Perspektiven - Deutsche Oper Berlin

Aus dem Programmheft

Perspektiven

Dramaturgin Sonia Hossein-Pour, Komponist Keyvan Chemirani, Sängerin Golnar Shahyar und Regisseurin Marie-Eve Signeyrole im Gespräch

Kurz zum Inhalt des Stückes

Teheran 2013: Das gesellschaftliche Leben ist geprägt von Widersprüchen. Trotz strenger Verbote hat sich in der iranischen Hauptstadt ein reges Nachtleben etabliert. Eine junge Generation schafft sich im Untergrund Freiräume in einer Lebensrealität, in der jede noch so kleine Grenzüberschreitung zum brutalen Einschreiten der Behörden führen kann. Diese Welt betritt Shirin, als sie nach Jahrzehnten in den Iran zurückkehrt und ihre Kindheitsfreunde Negar und Aziz wiedertrifft. Das Wiedersehen ruft alte Erinnerungen wach und konfrontiert die drei mit der Frage nach der eigenen Identität. Es entspinnt sich eine Suche nach dem Vertrauten im Fremden, nach dem eigenen Selbst, wie es sich im Anderen spiegelt. Als sich im Laufe dieser Annäherung schließlich eine leidenschaftliche Liebesbeziehung zwischen den Dreien entwickelt, wird ihre Begegnung auch zu einem Akt des Widerstands und der Selbstbehauptung in einem System der Unterdrückung und Überwachung.

 

Wie hat sich der Blick auf diesen Stoff und die Produktion verändert in den letzten zwei Jahren?
Marie-Ève Signeyrole: In NEGAR geht es um das Sehen und nicht Sehen, um Blicke – hinter Schleiern, Offenes, Verborgenes, halb Verborgenes. Gleichzeitig geht es auch darum, wie man ein Land und eine Gesellschaft wahrnimmt, mit welchem Blick man sich der dortigen Kultur nähert. Wenn man so ein Stück über Blicke und Perspektiven schreibt, stellt sich natürlich die Frage: Wie ist mein eigener Blick darauf? Und in diesem besonderen Fall: Welches Recht habe ich, mit dieser Kultur zu arbeiten, die nicht meine ist? Angesichts der aktuellen Entwicklungen im Iran ist die Frage nach der Legitimation mit der man von etwas erzählt, noch größer geworden. Bei der Kreation eines neuen Stücks schreibt man immer aus dem aktuellen Moment heraus. Wir haben bereits vor zwei Jahren mit dem Sammeln von dokumentarischem Material für NEGAR begonnen. Das Stück hat also einen längeren Vorlauf. Die Recherche-Ergebnisse von damals wirken jetzt ganz aktuell. Daran sieht man, dass die Entwicklungen der letzten Wochen natürlich schon länger unterschwellig da waren, unter der Oberfläche brodelten und jetzt deutlich zum Vorschein kommen. 

Keyvan Chemirani: Vor Kurzem habe ich ein Interview mit einer iranischen Schauspielerin gelesen, in dem ich wörtlich Motive und Themen wiederfand, die in NEGAR verhandelt werden: Eine Iranerin, die 
nach Frankreich ausgewandert ist, aber noch sehr stark mit ihrem Land verwurzelt ist. Wie sie den Blick auf ihr Land beschreibt, ihre Zerrissenheit, ihre Sehnsucht, Träume und Albträume, das finden wir in der Figur Shirin wieder. Dieser Punkt interessiert mich persönlich sehr: Wie blicken wir auf den Iran? Welchen Traum haben wir voneinander und gleichzeitig: Wie groß ist die Distanz, die Fremdheit? 

 

Keyvan Chemirani  © Elina DjeBBari
 

Was bedeutet das für die Komposition?
Keyvan Chemirani: Ich liebe die traditionelle persische Musik, es ist die Musik meines Vaters, meiner Familie. In meine Kompositionen fließen aber auch ganz andere Einflüsse ein: aus der Türkei, aus Indien, Osteuropa. Das ist für mich sehr wichtig, dass es nicht nur iranisch Musik ist und als solche wahrgenommen wird. Auch die Barockmusik hatte immer großen Einfluss auf meine Musik. Hier kommen sich die traditionellen arabischen und europäischen Musiksprachen sehr nahe. Für mich ist es sehr wichtig, Mauern einzureißen. Ich kann von mir nicht sagen, ich sei ein „orientalischer“ Musiker oder ich sei es nicht. Diese Einteilung interessiert mich überhaupt nicht. Wichtig ist doch: Welche Emotionen rufen wir hervor?

 

Golnar Shahyar © Ina Aydogan
 

Die Vielfalt an Stilen und Strömungen spiegelt sich auch in der Besetzung wieder. Wie sind die Erfahrungen aus der Zusammenarbeit auf der Bühne?
Golnar Shayhar: Ich schaue auf dieses Projekt aus zwei Perspektiven. Auf der einen Seite schätze ich die Bedeutung solcher Produktionen sehr, da die Oper und die europäische klassische Musik selten eine andere Blickrichtung einnehmen. Sie erzählen ihre Geschichten in der Regel aus einer patriarchalen und eurozentrischen Sicht. Dieses Projekt hat andere Ansprüche – ein Weg der unbedingt weiter beschritten werden sollte! Auf der anderen Seite fragte ich mich aber auch: Wessen Perspektive wird denn das Stück bestimmen? Wer kann diese Geschichte über den Iran erzählen? Wäre es nicht notwendig, die iranische Gemeinschaft noch stärker in die kreative Erzählung des Stücks zu integrieren? Und damit meine ich in den Schreibprozess und in die kreative Entscheidungsfindung. Der künstlerische Beitrag der Personen, die aus dieser Kultur stammen und die Sprache sowie die sozio-politischen Gegebenheiten des heutigen Iran wirklich verstehen, hätte für mich noch stärker in den Gesamtprozess integriert werden können. Das hätte ein größeres Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Perspektiven geschaffen, die das Stück präsentieren. Andererseits wäre die Einbeziehung von noch mehr Menschen aus der Gemeinschaft in das Produktionsteam eine weitere Möglichkeit gewesen, die Erzählung noch authentischer zu gestalten. Die Einbeziehung von mehr Künstler*innen aus der Community würde diese stärken und in sie hineinwirken. Es gibt viele Künstler*innen in der Diaspora, die daran interessiert wären, an solch einer Produktion mitzuwirken. Abgesehen davon unterstütze ich mit Freude diesen wichtigen Schritt, den das Opernhaus unternommen hat, um sich einer anderen Form musiktheatraler Erzählweise zu öffnen, die es dort nicht gegeben hat. Dabei spielen auch die unglaublich guten Künstler*innen der Freien Szene eine Rolle, wie die drei Musiker Sylvain, Efrén und Misagh und der Komponist Keyvan. Dies ist ein erster Schritt, um endlich anzuerkennen, dass es so viele andere Formen von Musik gibt, die einen Platz in subventionierten Institutionen verdienen.

Was meine Sicht auf die Figur Negar angeht, so war es anfangs sehr emotional, da ich viele Parallelen zu dieser Rolle in meinem wirklichen Leben erkannt habe. Zwischendurch dachte ich, ich schaffe dieses Projekt nicht! Vor allem, weil der Beginn der Proben im September genau mit den Ereignissen zusammenfiel, die zur neuen Revolution führten. Das war für mich fast unerträglich. Auch war für mich der Umgang mit den emotionalen Aspekten der Geschichte und ihrem Verhältnis zu den jüngsten Ereignissen im Iran anfangs noch unklar im Team. Jetzt ist es jedoch schön zu sehen, wie wir alle in die Geschichte und die emotionalen Aspekte hineinwachsen. Ich freue mich, sagen zu können, dass ich mich vom Team unterstützt und geliebt fühle, und hoffe, dass sie dasselbe empfinden.

 

Marie-Eve Signeyrole © CD
 

Nicht nur durch die Auswahl der Künstler*innen, sondern auch durch die Recherche-Arbeit habt Ihr versucht, eine Vielfalt von Perspektiven zu generieren. Wie seid Ihr auf der dokumentarischen Ebene vorgegangen?
Marie-Ève Signeyrole: Wir haben Menschen interviewt zwischen 20 und 35 Jahren, fast alle leben in Teheran. Wir haben also junge Großstädter befragt, weniger Leute vom Land. Wir sprachen mit ihnen über Fragen zur Sexualität, zur Hochzeit und Ehe, zu Macht und Machtverhältnissen, zur Frage nach dem Leben in der „offiziellen“ und „inoffiziellen“ Welt Teherans. Aus diesen Antworten und dem dokumentarischen Material heraus sind die fünf fiktiven Figuren entstanden. Wir wollten zwei Generationen zeigen, aber nicht Eltern und Kinder, sondern Geschwister unterschiedlichen Alters. Durch diese zwei Generationen von jüngeren und älteren Geschwistern entsteht ein Echo für unterschiedliche politische Bewegungen innerhalb der Gesellschaft. Bei allen Gesprächen war die Frage sehr präsent wie offiziell und inoffiziell man spricht: Was darf ich sagen und was nicht? Es geht um bestimmt Wörter. Das spielt auch für die Übersetzung eine wesentliche Rolle: War das inoffiziell oder offiziell? Wie ist das einzuordnen? Der innere Druck der Interviewten war enorm. Gleichzeitig haben alle mit einer unglaublich großen Liebe von ihrem Land gesprochen und von dem Wunsch und auch Druck, etwas ändern zu wollen. Es gab bei allen eine große Kraft zur aktiven Tat: Wir wollen etwas verändern. Wir haben vor Leben strotzende junge Menschen kennengelernt, die für die Sache brennen. 

Sonia Hossein-Pour: Es geht für mich in diesem Stück weniger um den Gegensatz von West und Ost, „Okzident“ und „Orient“, sondern zunächst um die Frage einer unmöglichen Liebe, einer lesbischen Liebe in einem Land, in der sie offiziell verboten ist. Neben dieser Geschichte gibt es tiefer liegende Schichten, die mich sehr interessieren: Die Frage danach, ob man weggehen und etwas verlassen kann, worauf man sein Leben eigentlich gebaut hat. Meine Mutter hat den Iran mit 19 Jahren verlassen. Sie hat sich in Frankreich jedoch nie zu Hause gefühlt. Nirgendwo fühlte sie Heimat. Es ist schrecklich, das eigene Land zu verlassen, im Exil zu sein, auch wenn man damit vielleicht seiner Liebe gefolgt ist. Die Geschichte von Aziz ist autobiographisch gefärbt, Teil meiner eigenen Geschichte. Ich wurde vor 10 Jahren mit meinem Bruder in Teheran verhaftet: Mein Bruder ist Filmemacher, er hatte damals bei Partys die Kamera dabei und gefilmt. Die Kamera wurde konfisziert und wir fürchteten, dass sie das Material sichten würden. Doch wir hatten großes Glück; die Aufnahmen von den verbotenen Dingen – Alkohol, wilde Clubszene – haben sie zufällig nicht gesehen, stattdessen zum Glück nur einen unverfänglichen Ausflug in die Berge. Doch das Gefühl der Angst und der Ohnmacht von damals ist bis heute präsent. 

Welche Rolle spielt die Kamera, das Video in dieser Arbeit?
Marie-Ève Signeyrole: Ich komme eigentlich vom Film, und meine Ausgangsfrage ist daher immer: Wer ist die Kamera? Diese Frage hilft mir beim Schreiben und beim Inszenieren. Erst einmal bin ich die Kamera. Es ist zunächst meine Sicht. Auf der Bühne gibt es die Worte, um Gefühle auszudrücken. Es gibt die Musik, um Emotionen zu zeigen, und es gibt den Blick, die Kamera, die etwas erzählt. Die Kamera zeigt nie, was Worte oder Musik zeigen. In NEGAR ist die Kamera der Blick des Bruders Aziz. Das ganze Stück ist im Prinzip sein Blick auf die beiden Frauen. Die Kamera führt aber auch die Frage fort, was man zeigen darf und was nicht. Die Frage, wer hat die Autorität, wer entscheidet über einen Blick, über eine Perspektive.

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