Patriotische Rhythmen und infantile sentimentale Bindungen - Deutsche Oper Berlin
Aus dem Programmheft
Patriotische Rhythmen und infantile sentimentale Bindungen
Ein Essay von Anselm Gerhard
Die erste Soloszene in LES VÊPRES SICILIENNES gehört der Primadonna: Nach dem obligatorischen Eröffnungschor will Hélène die Palermitaner zum Aufstand anstacheln; die Schwester eines »österreichischen« (gemeint ist wohl: staufischen) Herzogs führt den sizilianischen Widerstand gegen die Herrschaft der Anjou an. Die scharf skandierten Auftakte, die allgegenwärtigen punktierten Rhythmen schmiegen sich dem von Verdi vertonten französischen Text an: »Du cou-ràge« klingt schärfer, pointierter als die später angefertigte italienische Übersetzung »co-o-ràggio«. Formal handelt es sich beim schnellen Satz von Hélènes Solo dagegen um eine typisch italienische Cabaletta, dem seit Rossini selbstverständlichen furiosen Schlussteil einer mehrteiligen Arie. Auch das vokale Profil dieser Cabaletta ist mit »Rouladen« und Sprüngen bis ins hohe c italienischer Konvention verpflichtet. Hélène singt hörbar auf den Pfaden Odabellas, der kampfesmutigen Heldin in Verdis ATTILA aus dem Jahre 1846.
Und doch versprüht dieser martialische Auftritt nicht nur wegen seines Textes französisches Parfum. Mit der Interaktion von Solo-Stimme und Chor und dem kaum überhörbaren Marsch-Rhythmus atmet diese Szene etwas vom Geist der »Marseillaise«. So drängt sich gar die Assoziation zu einem sehr berühmten Gemälde aus dem Jahre 1830 auf: In »La liberté guidant le peuple« malte Eugène Delacroix eine mutige Frau mit der republikanischen Trikolore in der Hand als eine Allegorie der Freiheit. Aus dieser Perspektive erscheint Hélène als Allegorie, wenn nicht der Freiheit, so zumindest »du courage«, des »Mutes«.
Ganz anders der von ihr geliebte Henri. Er weiß weder aus noch ein. Die Mutter des Achtzehnjährigen, Sizilianerin wie Hélène, ist vor einem Jahr gestorben, von seinem Vater weiß er nichts. Doch im dritten Akt erfährt er zu seinem Schrecken, dass seine Mutter von keinem anderen als dem verhassten Gouverneur geschwängert wurde: Henris Vater ist also Guy de Montfort, in der Lesart des Librettos ein »Franzose«, im realen 13. Jahrhundert ein Normanne, wahrscheinlich in England geboren. Wie so viele Librettisten liebte auch Eugène Scribe geklitterte Geschichte(n): 1282, im Jahr des blutigen Aufstands in Palermo, war der reale Montfort längst nicht mehr Gouverneur. Und um zum imaginärem Montfort der Oper zurückzukommen: Das Publikum (nicht aber Henri) erfährt aus seinen schamhaft verklausulierten Worten, dass er Hélène Gewalt angetan hatte – in einem privaten Brief über sein Libretto sprach Scribe unumwunden von einer »femme violée«, einer »vergewaltigten Frau«.
Was macht nun Henri? Nachdem Montfort im vierten Akt die Versöhnung und gleichzeitig die Heirat Hélènes und Henris angeordnet hat, klammern sich die Verlobten an diese vage Perspektive eines Friedens. So malt der fünfte und letzte Akt eine fast gespenstische Ruhe vor dem Sturm. In der letzten Soloszene dieser Oper singt Henri von einem »Windhauch, der in der Ferne leichter und reiner säuselt«, von einer »Luft, die von noch süßeren Parfums erfüllt« ist. Formal handelt es sich bei dieser weltfernen Utopie um ein typisch französisches Strophenlied. Auch das von Verdi gewünschte Versmaß, der gereimte Alexandriner, weist auf das Genre Lied, galt er doch auf der Opernbühne als unangemessen. Im Libretto sind die beiden Strophen als »Romance« betitelt, im gedruckten Klavierauszug – weit treffender – als »Mélodie«, also mit der französischen Bezeichnung für ein Klavierlied. Verdi geht hier völlig neue Wege und nähert sich – nicht zuletzt durch die flimmernde Orchestration mit tremolierenden hohen Streichern und luftige Staccati der hohen Bläser – der unwirklich anmutenden Leichtigkeit, die Bizet einige Jahre später zum Markenzeichen seiner Tenor-Soli in LES PÊCHEURS DE PERLES oder LA JOLIE FILLE DE PERTH machen sollte. Nicht ohne Grund mäkelte der Florentiner Musikkritiker Abramo Basevi: »Die Mélodie des Tenors ist ein ziemlich süßlicher Gesang, doch in gewisser Weise gekünstelt. Sein Charakter ist der eines kleinen Klavierlieds. Weshalb […] er sich jener Einheitlichkeit des Stils verweigert, von dem man will, dass er in einer Oper gewahrt bleibt.«
Kolossal
Was zeigt dieser Blick auf zwei exzentrische Soloszenen? Verdi verfügte 1855 noch nicht über die Möglichkeiten, auf erprobte Formmodelle zu verzichten wie ein gutes Jahrzehnt später in DON CARLOS, seiner letzten französischen Oper – deren neue Teile in der »Mailänder« Fassung von 1884 er übrigens ebenfalls konsequent auf französische Worte komponieren sollte. Vieles ist der Konvention verhaftet, auch wenn auf den zweiten Blick Brüche und individualisierte Lösungen sichtbar werden. Vor allem aber zeigt sich in der Gegenüberstellung von Hélènes (erstem) und Henris (letztem) Solo ein fundamentales Problem der Dramaturgie dieser Oper.
Auf den Spuren von Meyerbeers Erfolgen wollte Verdi eine großformatige Historienoper, eine Art »Kolossal« vor der Erfindung des »Kolossalfilms«. Mehr noch: In einem ersten Brief an Eugène Scribe, den Pariser Librettisten (nicht nur) Meyerbeers, präzisierte er am 26. Juli 1852 seine Wünsche. In französischer Sprache und mit Verweis auf Meyerbeers LE PROPHÈTE schrieb er: »Ich brauche ein grandioses, leidenschaftliches, originelles Libretto, eine imposante, blendende Inszenierung.« Als ihm Scribe dann anderthalb Jahre später das ausgearbeitete Libretto übergab, ergänzte Verdi auf der Empfangsbestätigung, er sei »sehr zufrieden«. Der Librettist ließ einen seiner Mitarbeiter wissen, der Clou am Ende des vierten Aktes (wir werden darauf zurückkommen) sei von Verdi als »die schönste Situation des Werks« gerühmt worden. Doch bestand Verdi auch auf den äußeren Insignien des Pariser Erfolgsmodells: der Anlage in fünf Akten mit wiederholten Auftritten des Balletts. Und handelte sich so ein Problem ein. Denn das von Scribe vorgeschlagene Projekt, ein 1836 zunächst für Halévy entworfenes, dann 1839 von Donizetti zur Hälfte komponiertes Libretto mit dem Titel LE DUC D’ALBE hatte nur vier Akte.
Zwar war es für Scribe ein Leichtes gewesen, die Geschichte aus den spanisch besetzten Niederlanden, also aus der Sphäre von Goethes EGMONT, in das normannisch regierte Sizilien zu verschieben und damit um drei Jahrhunderte zurückzudatieren: statt 1573 die wenigen Tage bis zum 30. März 1282, dem historisch verbürgten Aufstand in Palermo, der als »Sizilianische Vesper« bezeichnet wird. Doch war es alles andere als einfach, die blutige Auflösung der Verwicklungen um ein Liebespaar, Fremdherrschaft und Revolte auf zwei Akte zu verteilen.
Während Verdi das Libretto der ersten vier Akte weitgehend unverändert in Musik setzte, verlangte er Anfang 1855 immer wieder neue Ideen für den fünften Akt. Am Ende ergab sich so eine Abfolge von Genrebildern, über denen zwar die Vorahnung des finalen Massakers schwebt, denen aber der dramatische Biss fehlt: ein blumiger Huldigungschor im 3/8-Takt mit Kastagnetten-Begleitung, eine »Sicilienne« mit dem charakteristischen Rhythmus des spanischen »Bolero« für Hélène und eben die ätherische »Mélodie« Henris. Mehr noch: Im Unterschied zu allen anderen Akten und in Abweichung von Scribes ursprünglichem Libretto sind diese drei ›Nummern‹ nicht durch rezitativische Dialoge miteinander verbunden. Indem die beiden Verlobten dem eigentlichen Drama entrückt werden, fällt die Verzahnung von historischem Konflikt und Liebesgeschichte weniger zwingend aus als zwei Jahrzehnte zuvor in Meyerbeers LES HUGUENOTS und auch weniger kohärent als zwölf Jahre später in Verdis DON CARLOS.
»Dis-moi papa« (»Sag Vati zu mir«)
Dabei scheinen am Ende des vierten Aktes die beiden Sphären im Angelpunkt des Finales auf ingeniöse Weise überblendet: Montfort giert nach der Anerkennung seines Sohns. Er erträgt es nicht, als grausamer Tyrann zurückgewiesen zu werden. Dass ihm Henri während des Maskenballs im dritten Akt beherzt das Leben gerettet hat, ist ihm nicht genug. Er besteht darauf, von seinem Sohn als »Vater« angeredet zu werden. Genau diese fixe Idee eines alternden Manns hat Scribe in die Szene gefasst, die Verdi als »die schönste Situation« der ganzen Oper erschien. In der nachgerade sadistischen Aufstellung des Finales im vierten Akt lässt Montfort die Hinrichtung Procidas und Hélènes vorbereiten. Als die von Henri geliebte Frau zur Richtstätte geführt wird, vergisst dieser jeden »Patriotismus« und ruft verzweifelt »Mon père! mon père!...« (»Mein Vater!«).
Das Obsessive von Montforts Verlangen stieß schon manchem Zeitgenossen unangenehm auf. Anlässlich der Wiederaufnahme von Verdis Oper im Sommer 1863 schrieb Gustave Héquet: »Sag Vati zu mir, oder ihr Kopf rollt… Das ist gleichzeitig furchterregend und infantil.« Doch reproduziert diese Szene eben eine nicht weniger sadistische Familienaufstellung in LE PROPHÈTE, die Verdi noch 1896, also am Ende seines Lebens, als »wundervollen dramatischen Moment« rühmen sollte. Im vierten Akt der 1849 zur Uraufführung gelangten Oper lässt sich der Titelheld Jean als Sohn Gottes verehren. Als er droht, er lasse sich von seinen Jüngern erstechen, wenn er von einer irdischen Frau geboren sei, verleugnet die terrorisierte Mutter schließlich ihren eigenen, »verlorenen« Sohn.
Im Vergleich zur Schlüsselszene in Meyerbeers Oper, die schon Anfang 1836 konzipiert worden war, wirkt Verdis Ensemble düster und leise, fast kammermusikalisch. Vor der Kulisse des von Mönchen gesungenen Bußpsalms »De profundis« nehmen die Todgeweihten mit stammelnden Worten voneinander Abschied. Musikalisches Profil findet sich nur im Orchester: In hoher Lage stimmen die Violinen eine (bereits in der Ouvertüre vorgestellte) Pianissimo-Melodie in Des-Dur an, die nach des-Moll gewendet wird – ein Klangbild auswegloser Melancholie, das Verdi zwei Jahre zuvor schon am Beginn des dritten Aktes von LA TRAVIATA erprobt hatte. Doch zur letzten Silbe des zweiten Ausrufs »Mon père!« hellt sich die Harmonik zum nicht mehr erwarteten Des-Dur auf – genau der Tonart, die in den beiden Duetten Henris und Montfort eine strukturbildende Rolle gespielt hatte.
»Tête-à-tête«
Insgesamt gibt es in den fünf Akten von LES VÊPRES SICILIENNES vier Duette. Das scheint zunächst nicht außergewöhnlich. Doch ist an allen vier Duetten Henri beteiligt: zweimal mit dem Vater, zweimal mit Hélène. Damit reiht sich auch diese Oper in Verdis obsessive Suche nach zugespitzten persönlichen Gegenüberstellungen ein. Schon seinen RIGOLETTO von 1851 hatte Verdi im Nachhinein als »eine unendliche Abfolge von Duetten« bezeichnet, in den fünfaktigen Fassungen von DON CARLOS, also in Paris 1867 und in Modena 1886, begegnen dann sogar sieben Situationen, die als »tête-à-tête« bezeichnet werden müssen.
In zweien der vier Duette der Oper von 1855 greift Verdi überdies zu einem von ihm sonst nie verwendeten Kunstgriff. In der Cabaletta, dem schnellen Finalsatz des Duetts im dritten Akt stimmt Henri dieselbe Melodie an, die im langsamen Eröffnungssatz desselben Duetts den versteckten Glücksgefühlen des Vaters beim Anblick des verlorenen Sohns Ausdruck verliehen hatte. Ganz ähnlich greift im zweiten Duett der Liebenden im vierten Akt Hélène gegen Ende eine Melodie Henris auf, nachdem nun auch sie – endlich – erfahren hat, wer Henris Vater ist. Verdi bezieht also musikalische Motive in den Gedankenaustausch der singenden Figuren ein und macht so deren Familienbande sinnlich erfahrbar. Doch Henri wird selbst dann als »duettierender« Charakter gezeigt, wenn er alleine singt. Seine bereits ausführlich kommentierte »Mélodie« im fünften Akt handelt nur von Hélène und der Vorfreude auf die Vermählung mit ihr. Mehr noch: Am Ende der beiden Strophen erwidert Hélène seine Liebeserklärung, die zweite Strophe wird mit elf Takten terzenseliger Zweisamkeit überkrönt. Auch Henris zweiteilige Arie am Beginn des vierten Aktes ist in nachgerade obsessiver Weise auf Hélène bezogen. Im langsamen Satz in e-Moll klagt er, es sei ihm unmöglich, mit ihrem Hass zu leben, »ô mon Hélène«. In der – diesmal ganz und gar nicht auf italienische Weise komponierten – Cabaletta in E-Dur fleht er die im Gefängnis imaginierte Hélène um Verzeihung an.
Am Ende verliert selbst Hélène die kämpferische Entschlossenheit, die ihre Arie im ersten Akt ausgezeichnet hatte. Vor der Cabaletta des letzten gemeinsamen Duetts, das unmittelbar auf Henris Arie im vierten Akt folgt, hat Verdi einen in sich geschlossenen langsamen Satz für Hélène allein vorgesehen: über drei Minuten Sologesang. Im Wechsel zwischen g-Moll und G-Dur und mit Begleitmustern, die sehr deutlich an den Klavierpart von Schuberts berühmtem (und damals längst auch in Paris und Mailand populärem) STÄNDCHEN auf einen Text Rellstabs (»Leise flehen meine Lieder«) erinnern, erklärt sie Henri, dass ihr Herz ihm verziehen habe. Die Liebe und damit das Private haben endgültig die Überhand über alle patriotischen Wallungen.
»Der unvermeidliche Dolch«
Es muss also nochmals wiederholt werden: Die Verzahnung von historischem Konflikt und Liebesgeschichte ist in LES VÊPRES SICILIENNES weniger reibungslos gelungen als in den historischen Opern, die in den 1820er und 1830er Jahren konzipiert worden waren: nicht nur Meyerbeers LES HUGUENOTS und LE PROPHÈTE, sondern auch schon zuvor Aubers LA MUETTE DE PORTICI, Rossinis GUILLAUME TELL und Halévys LA JUIVE. Solche Unwuchten Verdi anzukreiden, greift aber zu kurz. Offenbar hatte sich nach der »Beschleunigung« der Geschichte mit der dritten blutigen französischen Revolution in Paris nach 1789 und 1830 im Jahre 1848 und nach der vermeintlichen Beruhigung der Konflikte unter der Knute des Neffen Napoleons im sogenannten Zweiten Kaiserreich seit 1851 das dramaturgische Modell der Historienoper überlebt.
So erklären sich nicht wenige Widersprüche in der Dramaturgie von Scribes und Verdis Oper aus den veränderten Sensibilitäten der Zeit. Verdi selbst wurde der prekären Konzeption des fünften Aktes gewahr, als er Ende 1854 an dessen Komposition ging (und für Henris letztes Solo zunächst zwei musikalisch völlig anders gestaltete Entwürfe auf konventionellere Texte Scribes ausarbeitete). Am 3. Januar 1855 schrieb er dem Direktor der Opéra, »alle stimmten darin überein, diesen fünften Akt uninteressant zu finden«. Das dürfte zunächst nicht mehr gewesen sein als der Versuch, seine Verhandlungsposition gegenüber Scribe zu stärken, der nun nochmals Hand an sein Libretto legen sollte. Doch schimpfte Verdi auch, wie heikel die krude Aktualisierung eines historischen Ereignisses aus dem 13. Jahrhundert sei. »M[onsieur] Scribes Text« verletze »die Italiener, indem er die historische Figur Procidas verändert und aus ihr (nach seiner bevorzugten Methode) einen gemeinen Verschwörer mit dem unvermeidlichen Dolch in der Hand gemacht« habe.
Hatte Verdi vorher den fünften Akt nicht gelesen? Jedenfalls schien ihm erst jetzt bewusst geworden zu sein, dass der Kampf zwischen Sizilianern und dem Haus Anjou vom Publikum als Konflikt zwischen Frankreich und Italien gelesen werden könnte. Überdies hatte er die Schwächen in der Charakterisierung Procidas erkannt, der einzigen Hauptrolle dieser Oper, für die es in LE DUC D’ALBE kein Vorbild gegeben hatte. Dennoch drängte es sich 1855 in Paris nicht auf, die Handlung einer historischen Oper durch die Brille des modernen Nationalismus zu sehen, zumal ein italienischer Nationalstaat noch gar nicht existierte. Doch ein weiteres Element kam hinzu: Verdis langwierige Arbeit hatte den ursprünglich für 1854 geplanten Uraufführungstermin unmöglich werden lassen. Beim Beginn der Arbeit am fünften Akt, war klar, dass die Oper während der Pariser Weltausstellung von 1855 gespielt werden würde, also im Kontext einer Leistungsschau der Nationen.
Verdi war aber der prominenteste aktive Komponist in Italien, auch wenn er noch nicht als ideeller Vorkämpfer der italienischen Einigungsbewegung wahrgenommen wurde. Erst 1879 sollte er die Mär vom revolutionären Potential des Gefangenenchors in NABUCODONOSOR (»Va, pensiero sull’ali dorate«) in die Welt setzen. Und erst in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts wurde dieser Mythos, an den viele noch heute glauben wollen, zum Leitmotiv der Verdi-Kritik. In Paris findet sich ein allererster Versuch, Verdi als musikalischen Wegbereiter der schließlich 1861 erreichten nationalen Einheit zu verstehen, im Jahre 1863 – mit ATTILA von 1846 als Kronzeugen und ohne jede Erwähnung des NABUCODONOSOR aus dem Jahre 1842. Doch Verdi war sicher bewusst, dass von zeitgenössischen Literaten die Geschichte von der Sizilianischen Vesper immer wieder als Vorläuferin des aktuellen Ringens um Einheit herbeizitiert worden war.
Am Ende blieb allen Beteiligten nichts anderes übrig, als mit den Unschärfen möglicher Identifizierungen und nationaler Zuschreibungen in dieser Oper zu leben. Es war zu spät für eine radikale Veränderung der dramaturgischen Konzeption. So versuchte Verdi, das Beste aus der Situation zu machen. Wie nach der Öffnung seines musikalischen Nachlasses im Jahre 2019 festgestellt werden konnte, hatte er im Herbst 1854 eine bereits im Particell skizzierte Arie für Henri am Beginn des vierten Aktes mit dem Text »Anges des cieux, éloignez d’elle« verworfen – möglicherweise, weil er erkannt hatte, dass sie Donizettis Komposition desselben Textes zu ähnlich werden könnte. Denn dieser hatte seine ursprünglich für den vierten Akt von LE DUC D’ALBE komponierte Arie mit dem leicht veränderten Text »Ange si pur, que dans un songe« in seine Oper LA FAVORITE übernommen. Später, im Vorfeld der Uraufführung einer italienischen Bearbeitung von Donizettis Oper im März 1882 bemerkte auch die italienische Presse die verblüffenden Ähnlichkeiten zwischen den beiden Libretti Scribes.
Daraufhin beteuerte Verdi, er habe »nicht gewusst, dass Scribe sich des DUC D’ALBE bedient hätte, um LES VÊPRES SICILIENNES zu machen«. Dabei sind nicht nur Scribes Briefe und Verdis Antworten aus dem Jahre 1852 unmissverständlich, was die Wiederverwendung dieses von Scribe als »Ladenhüter« bezeichneten Librettos angeht – all dies war in Paris 1855 ein offenes Geheimnis.
Patriotische Rhythmen
Auch wenn einfache Gleichungen von Gut und Böse durch Verdis Einfühlung in alle Protagonisten konterkariert werden, ist in dieser Oper gleichwohl etwas vom patriotischen »groove« des 19. Jahrhunderts präsent. Vom ersten Takt der Ouvertüre bis zu den letzten solistischen Einwürfen vor dem Schlusschor begegnet immer wieder eine rhythmische Figur, in der zwei (manchmal auch drei) kurze auftaktige Noten auf demselben Ton (Zweiunddreißigstel, bisweilen Sechzehntel) von einer langen Note auf eben demselben Ton und auf dem Schlag des neuen Taktes gefolgt werden. Dieser (meist) anapästische Rhythmus weist auf die Trauermärsche der Französischen Revolution und darüber hinaus auf eine – vereinzelt schon vorher – mit dem Tod verbundene musikalische Formel zurück.
Indem die Figur in der Ouvertüre nicht weniger als 39 Mal erklingt, macht Verdi überdeutlich, dass es in der folgenden Oper um Mord und Totschlag gehen wird.Darüber hinaus überrascht die Dichte martialischer Rhythmen in Verdis Partitur: Dem Eröffnungschor der französischen Besatzer (»Beau pays de France«) ist mit seinem 4/4-Takt und den scharfen Punktierungen ebenso das Modell eines Militärmarschs eingeschrieben wie dem Dialog vor Hélènes Auftrittsarie, der weit ausgreifenden Melodie in der Cabaletta von Procidas Arie im zweiten Akt (»Saint amour qui m’entraîne«), der Cabaletta von Montforts Arie im dritten Akt, dem Vorspiel vor Henris Arie im vierten Akt und sogar noch dem liturgischen Chor »De profundis« im Finale desselben Aktes.
Diesen patriotischen Rhythmen korrespondiert die – im Vergleich zum Italienischen – sehr viel schärfer akzentuierte Rhythmik des Französischen. Insofern ist es ein Glücksfall, dass nach fast anderthalb Jahrhunderten, während denen man meinte, diese Oper – wie auch DON CARLOS – in der Muttersprache des Komponisten, nicht aber in der von ihm komponierten Sprache aufführen zu müssen, LES VÊPRES SICILIENNES nun auf Französisch vorgestellt werden: Erst so erhält Verdis Überblendung von blutiger Geschichte und sentimentalen Bindungen ihre furchterregende Schärfe.