte sie dem Nachbarn artig und ließ das Ereignis auf Frankreichs Straßen feiern. Wie sie zu Coligny stand, ist nicht ganz klar, aber der soll ihr gesagt haben, entweder Frankreich zöge gegen Spanien oder es gäbe einen neuen Bürgerkrieg. Und er glaubte den Königssohn Karl auf seiner Seite. Bei dieser Gemengelage ist kaum mehr möglich zu beurteilen, wer eigentlich schuld war an dem, was dann passierte.

Erst fielen besagte zwei Schüsse. Wer sie abgefeuert hat, scheint klar. Und auch, dass es sich um einen Mann der Familie Guise handelte. Die Stimmung in der Stadt spitzte sich zu. Gerüchte kamen auf, die Hugenotten wollten sich rächen. An die Pariser Stadtmiliz wurden Waffen ausgegeben. Man versprach, den Mörder ausfindig zu machen, der doch eigentlich längst bekannt war. Vor dem Haus Colignys zog die zur königlichen Leibwache gehörende Schweizer Garde auf – zum Schutz Colignys, doch sie unterstand dem Befehl eines seiner Feinde. Die Hugenotten erwogen, die Stadt zu verlassen, entschlossen sich aber zu bleiben.

Am 24. August 1572 um vier Uhr früh stürmten der Herzog von Guise und die Schweizer Gardisten das Quartier von Gaspard de Coligny. Dessen Leibwache wurde niedergemacht, ebenso die anwesenden hugenottischen Edelleute. Unter den Mördern soll auch der Herzog von Anjou, Bruder des französischen Königs, gewesen sein. Uneins sind sich die Zeugen, wer seine Hellebarde in den Leib Admiral Colignys stieß – entweder einer der Schweizer Gardisten oder ein Böhmischer Söldner. Einig sind sie sich, dass der noch lebende Coligny aus dem Fenster gestürzt und auf der Straße massakriert, verstümmelt und schließlich öffentlich aufgehängt wurde.

Es war der Auftakt zu einer Gewaltorgie in den Straßen von Paris. Das Gerücht ging um, der König selbst habe den Befehl dazu gegeben, Augenzeugen wollen ihn auf dem Balkon des Louvre gesehen haben, wie er die Flinte erhob. Ein Bürger berichtet später: „Da setzte überall in Paris ein Gemetzel ein, dass es bald keine Gasse mehr gab, auch die allerkleinste nicht, wo nicht einer den Tod fand, und das Blut floss über die Straßen, als habe es stark geregnet.“ Und ein anderer schrieb: „In der ganzen Stadt häuften sich im Handumdrehen die Leichen, jeden Geschlechts und jeden Alters; es herrschte eine derartige Verwirrung und ein solches Drunter und Drüber, dass jeder jeden töten konnte, wen er wollte, ob von der Religion oder nicht, wenn nur etwas bei ihm zu holen war.“

Frauen, Kinder, Alte fielen dem Gemetzel zum Opfer, es wurde geplündert und vergewaltigt und durch die Straßen hallte der Schlachtruf: „Tötet, tötet alles; der König befiehlt es!“ Methode hatte die Jagd auf die hugenottischen Edelleute. Einer flüchtete sich blutüberströmt ins Schlafgemach der Margarete von Valois, warf sich dort aufs Bett, Margarete selbst schilderte den Vorfall in ihrer Biografie.

Am nächsten Tag gab der König Befehl, das Morden einzustellen. 3000 Hugenotten sollen allein in dieser Nacht in Paris umgekommen sein, in weiteren französischen Städten kam es noch in den Wochen danach zu Pogromen. Die Hauptschuld am Morden in der Nacht auf den Sankt Bartholomäus gewidmeten Tag dürfte Katharina de Medici tragen, die ihre Schaukelpolitik aus Angst vor einem Krieg mit Spanien aufgab. Das Massaker in dieser Form dürfte aber kaum von ihr beabsichtigt gewesen sein. Ob sich ihr Sohn von ihr hatte aufstacheln lassen, um danach in eine Depression zu verfallen, wie manche Chronisten behaupten, darüber streiten die Historiker.

Ebenso über die Rolle der Nachbarländer und welchen Einfluss die Familie Guise nahm. Möglicherweise hatte sich Katharina de Medici ihrer nur bedient. Sollten sie alle aber das Ziel verfolgt haben, die Hugenotten auszulöschen oder auch nur ihrer Spitze zu berauben, so ging der Plan nicht auf. Einigen aus der hugenottischen Führungsschicht gelang die Flucht aus Paris. Heinrich von Navarra, der frischgebackene Ehemann der Margarete von Valois, wurde in Arrest genommen und aufgefordert, zum Katholizismus überzutreten, wolle er nicht am Galgen enden. Heinrich konvertierte und blieb fast zwei Jahre ein Gefangener im Louvre. Dann gelang ihm die Flucht und er legte den katholischen Glauben wieder ab. Navarra wurde der neue starke Mann der hugenottischen Partei und ihr Anführer im folgenden Bürgerkrieg.

1594 konvertierte Heinrich von Navarra erneut zum Katholizismus, es war die Voraussetzung, um auch offiziell zum König der Franzosen gekrönt zu werden. Unter Heinrich, dem ersten König aus dem Geschlecht der Bourbonen, trat das Edikt von Nantes in Kraft. Zwar blieb der Katholizismus Staatsreligion, aber die Hugenotten erlangten ansonsten volle Gleichberechtigung. In Frankreich schien damit ähnlich wie in Deutschland mit dem Augsburger Religionsfrieden ein Ausgleich zwischen den Religionen möglich. Übrigens trennte sich Heinrich von Margarete von Valois, seiner Braut aus der Bluthochzeit, wie die Bartholomäusnacht in Frankreich auch genannt wird. Er heiratete Maria de Medici, eine der reichsten Frauen Europas.

In Deutschland hielt der Religionsfrieden bis zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges 1618. In Frankreich wurden ungewöhnlich viele Attentate auf den König verübt, beim 18. Versuch im Jahre 1610 wurde die königliche Kutsche in einer engen Pariser Straße durch einen entgegenkommenden Wagen gestoppt. Als die Begleiter ausstiegen, um nachzusehen, blieb der König allein im Wagen zurück und wurde erdolcht. Schon bald nach seinem Tod begannen unter Kardinal Richelieu – eine wichtige Figur in Alexandre Dumas’ Roman „Die drei Musketiere“ – die Repressionen gegen die Hugenotten erneut. 1685 im Edikt von Fontainebleau wurde das Toleranzedikt von Nantes schließlich widerrufen. Die Folge war eine Massenauswanderung der Hugenotten aus Frankreich. Allein 20 000 ließen sich in Brandenburg nieder, sehr viele davon in Berlin. Um 1700 stellten sie etwa ein Viertel der Einwohnerschaft der Stadt, in der fortan auch Französisch gesprochen wurde.

Erschienen in der Beilage der Deutschen Oper Berlin beim Tagesspiegel, September 2016; alle Fotos: Auf den Proben zu „Die Hugenotten“ © Bettina Stöß.

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