Vom Troubadour zum Buchillustrator - Deutsche Oper Berlin
Aus dem Programmheft
Vom Troubadour zum Buchillustrator
Mittelalterliche Quellen für „Written on Skin“: Cansos, Vidas, Razos und Liederbücher von Guillem de Cabestaing … Ein Beitrag von Emma Dillon
Die Anregung für ein Opernsujet kann manchmal von unerwarteter Seite kommen. Im Fall von George Benjamins und Martin Crimps Oper WRITTEN ON SKIN aus dem Jahr 2012 brachte es der Auftrag für eine neue Oper für das Festival in Aix-en-Provence für Komponist und Autor mit sich, ein Thema zu suchen, das mit der Provence verbunden ist. Durch Zufall war Crimps Tochter zu dieser Zeit Studentin an der Universität in Cambridge, wo sie mit Bill Burgwinkle zusammenarbeitete, einem führenden Gelehrten für mittelalterliche okzitanische Literatur, worüber sie leichten Zugang hatte zu einem reichen Fundus an farbenfrohen Geschichten über Liebe, Tod, Verrat und blutige Rache im Bereich der Oper wie der mittelalterlichen Lyrik. Dieses Ineinandergreifen eines Interesses für Mittelalterliches und Zeitgenössisches wurde zur Grundlage für eine Oper, die die mittelalterliche Lebenswelt der Troubadoure des zwölften Jahrhunderts als ein „Hier und Jetzt“ (wie Martin Crimp es beschreibt) rekonstruiert und hier aber Vergangenheit nicht etwa durch die Rekonstruktion okzitanischer Melodien wiederbelebt, sondern mit zeitgenössischen musikalischen Mitteln, mit denen George Benjamin diese Welt zum Erklingen bringt.
Als Quelle diente Benjamin und Crimp ein Razo aus dem dreizehnten Jahrhundert und damit eine okzitanische Prosa-Biografie des Troubadours Guillem de Cabestaing (um 1162–1212), der Ende des zwölften Jahrhunderts in der Region Roussillon lebte. Guillem war Verfasser zahlreicher Lieder oder Cansos in der Tradition der fin'amors, und wie bei vielen Troubadouren aus dieser Tradition wurde sein Leben von späteren Schriftstellern zu kurzen Biografien verarbeitet, die als Ergänzung und „Begründung“ für die Geschichten von Liebe und Verlust, die sich in den Liedern selbst entfalten, gelesen und genossen werden sollten. Guillems Leben (und Tod) ist – wie im Mittelalter üblich – berüchtigt für die außerordentlich gewaltsamen Folgen seiner verbotenen Liebe. In dessen Mittelpunkt steht der blutige Verzehr des Herzens des Troubadours, das„cœur mangé“.
Diese Legende wurde im Mittelalter und auch darüber hinaus in zahlreichen Versionen adaptiert und ihre zentralen Momente sind die folgenden: Der Troubadour, ein Ritter in den Diensten von Raimon de Castel Roussillon, verliebt sich in die Frau seines Herrn, Dame Soremonda, für die er Lieder komponiert und singt. Durch Zufall verraten die Lieder diese Affäre und machen sie bekannt. Trotz eines Ablenkungsmanövers von Guillem, wonach das Objekt seiner Liebe in Wahrheit die Schwester der Frau ist, wird die Affäre aufgedeckt. Als Rache ermordet Raimon den Troubadour, schneidet ihm das Herz heraus, würzt, kocht und serviert es seiner Frau. Als diese erfährt, woher das köstliche Mahl stammt, erklärt sie, dass sein süßer Geschmack das letzte sei, was ihr über die Lippen komme, und stürzt sich, verfolgt von ihrem Mann, in den Tod. Die dramatischen Ereignisse von Guillems Biografie finden sich unmittelbar in Crimps Text wieder, allerdings mit entscheidenden Veränderungen.
Während das mittelalterliche Ambiente der Erzählung beibehalten wird, wird der historische Bezug der drei Figuren reduziert und Guillem, Raimon und seine Frau Soremonda werden zum Jungen, dem Protector und der Frau. Deren Dreiecksbeziehung spielt sich mit ihren fatalen Folgen zwar ab wie im Razo, aber bei dem Jungen handelt es sich nicht mehr um einen Sänger und Liedermacher, sondern um einen Manuskript-Illustrator. Wie sein komponierender und singender Vorgänger tritt er in den Dienst seines Herrn, des Protectors, erhält aber nicht den Auftrag, Lieder, sondern ein Buch auf Pergament zu schreiben, in dem von der Herrschaft und den Besitztümern des Protectors berichtet wird. In einer weiteren Wendung von Crimps Szenario kommen Engel hinzu, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin- und herpendeln, Zeugen der Ereignisse sind und dem Publikum von ihren Beobachtungen berichten.
Wie für die Tradition der Troubadoure typisch, gibt es nur wenige unabhängige Belege für die historische Figur des Guillem de Cabestaing, seines Gönners Raimon und dessen Frau Soremonda. Auch gibt es nur wenige unabhängige Belege für die reißerischen Ereignisse, die in den Vidas und Razos geschildert werden. Wenn der „echte“ Guillem in den Archiven des späten zwölften Jahrhunderts des Roussillon kaum mehr als ein Schatten ist, so hat er literarisch, als Troubadour, mit dem Korpus seiner Lieder, eine lebendige Spur hinterlassen, die über Generationen von Sängern und Schreibern sorgfältig weitergegeben wurde und von der sich einiges in einer Reihe von Liedrbüchern oder „Chansonniers“ aus dem dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert erhalten hat. In einigen Fällen wird dabei in diesen Chansonniers die Fiktion einer authentischen Biografie aufgebaut, dass hinter den Liedern ein „echter“ Guillem stehe, indem Kopien der Cansos zusammen mit Prosa-Biografien und illuminierten Autorenporträts kombiniert werden. In diesem Zusammenhang scheinen die blutigen Schilderungen des Razos, in denen Guillem für seine Liebe einen brutalen Tod stirbt, den Liedern, deren zentrales Thema immer die Freude und der Schmerz der Liebe ist, emotionale Glaubwürdigkeit verliehen. Neben den dramatischen Ereignissen aus dem Leben Guillems, wie sie im Razo überliefert werden, ist die emotionale Dichte von Guillems Liedern auch in WRITTEN ON SKIN präsent und prägt die Interaktionen der Figuren, die in der Intensität der von ihnen gesungenen musikalischen Linien und der sie umgebenden Orchestrierung hörbar wird. Und vor allem sollten wir nicht vergessen, dass das Pergament in WRITTEN ON SKIN bei der Verwandlung des Jungen vom Troubadour-Sänger zum Buchmaler eine Hauptrolle spielt. Pergament war auch das entscheidende Medium für die Überlieferung der Troubadoure in ihrer frühen Rezeption und bleibt das wichtigste Medium, durch das wir ihnen heute noch begegnen.
Cansos
In der Überlieferung finden sich insgesamt neun Cansos, die Guillem de Cabestaing zugeschrieben werden, davon zwei mit fragwürdiger Autorschaft. Sie sind in mittelalterlichen, der Troubadour-Lyrik gewidmeten Chansonniers überliefert und, wie bei diesem Repertoire üblich, ist keine mit vollständiger Melodie erhalten. Obwohl Guillems Textkorpus im Vergleich zu dem einiger „Star“-Troubadoure bescheiden ist – man vergleiche die etwa fünfundvierzig erhaltenen Texte, die Bernart de Ventadorn zugeschrieben werden –, ist er doch typisch für diese gesamte Tradition. In Form und Inhalt wiederholen die Texte viele der zentralen Werte und Praktiken, die sie seit ihren Anfängen in den ersten Jahrzehnten des zwölften Jahrhunderts prägten: Die Sammlung befasst sich mit der Dynamik der Liebe, den fin'amors, und untersucht sorgfältig die schmerzhaften Machtverhältnisse zwischen dem Troubadour und seiner Dame. Guillems Lieder würdigen aber gelegentlich auch die Rolle des Mäzens, eines wichtigen Akteurs für die Dynamik der okzitanischen Liedproduktion. Dies waren die Personen, die die Produktion und Aufführung von Liedern unterstützten und deren Ansehen wiederum durch ihre Nennung in den Liedern gefördert wurde. Drei der Cansos von Guillem schließen mit der Nennung von „Raimon“ (in Anlehnung an Guillems Gönner Raimon de Castel Roussillon) als Zielpublikum.
Die beiden hier beschriebenen Cansos bieten einen Ausschnitt aus Guillems Schaffen und sind repräsentativ für die Tradition, der er angehörte. Sie sind besonders geeignete lyrische Gegenstücke zu WRITTEN ON SKIN, da beide im Szenario der Oper eine Phantompräsenz haben. Die Anfangszeilen des ersten Beispiels „Aissi cum selh que baissa.l fuelh“ wurden von Martin Crimp überarbeitet, um Teil eines „geheimen Blattes“ zu werden – ein beschriebenes Pergamentblatt –, das der Knabe auf Geheiß von Agnès für den Protector vorbereitet hat und das in Teil III, Szene 12 laut rezitiert wird. Es besteht aus sechs achtzeiligen Strophen, die jeweils nach einem gemeinsamen Reimschema (den sogenannten coblas unissonans) gegliedert sind. Außerdem wird ein metrisches Schema verwendet, das auch in vielen anderen Liedern des Repertoires zum Einsatz kommt.
In formaler Hinsicht zeigt es Guillems klare Zugehörigkeit und Vertrautheit mit der vorangegangenen Tradition, ebenso wie seine sorgfältige Modulation der Liebe des Troubadours und seines schmerzlichen Leidens an der Distanz der Dame zu ihm – klassische Themen des Cansos der Troubadoure.
Der zweite Text „Lo dous cossire“ wird in Versionen des biografischen Prosa-Razos zitiert, in dem die traumatische Liebesbeziehung Guillems beschrieben wird, der Hauptquelle, aus der Crimp und Benjamin das Szenario für ihre Oper entwickelt haben. Seine Versifikation ist in der Tradition eher selten, wenn auch keineswegs eine radikale Abweichung von den Konventionen: Sie besteht aus sechs fünfzehnzeiligen Strophen, gefolgt von einer Tornada (zwei kürzeren zusammenfassenden Passagen), die Guillems Gönner Raimon de Castel Roussillon nennt.
In diesem Fall wechselt das Reimschema alle zwei Strophen (ein Schema, das als coblas doblas bekannt ist). Die Dame ist erneut Gegenstand des Liedes, zunächst als Objekt der Verehrung, im weiteren Verlauf des Liedes jedoch zunehmend als Quelle quälenden Leids.
Im weitesten Sinne verkörpern diese Cansos also in lyrischer Miniatur die intensive emotionale Landschaft, in der sich die Figuren von WRITTEN ON SKIN bewegen, sowie die verschwommenen Grenzen zwischen Begehren und oft gewalttätigem Leiden, die die wichtigsten erotischen Beziehungen in der Oper bestimmen. Auf Mikroebene schafft die Phantompräsenz der beiden Cansos, die durch Zitate und Assoziationen mit dem Razo in den Operntext einfließen, enge Parallelen zwischen der Troubadour-Dame-Patron-Konfiguration in Guillems Cansos und dem Liebesdreieck Junge-Agnès-Protector in Crimps Bearbeitung.
Vidas und Razos über Guillem de Cabestaing
Vidas und Razos sind kurze Prosaberichte über das Leben der Troubadoure. Wie die Chansonniers sind sie mehrere Jahrzehnte nach der Entstehung der Lieder aufgeschrieben worden und tauchen erstmals in Quellen aus der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts auf, obwohl sie in mündlich überlieferter Form wahrscheinlich schon in den 1220er Jahren existierten. Sie sind eine wichtige Gattung der Prosabiografie, die die Texte der Troubadoure durch Informationen über deren Leben und die Entstehungsumstände ihrer Lieder ergänzen soll, auch wenn der Wahrheitsgehalt der historischen Belege oft fraglich ist. Die Vidas enthalten in der Regel biografische Informationen, die in einer vorhersehbaren Reihenfolge und Form präsentiert werden. Die Razos haben ebenfalls einen biografischen Schwerpunkt, aber im Gegensatz zu den Vidas besteht der Hauptzweck eines Razos darin, einen Kommentar, quasi die „Begründung“ für ein bestimmtes Lied zu liefern, das häufig teilweise oder vollständig in der Erzählung zitiert wird.
Für Guillem sind sowohl Vidas als auch Razos überliefert, und zwar in mehreren Versionen. Ich biete hier eine vollständige Fassung der kurzen Version seiner vida (wie sie in den frühesten Chansonniers erscheint) und Auszüge aus zwei Versionen des Razo, die beide Guillems berühmtestes Lied „Lo dous cossire“ wiedergeben. Die Entstehung und Aufführung von „Lo dous cossire“ ist in beiden Fällen der Auslöser für die gewaltsame Ermordung von Guillem durch Raimon de Castel Roussillon, die in WRITTEN ON SKIN durch den Mord des Protectors am Jungen dargestellt wird.
Razo – kürzere Version
Guillem de Cabestaing war ein Ritter aus der Region Roussillon, die an Katalonien und das Narbonnais grenzt. Er war ein sehr charmanter Mann, der sich an den Waffen wie durch seine Galanterie und Höflichkeit auszeichnete. Und es gab in seiner Gegend eine Dame namens Dame Soremonda, die Frau des Herrn Raimon de Castel Roussillon, der sehr reich und edel, aber auch böse und wild, grausam und hochmütig war. Und Guillem de Cabestaing liebte die Dame aufrichtig und sang über sie und komponierte seine Lieder über sie. Und die Dame, die jung und edel und schön und charmant war, liebte ihn mehr als alles andere auf der Welt.
Und dies wurde dem Herrn Raimon von Castel Roussillon erzählt. Und als ein zorniger und eifersüchtiger Mann untersuchte er die Sache und erfuhr, dass sie wahr war. Und er ordnete an, dass seine Frau sorgfältig überwacht werden solle. Und so geschah es, dass Raimon de Castel Roussillon eines Tages Guillem ohne größere Begleitung vorbeikommen sah und ihn tötete. Und er nahm das Herz aus seinem Körper und ließ es zu einem Knappen in sein Haus bringen, der es kochen und pfeffern ließ und es seiner Frau zu essen gab.
Und als die Dame das Herz von Herrn Guillem de Cabestaing gegessen hatte, sagte Lord Raimon ihr, was es gewesen war. Und als sie es hörte, verlor sie ihr Augenlicht und ihr Gehör. Und als sie wieder zu sich kam, sagte sie: „Herr, du hast mir etwas so Gutes zu essen gegeben, dass ich nie wieder essen werde.“ Und als er hörte, was sie sagte, lief er mit seinem Schwert und wollte sie auf den Kopf schlagen. Sie aber lief auf den Balkon und stürzte sich hinunter.
Razo – längere Version (Auszug)
Die ganze Nacht hindurch war die Dame darüber sehr betrübt, und am nächsten Tag schickte sie nach G., empfing ihn schlecht und nannte ihn einen Lügner und Verräter. G. bat sie um Gnade, wie ein Unschuldiger, und erzählte ihr alles, was geschehen war, Wort für Wort. Die Frau rief ihre Schwester herbei und erfuhr durch sie, dass G. unschuldig war. Aufgrund all dessen sagte die Dame zu ihm und befahl ihm, ein Lied zu komponieren, in dem er zeigen würde, dass er keine andere Dame als sie liebe. Und so komponierte er dieses Lied, in dem es heißt:
Lo dous cossire Pessan remire E si tot me desley Dompn’ en cuy beutatz gensa, |
Der süße Gedanke Ich blicke auf deinen edlen, Auch wenn ich umherwandere, Herrin, in der die Schönheit zur Vollkommenheit gebracht wird, ich vergesse mich oft selbst, |
Und als R. de Roussillon das Lied hörte, das G. über seine Frau gedichtet hatte, lud er ihn zu einer Unterredung vor das Schloss, schlug ihm den Kopf ab und steckte ihn in einen Jagdsack, schnitt ihm das Herz aus dem Leib und steckte es in den Sack mit dem Kopf.