Oper zwischen den Welten - Deutsche Oper Berlin

Aus dem Programmheft

Oper zwischen den Welten

David Hermann, Sir Donald Runnicles und Johannes Schütz im Gespräch mit Carolin Müller-Dohle

Carolin Müller-Dohle: Beethoven rang lange um die Entstehung von FIDELIO, er beschrieb die Komposition und die über zehnjährige Beschäftigung damit als inneren Kampf. Mit der Fassung von 1814 hatte er sich endgültig von den Gattungskonventionen seiner Zeit gelöst. Sie ist ein Amalgam aus Singspielszenen, romantischen Arien, sinfonischen Skizzen und einem oratorischen Chorfinale. Welchen Umgang finden Sie mit den strukturellen und musikalischen Kontrasten der Oper?

Sir Donald Runnicles: Die Oper stellt äußerlich dar, was Beethoven, dieser letzte ewige Revolutionär, künstlerisch und politisch zur Entstehungszeit durchlebte. FIDELIO ist vielleicht seine größte „Kopfgeburt“, da seine revolutionären Ideen über zehn Jahre reifen und in mehreren Versuchen erprobt werden mussten – es war wahrhaftig ein „work in progress“. Die drei Fassungen spiegeln wider, wie er allmählich Konventionen durchbrach und Grenzen überschritt, vom Singspiel zum Sinfonischen, vom Licht ins Dunkel und wieder zum Licht. Jede Nummer ist ein neues Wagnis und das ganze Werk eine aufwühlende, bewegende Reise. Darauf muss man sich in der Umsetzung, aber auch in der Rezeption immer wieder mit Staunen einlassen.

David Hermann: Die Brüche in FIDELIO bieten für die inszenatorische Arbeit eine große Freiheit. Die Dialoge zum Beispiel sind als Gelenke nicht zu unterschätzen, denn mit ihnen kann man Rahmungen bauen und damit die Sicht auf das nächste Stück neu kalibrieren. Trotz der Heterogenität des Materials hat die Oper jedoch einen enormen Druck und eine Fokussiertheit. Da sie in einem Gefängnisapparat spielt, sind die Figuren permanent unter Spannung. Diese Existenzialität hebt über diese verschiedenen Musiken hinweg; oft merkt man schon Minuten vorher, wie Beethoven auf eine Auflösung zielt, auch der zweite Aufzug ist schon im ersten grundiert. In deinem Bühnenbild, Johannes, gibt es eine Wunde, ein schwarzes Loch, ein Gravitationsfeld, in das Leonore hineinwill. Sie manipuliert ihr Umfeld solange, bis es ihr gelingt. Nach der Pause können wir ihr als Zuschauer*innen dorthin folgen. Das Zielbewusste von Beethovens Musik wird also auch im Bühnenbild aufgegriffen.

Johannes Schütz: In diesem Gefängnis gibt eine Oberwelt und fast wie bei Dantes „Göttlicher Komödie“ eine Unterwelt, das Oben und Unten ist Teil der Musik. Beethoven ist oft sehr emblematisch in den Erzählsträngen: Das Stück besteht aus zwei Keilen, die aufeinander liegen und ein Rechteck bilden. Das Singspiel, das am Anfang ganz präsent ist, nimmt mit der Ankunft des Bösen, Pizarros, zunehmend ab, während das politische Oratorium, die Synodalutopie immer mehr zunimmt. Es ist nicht möglich, einen Punkt zu bestimmen, an dem beides ausgeglichen ist, die Verstrebung geht langsam von einem zum anderen über. Emblematisch an FIDELIO ist auch, dass die Oper mit einer Männergesellschaft beginnt und mit einer gemischten Gesellschaft endet.

Carolin Müller-Dohle: Beethoven hielt sich bei LEONORE / FIDELIO zunächst an die Gattung der Rettungsoper, die im Frankreich des 18. Jahrhunderts große Beliebtheit genoss. In dieser Tradition wurzeln die Genreszenen des ersten Aufzugs, die die Kleinfamilie des Gefängniswärters Rocco porträtieren.

Johannes Schütz: Neben der großen Freiheitserzählung hat FIDELIO einen bürgerlichen Plot: Es gibt zwei Paare, deren Beziehungen unterbrochen werden und für einen Moment lang neu entstehen, um sich dann wieder aufzulösen. Letztlich ist es auch eine Erzählung über eine Oberschicht, die sich gegenseitig zugrunde richtet – zunächst unkontrolliert durch Pizarro und nachträglich, fast zu spät, durch den Kontrollbesuch und die Inspektionsreise des Ministers. Die Revolution kommt vielleicht auch von unten, aber sie ist nur möglich, weil es oben die Verwerfungen gibt. Das Staatsgefängnis, in der die ersten Szenen des Singspiels verortet sind, ist eine Miniaturabbildung der großen Organisationsform und ein Kontrollrevier.

David Hermann: Die Figuren sind durch das Leben in diesem System stark beschädigt, voller Aggressionen und unterdrückter Gefühle. An so vielen Stellen bricht Gewalt, Erschöpfung und Ohnmacht aus ihnen heraus. Sie sind gefangen in einer vertikalen Hierarchiekette, in der die Frustration immer nach unten geleitet wird. Das Witzige und das Groteske gehören bei Beethoven zusammen. Man merkt das Rocco, Marzelline und Jaquino vor allem in den ersten Szenen der Oper an, die ja noch mehr an die Spieloper angelehnt sind. Beethoven hat das Scherzo erfunden, ungefähr zur gleichen Zeit, als Goya die „Caprichos“ erfand. In diesen Zeichnungen, die sich auf das Wesentliche beschränken, tritt die Karikatur einer Person und ihre Essenz auf radikale Weise hervor. So sehe ich die Genreszenen im ersten Aufzug: In der Groteske findet sich die Kompression eines Charakters.

Sir Donald Runnicles: Beethoven führt uns in den ersten beiden Szenen um Marzelline und Jaquino ein wenig aufs Glatteis: Sie entsprachen sicher der Vorstellung, die das Publikum damals von einer Rettungsoper hatte. Aber dann kommt plötzlich dieses ungeheuerliche Quartett! Beethoven lässt uns schon hier nach Innen schauen, nicht erst bei den großen, später folgenden Arien. Die Singspieldynamik wird unterbrochen und die Szene eingefroren: Die Figuren stehen für sich, obwohl sie miteinander singen. Plötzlich sind wir nicht mehr in der Oper, es könnte genauso gut ein Streichquartett oder eine Symphonie sein. Immer wieder hat man bei Beethoven das Gefühl, dass die Musik das Echte ausdrückt. Die grundlegende Frage, die Beethoven angestoßen hat, und die alle Komponist*innen nach ihm beschäftigt hat, war: Wie weit kann Musik alleine gehen? Wann muss die menschliche Komponente dazukommen und die Stimme übernehmen?

David Hermann: In dieser Welt der Kontrolle und des Drucks ist der musikalische Ausdruck entweder ein Ventil und eine Entladung oder ein Gegenentwurf, ein Moment des Innehaltens, der Beschwörung einer Hoffnung und Schönheit, die nicht da sind. In jedem Fall ist der Moment des Singens bei Beethoven immer existenziell. 

Sir Donald Runnicles: Absolut, Beethoven geht es nie um Virtuosität als Selbstzweck und damit hebt er sich bewusst von der italienischen Tradition ab. Keine Kadenz, keine Verzierung, kein Spitzenton ist rein formal gesetzt. Ihm geht es ausschließlich um das Innere der Figuren, deshalb werden wir als Zuhörer*innen auch unmittelbar in ihr Drama involviert. Beethoven transformiert ihre inneren Kämpfe in Musik und überschreitet damit die traditionelle Form.

Carolin Müller-Dohle: Sich für das Gefängnis als einzigen Spielort der Handlung zu entscheiden, war eine kühne und bis dahin beispiellose Setzung von Beethoven und seinen Librettisten. Bis heute finden wir in der Opernliteratur kaum Werke, die auf solch existenzielle Weise die Gefangenschaft zum Thema machen.

Johannes Schütz: Beethoven schafft eine Präfiguration der Organisationsformen von politischen und kriminellen Gefangenen, die sich in der Realität des 20. Jahrhunderts zu den Lagerformen der Gulags und Konzentrationslager weiterentwickelt haben. Die häufig getroffene Entscheidung, FIDELIO in einem Gefängnis zwischen Auschwitz und Stammheim spielen zu lassen, fand ich oft fleißig, bisweilen aber auch pietätlos und politisch fragwürdig. Deshalb haben wir uns für eine Übersetzung entschieden. Das Bühnenbild besteht formal ausschließlich aus zwei reduzierten Materialien: Metall für die Requisiten und Lehm für die Mauer und den Boden. Das erhöht die Datumslosigkeit, da ihre Ästhetik so purifiziert ist. Der Lehm ist ein antidekoratives, rudimentäres Material, die Ursubstanz, zu der sowieso alles wird: Erde. Es lässt allerdings auch gewisse zivilisatorische Möglichkeiten zu, wie zum Beispiel die Mauer.

David Hermann: Das Beobachten und Beobachtet-Werden, das Belauern, heimlich Mithören und etwas Verbergen sind zentrale Momente in diesem labilen System, in dem Druck und Vakuum so nah beieinander sind. Im ersten Akt wird dies auch in der Raumanordung verdeutlicht: Es gibt keine Versteckmöglichkeiten und viele Ebenen, wer von welcher Höhe auf wen schauen kann. Die Geschlossenheit des Ortes erzeugt Druck zwischen den Figuren. Sowohl die Eingesperrten als auch die Menschen, die im Gefängnis arbeiten müssen, sind ausgeliefert und befinden sich in einer Art doppelten Gefangenschaft. Es gibt kein Entkommen, es gibt keine Privatsphäre, man befindet sich in einer parallelen Realität ohne Tageslicht und mit eigenen Regeln und Ritualen. Im zweiten Aufzug ist der Raum dann wie zerschmolzen und aufgelöst, die Figuren sind schutzlos und verloren.

Johannes Schütz: Wir haben im Hinblick auf Florestans Situation oft über Agoraphobie gesprochen, die Vereinsamungsangst in zu großen, weiten Räumen. Denn der Kerker ist bei uns unnützerweise viel größer als der Raum des ersten Aufzugs, obwohl wir auf derselben Grundfläche agieren. Im ersten Aufzug gibt es noch eine intakte Aufteilung zwischen Drinnen und Draußen, zwischen dem Gefängnis innerhalb der Mauern und den Bereichen außerhalb, die an die Freiheit zumindest angrenzen. Der Schnitt vom ersten zum zweiten Akt, von Oben nach Unten, ist meiner Ansicht nach wichtig: Man muss die Spezialhaft für Florestan von der des Männerkollektiv aller Gefangenen abheben.

Carolin Müller-Dohle: Bezeichnenderweise bringt eine Frau das patriarchal dominierte System ins Schlingern. Leonore hebt sich stark ab von den meisten weiblichen Hauptfiguren des Opernkanons, weil sie die Handlung entschieden vorwärts treibt. Wegweisend ist auch, dass es bei FIDELIO der Mann ist, der Hilfe braucht. Bis sie in der Handlung als Leonore in Erscheinung treten kann, ist die Oper jedoch fast zu Ende. Davor lernen wir sie in ihrer Verkleidung als Mann, als Fidelio, kennen. Was bedeutet diese Camouflage und was löst sie in ihrem Umfeld aus?

Johannes Schütz: Beethoven nutzte das Sujet der Hosenrolle im Sinne eines kriminalistischen Plots. Die Hosenrollen, die wir aus der Opernliteratur davor kennen, sind ja vor allem musikalisch begründet und nicht aufgrund der Handlung gesetzt, außer vielleicht bei Händels ALCINA. Leonore muss es tun, die Tarnung ist ihr Schutz. So wird aus einer Formalie des Musiktheaters eine tatorthafte dramaturgische Notwendigkeit. Das hat zur Folge, dass die Frage von Leonores Enthüllung ständig im Raum steht.

David Hermann: Die Verkleidung ist wie ein Gift, das ganz langsam wirkt innerhalb der kleinen Familie und alle Beteiligten antriggert. Die menschlichen Beziehungen sind plötzlich auf den Kopf gestellt. Daraus erwächst ein wahnsinnig spannender, instabiler Zustand. Die Not der Verkleidung kommt schon im Quartett des ersten Aufzugs zur Sprache und Leonore sagt hier auch, dass die Verstellung für sie unerträglich ist. Leonore ist sicher ein Mensch mit Idealen und mit einer fast übermenschlichen Ausdauer und Hartnäckigkeit, aber auch sie muss im System mitspielen, sich verleugnen, lügen und in unserer Fassung auch töten. Das ist bei Beethoven so nicht vorgesehen, aber es war uns wichtig zu zeigen, welches Leid es bei ihr auslöst, bis zum Letzten gehen zu müssen, um in ihrer Rolle aufzugehen.

Sir Donald Runnicles: Den Zwang zur Verstellung macht Beethoven in der Musik deutlich: Man merkt immer wieder, wie groß die Herausforderung für Leonore ist, sich zu kontrollieren, denn sie hat ja eine übermenschliche Mission und ist bereit, alles für ihren Mann zu tun. Schon im Terzett „Gut, Söhnchen, gut“ spürt man ihren Mut, fast Übermut, doch sie hält sich noch an die Spielregeln ihrer Umgebung. Ihre nach Pizarros Auftritt folgende Arie ist eine große musikalische Zäsur in der Partitur. Nach den Spieloper-Szenen hören wir zum ersten Mal eine Arie von überwältigender dramatischer Innerlichkeit, eine sinfonische Szene, die für sich alleine stehen könnte. Jetzt strömt und fließt alles. Diese Reise zur Selbstermächtigung lässt Beethoven von drei Hörnern begleiten – ihre menschliche Wärme und ihr unbändiger Mut kommt uns auch durch den Klang der Instrumentierung nah. Sicher gab es auch davor Engführungen von Instrumenten mit Sängerstimmen wie die Sesto-Arie in Mozarts CLEMENZA DI TITO, aber wie virtuos Beethoven das Wechselspiel zwischen der menschlichen Stimme und den Hörnern komponiert, ist nicht weit entfernt von Richard Strauss.

Carolin Müller-Dohle: Beethoven und sein Librettist Georg Treitschke strichen die Singspielszenen für die Fassung von 1814 noch einmal drastisch zusammen, sie beschleunigten die Handlung auf ein rasantes Tempo und schafften somit dem Ideendrama und der universellen Dimension des Werks mehr Raum. In den überarbeiteten Arien von Leonore und Florestan führte Beethoven eine sinfonische Dramatisierung ein und revolutionierte somit das Verhältnis zwischen menschlicher Stimme und Instrumenten. In Leonores und Florestans utopischen Visionen wird das Orchester zur zentralen Erzählinstanz und zum Kommunikationsmittel des inneren Dramas. Inwiefern zeigen sich im Vorspiel zum zweiten Aufzug und in Florestans Arie die tondichterischen Qualitäten des Sinfonikers Beethoven?

David Hermann: Zum Zeitpunkt der Komposition war Beethoven schon schwer taub und in allen Kompositionen wurde das Eingeschlossensein zum Thema, denn die Taubheit war für ihn ja auch eine Art Gefängnis. Im Vorspiel zu Florestans Arie hört man regelrecht das innere Rauschen und Schreien. Vielleicht konnte er dieses sinfonische Fresko, dieses dreidimensionale Klangbild eines Zustands nur aufgrund seiner persönlichen Erfahrung so komponieren. Das untermauert noch einmal mehr, dass man an dieser Stelle auf keinen Fall ein Gefängnis auf der Bühne sehen möchte. Was Beethoven da skulptural aus der Dunkelheit heraus auftürmt und beleuchtet, ist sehr bedrückend.

Sir Donald Runnicles: Im Vorspiel und in der Arie wird Beethovens Vorstellung von Chiaroscuro-Dramaturgie besonders deutlich; es ist eine Reise von der Dunkelheit ins Licht. Um die hellste aller Visionen, Leonore, glaubwürdig zu machen, ist die düstere Grundierung der tiefen Streicherunisoni und Tremolopassagen in f-Moll notwendig. Wenn dann über eine Rückung von As-Dur nach F-Dur und eine Klangaufhellung das Solo der Oboe hereinbricht, ist das eine wahrhaftige musikalische Utopie. Florestan tastet sich langsam heran und klettert mit der Musik empor, die ihm schier übermenschliche Kraft verleiht. Da steckt eine Metaphysik im Musikalischen, die wir später bei Wagner, zum Beispiel in SIEGFRIED, wieder sehen. Und so wie sich Florestan mithilfe der Musik aufgeschwungen hat, bricht er bei ihrer plötzlichen Implosion wieder in sich zusammen.

Johannes Schütz: Es ist eine Vorhöllensituation, in die uns Beethovens Musik führt. So gesehen ist Leonores Eintritt in diese Unterwelt auch eine Umkehrung des Orpheus-Mythos, in dem ein Mann in einen Bereich eindringt, den man als Lebender eigentlich nicht betreten darf. Sicher kannte Beethoven Glucks ORFEO ED EURIDICE, also hat er die Konstellation getauscht und sie in zeitgenössische Verhältnisse übersetzt. Denn jetzt ist es eine Frau, die, als Mann verkleidet, in die Unterwelt geht, um ihren Gatten zu erlösen.

Carolin Müller-Dohle: Zwischen diesen übermenschlich großen und idealisierten Figuren steht Rocco, der eine Schlüsselrolle im Gefüge innehat. Er durchlebt eine fundamentale Entwicklung und muss eine große Entscheidung treffen.

Sir Donald Runnicles: Oft bleiben Figuren in der Oper abgesehen von Nuancen geradlinig und selten erlebt man eine solch dramatische Wandlung wie bei Rocco. Er startet als prototypischer Spielbass, seine „Gold-Arie“ und seine ersten Szenen der Oper haben einen starken Buffo-Charakter. Schnell wird jedoch klar, dass es um seine Existenz geht: Pizarro wäre jeder Zeit in der Lage, Rocco und seine Familie ernsthaft in Gefahr zu bringen. Sich auf Fidelio einzulassen und durch sein/ihr Einwirken mutiger zu werden, ist ein Spiel mit dem Feuer. Wir gehen als Publikum jeden Schritt in dieser Entwicklung mit.

Johannes Schütz: Bei Rocco wird nie ganz klar, ob er Teil des Problems oder Teil der Lösung ist. Einerseits sehen wir die Ordnungssehnsüchte, die er für den Staat in seiner Funktion ausführt. Im zweiten Aufzug andererseits zeigt er uns sein ambivalentes Verhältnis zur Pflichterfüllung [zum Mordauftrag] und seine subversiven Energien, sich dagegenzustellen. Er steht unter dem Zwang, eine Entscheidung treffen zu müssen. Das macht ihn möglicherweise zu einer Figur, die im Zuschauerraum den größten Magnetismus auslöst. Die Distanzen zu den anderen – zu der moralischen Verwahrlosung Pizarros, den Sehnsüchten Leonores oder der Beschädigung des fast hingerichteten Florestan – sind sicherlich größer. Rocco sitzt im Zuschauerraum neben uns. Er ist der, wenn man so will, deutschsprachige Familienvater zwischen Exekutive und häuslichem Bereich. Und sicher war das für das Publikum der Uraufführung auch schon so, denn in seiner einzigen Arie geht es um Geld, das zentrale Thema des Bürgertums des 19. Jahrhunderts.

David Hermann: Rocco ist extrem beschädigt, das zeigt sich in seinem Ausspruch „Ich bin ja bald des Grabes Beute“. Zwar ist dieser Satz in einem Terzett kodiert und man kann ihn überhören, aber es ist eine Sollbruchstelle, die Beethoven anzeigt und somit eine ganz zentrale Aussage. Da ist jemand nicht nur müde, sondern psychisch erschöpft, unter diesem Druck, der Beobachtung und den illegalen Machenschaften von Pizarro arbeiten zu müssen. Rocco baut sich ein Pseudo-Wertesystem auf, das ihm eine Rechtfertigung dafür bietet, Teil dieses völlig entkoppelten Systems Gefängnis zu sein. Er wird in etwas hineingezogen, das er vielleicht gar nicht wollte und bis zum Schluss bleibt er ambivalent. Gleichzeitig finde ich es eine präzise Beobachtung, dass Rocco die Mehrheit repräsentiert, die Beethoven ansprechen wollte. Er wirft in ihm die Frage auf, wie wir uns positionieren wollen.

Carolin Müller-Dohle: Die nachdrückliche Affirmation der Freiheit und des Humanismus bricht sich schließlich im sinfonisch angelegten Finale Bahn, in dem Beethoven mit einem Zitat aus Schillers „An die Freude“ schon auf die Zukunftsmusik seiner „Neunten“ vorausdeutet. Die Aufstände im Iran führen uns vor Augen, wie relevant und zeitlos Beethovens Botschaft nach wie vor ist. Gleichzeitig stellen Pandemie und Klimawandel die Freiheit auf den Prüfstand. Der Liberalismus, so wie wir ihn in Westeuropa in den letzten Jahrzehnten kannten, stößt in Zeiten globaler Krisen mehr und mehr an seine Grenzen. Wie ist dieses Finale – auch im Hinblick auf die heutige Weltlage – zu deuten?

Johannes Schütz: Das Finale enthält sich jeglicher Art von Happy End im Sinne der Handlung und ist in einer großen, scheinbar unszenischen, offenen Form dem Oratorium näher. Viele sehen darin einen schwierigen Kipppunkt des Stücks, ich finde es konsequent, dass hier eine offene musikalische Fläche entsteht und keine Auflösung stattfindet. Die Frage wird an die Gesellschaft delegiert. Eigentlich müsste der Orchestergraben hochfahren und der Zuschauerraum mitsingen, damit sich die Theaterform der italienischen Bühne auflöst. Es ist ein echtes Wir-Erlebnis.

Sir Donald Runnicles: Das Finale von Beethoven ist kein Fremdkörper, wie oft behauptet wird, sondern ein sinnfälliger Abschluss dieser Partitur. Mit dem virtuosen und ekstatischen Schlusschor spricht Beethoven uns alle an. Obwohl er, wie in seiner „Neunten“, die Sprache hinzunimmt, um eine Botschaft zu transportieren, spüren wir allein durch die Musik, dass es um nichts weniger als um die Zukunft der Menschheit geht. Das ist pure Energie und zeigt, was eine Gruppe wohlwollender Menschen erreichen kann. Der Krieg in der Ukraine und die Aufstände im Iran machen deutlich, wie nötig die Welt FIDELIO hat. Das sollten wir uns hier immer wieder ins Gedächtnis rufen: Diese Oper ist ein klingendes Gewissen, ihre Botschaft zeitlos.

David Hermann: Ja, leider ist die Botschaft des Finales – die Befreiung von Menschen aus unrechtmäßiger Gefangenschaft – nach wie vor brandaktuell. Auch dass eine Frau das alles bewirkt, ist visionär. Allerdings ist die Vehemenz der Affirmation des Chores am Ende des Stückes auch angsteinflößend und birgt eine überrollende Energie. Ist das wirklich eine Stimme, mit der der Chor da spricht? Können wir das heute noch? Oder sind wir in unserer individuellen Freiheit und Meinungsäußerung schon so zersplittert, dass diese musikalische Energie von Beethoven eher ein Aufbegehren gegen etwas ist, ein Streiten, in der jede Stimme die eigene Meinung vehement artikuliert?

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