„Hat man je so einen Feind bedacht?“ – oder Hammer versus Kreide - Deutsche Oper Berlin

Wagner inszenieren heute

„Hat man je so einen Feind bedacht?“ – oder Hammer versus Kreide

Ein Essay von Sergio Morabito

Weitgehend dasselbe übrigens, etwas wahrnehmen und etwas Beunruhigendes wahrnehmen! Der Wahrnehmung des Nichtbeunruhigenden antwortet augenblickliches Vergessen. Es wird eigentlich überhaupt nicht wahrgenommen; was mit anderen Worten besagt, dass es eine innige Beziehung zwischen Wahrnehmung und Schmerz gibt. (Albrecht Fabri, Variationen, Wiesbaden 1959, S. 59)

Im 1937 erschienenen 2. Band von The Life of Richard Wagner hat Ernest Newman die 1930 von Otto Strobel edierten Skizzen und Entwürfe zur Ring-Dichtung ausgewertet und anhand ihrer eine Reihe dramaturgischer Widersprüche und Aporien Wagners herausgearbeitet. Interessant bleibt die Lektüre des 17. Kapitels Difficulties in the rounding of the ›Ring‹ aus Newmans Standardwerk, weil sie verdeutlicht und bestätigt, was keinem genaueren Studium der Wagnerschen Dramen entgeht: ein angeblich lückenlos durchrationalisierter Motivationszusammenhang bei permanent unterlaufenden, kleineren und größeren „Anschlussfehlern“. Die dramaturgischen Motivationen sind bei Wagner überdeterminiert und brüchig zugleich: „[…] wie denn überhaupt Wagner Theatraliker eher als Dramatiker war. […] Fürs Drama scheint er zu ideologisch: er vermag es nicht, den Geist hinter die Sache zurücktreten, einzig aus dieser sprechen zu lassen, sondern fühlt sich als Künstler stets zugleich in der Rolle des Apologeten, der es selber sagen muss.“ (Theodor W. Adorno, Versuch über Wagner, in: Die musikalischen Monographien, Frankfurt 1986, S. 57)

Zum Abschluss unserer kleinen Sequenz über Wagner inszenieren heute sei auch hier dem Arbeitsprozess Wagners eine Stichprobe entnommen, und zwar aus dem ersten Prosaentwurf zu den Meistersingern. (Im Folgenden zitiert nach: Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg, hrsg. v. Michael von Soden, Frankfurt 1983, S. 154 f.) Dieser entstand 1845 in Marienbad und skizziert bereits mit erstaunlicher Verbindlichkeit die äußeren Konturen der Handlung des 30 Jahre später vollendeten Werks. An einer einzigen Stelle verzweigt sich der Entwurf in zwei alternative Verläufe, und zwar im Anschluss an das Erscheinen Beckmessers in der Schusterstube im 1. Bild des 3. Aktes. Es geht um jene Auseinandersetzung zwischen Sachs und Beckmesser, die nach wechselseitigen Vorwürfen und Rechtfertigungen zum euphorischen Abzug des in der zurückliegenden Johannisnacht schwer lädierten Merkers führt, der mit dem neuen, ihm von Sachs zur Verfügung gestellten Wettbewerbsbeitrag doch noch zu reüssieren hofft. Wagner zeigt sich an dieser Stelle des Entwurfs noch unschlüssig, wie genau die Vorgänge zu erzählen sind.

Beide Varianten sind durch die Bezifferung [1] und [2] voneinander abgehoben. Sie werden eingeleitet durch den „schüchternen Eintritt“ des Merkers: „Er ist in großer Not, da er die Überzeugung gewonnen hat, dass er diese Nacht vor seiner Erwählten durchgefallen sei. Er möchte sich des Sachs versichern, weil er seinen großen Einfluss aufs Volk kennt.“

Bei der zunächst skizzierten Variante [1], „erblickt der Merker das [von Stolzing improvisierte und von Sachs notierte] Lied auf dem Arbeitstische“, „liest es“ und „findet es für sich passend“. Er entwendet das Lied nicht vorsätzlich, sondern „steckt es“ – vom eintretenden Sachs überrascht – „unbewusst schnell in die Brust“. Als ihm der Diebstahl bewusst wird, zwingt ihn sein Gewissen, die Fehlleistung zu bekennen, wobei sich diese Gewissensgründe mit der Erwägung mischen, sich des Liedes „ohne Sachs’ Übereinstimmung“ realistischerweise nicht bedienen zu können. Dann erhält er es von Sachs zum Geschenk, der Beckmesser allerdings darin täuscht, dass er „sich stellt, er wisse gar nicht, wem das Lied gehöre“ und sich stattdessen in Andeutungen ergeht, in denen er die Wahrheit allenfalls noch durchblicken lässt: „vielleicht dem jungen Manne“ [= Stolzing], „der schon längst über alle Berge“ sei (wobei letzteres wiederum gelogen ist). In dieser Variante [1] halten sich die Unredlichkeit Beckmessers (das unbewusste Einstecken des Manuskripts, für das er sich dennoch schuldig fühlt) und die Unredlichkeit Sachsens (die irreführenden Angaben zur Provenienz des Liedes) einigermaßen die Waage.

Die folgende Variante [2] beginnt hingegen gleich mit dem Wiedereintritt des festlich gewandeten Sachs; „Sachs macht ihn [Beckmesser] immer zutraulicher“, dann „bietet [er] ihm endlich ein Lied an, was er selbst in seinen jungen Jahren gefertigt habe, und das niemand kenne“. Sachs „überwindet alle Bedenklichkeiten“ Beckmessers und „unterweist ihn (boshaft) – wegen des Vortrages.“ In dieser Variante [2] sind die moralischen Gewichte deutlich zuungunsten Sachsens verschoben: Nicht reagiert Sachs auf die übergriffige Aneignung des Liedes durch Beckmesser, sondern als vorgeblicher Helfer in der Not „bietet [er] ihm endlich ein Lied an“, ja, er drängt es ihm geradezu auf. Beckmessers Prüfungsangst – er hält sich für „durchgefallen“ –, seine „große Not“ – an der Sachs nicht unschuldig ist: „Er habe ihm sein Lied verdorben“ – wird ausgenutzt, um den Verblendeten erst recht in die Falle tappen zu lassen.

Aus den Proben zu DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG © Thomas Aurin
 

Die endgültige Redaktion hat beide Varianten miteinander verbunden und dabei die Beckmesser belastenden Momente potenziert: Beckmesser entwendet das Lied, es wird ihm nicht von Sachs aufgedrängt; Beckmesser kann daher von Sachs wiederholt als „Dieb“ bezeichnet werden. Sachs macht keine falschen Angaben über die Provenienz des Liedes. Nicht das Gewissen, sondern der Zorn ist es, der Beckmesser veranlasst, ob der hartnäckigen Leugnung Sachsens einer Bewerbungsabsicht das eingesteckte Lied hervorzuziehen („Wenn ich aber d’rob ein Zeugnis hätte?“), nicht um sich zu entschulden, sondern um Sachs der Unwahrheit zu überführen. Beckmesser erhält indirekte Warnungen durch Sachs, die er in eitler Selbstgewissheit und Selbstüberschätzung überhört.

In der Endredaktion hat Wagner alles so gedreht, dass Sachs als lediglich Reagierender erscheinen kann. Die dramaturgische Präsentation legt nahe, dass uns Beckmessers Täuschungsabsicht, sich um die Hand der Braut mit einem nicht von ihm verfassten Lied zu bewerben, als Freibrief für einen Vergeltungsschlag betrachtet werden darf. Dabei soll sich Sachs ebenso geschickt taktierender wie souverän-mahnender Gestus einmal mehr unserer Sympathie versichern. Aber Wagner kann nicht völlig darüber hinwegtäuschen, dass seine und Sachsens Intrige auf dieses Fehlverhalten Beckmessers angewiesen ist, um ihr eigentliches Ziel zu erreichen, nämlich die nachträgliche Zulassung des zuvor (Ende des 1. Aktes) disqualifizierten Sangeskandidaten Stolzing zum finalen Preissingen. „Dass hier Herr Beckmesser ward zum Dieb, ist mir für meinen Plan gar lieb“, plaudert Sachs denn auch eins zu freimütig aus. Zu gelegen kommt Beckmessers Diebstahl, als dass wir Sachs die Rolle des moralischen Korrektivs noch abnehmen könnten. Mit dem Satz „und dass man von euch auch nichts Übles denk’, behaltet das Blatt, es sei euch geschenkt“ erlöst Sachs weniger Beckmesser aus einer moralischen Schieflage, als dass er sich zu deren Nutznießer macht. Als „betrogener Betrüger“ darf sich der Merker nach dem Scheitern seiner Täuschungsabsicht nicht mehr beschweren (er tut es dann trotzdem: „Das Lied, es ist gar nicht von mir“, Sachs „hat sein schlechtes Lied mir aufgehängt.“  – ein weiterer Beleg seiner Inkonsistenz, aber auch unerlässlich, damit das erstaunte Auditorium Sachs um Aufklärung bitten kann, was diesem die Möglichkeit gibt, Stolzing noch einmal Gehör zu verschaffen). Freilich setzte das dem Komödienarsenal entstammende Stratagem des „betrogenen Betrügers“ voraus, dass der Betrüger eine wie auch immer geartete tatsächliche Übermacht und Bedrohung darstellt. Dies ist in keinem Moment der gesamten Meistersinger-Handlung der Fall: Von Anfang an wissen wir, dass die von ihrem Vater ausgelobte Braut über eine salvatorische Klausel verfügt, die die tatsächliche Eheschließung mit einem ihr nicht genehmen Sieger des Preissingens verhindern kann. Beckmessers Avancen sind von Anfang das Produkt eines mit zerbrechlicher Zutraulichkeit und Offenherzigkeit ausgeplauderten, ungedeckten Wunschdenkens. Die Drohkulisse durch Beckmesser ist ein fadenscheiniges dramaturgisches Phantom – für das der Merker freilich in seiner Leiblichkeit büßen muss. Angesichts der in der Johannisnacht erfolgten psychischen und physischen Degradierung und Dissoziierung des Stadtschreibers wird dieser in der sadistischen Demontage des 3. Aktes endgültig zur Strecke gebracht.

In unserer jüngsten Wagner-Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin (Premiere war am 12. Juni 2022) haben wir das Geschehen der Meistersinger in Dr. Pogner’s Privat-Konservatorium verortet. Pogner möchte das von ihm gegründete und geleitete Institut der öffentlichen Hand übergeben. Sein Nachfolger soll am bevorstehenden Sankt-Johannistag durch eine öffentliche Gesangsprüfung ermittelt werden. Letzte Bedingung des scheidenden Patriarchen: Sein Nachfolger muss in die Ehe mit seiner Tochter Eva einwilligen, über die er die Geschicke des Instituts auch nach seinem Rückzug weiter mitzugestalten gedenkt. Dass Eva ein heimliches Verhältnis mit dem an seinem Institut angestellten Musik-Dozenten und -therapeuten Hans Sachs pflegt, weiß er nicht. Als Leiter der Schlagzeugklasse mit „U-musikalischer“-Vergangenheit wird Sachs im Hochschulkollegenkreis eher geduldet als respektiert. Ein gewisses Ansehen hat ihm freilich seine podologische Expertise zu verschaffen gewusst (am Ende der Oper wird sich sogar das von ihm propagierte Gesundheitsschuhmodell als Mehrheitsfähig erweisen).

Sachs ist eine janusköpfige Erscheinung, deren Drängen auf Demokratisierung der Hochschulhierarchie von populistischen Zügen nicht frei ist. Ein heutiger Leser kann kaum umhin, sich an verwandte Gestalten etwa aus Michel Houellebecqs Roman Unterwerfung erinnert zu fühlen. Im Roman ist das „Umkippen“ einer Bildungseinrichtung geschildert, in deren sich neu findenden Führungskadern Islamisten und Identitäre zu beiderseitigem Nutzen kollaborieren – und Etwas recht Ähnliches erzählen die Meistersinger in Berlin. Die Fantasien des Romanerzählers über das Privileg der Frauen im Islam, immer Kinder bleiben zu dürfen (Michel Houellebecq, Unterwerfung. Köln 2015, S. 201), ist paternalistischen Sentenzen Sachsens vom Schlage „der Frauen Sinn, gar unbelehrt, dünkt mich dem Sinn des Volks gleich wert“ nicht unverwandt.

Beckmesser ist in Berlin bereits bei seinem ersten Erscheinen im 1. Akt ein Beschädigter und Gezeichneter: Die orthopädische Beratung durch den Kollegen scheint bei ihm eher zur Verschlimmerung eines offenbar chronischen Fußleidens zu führen. Nach der nächtlichen Eskalation, bei der der eifersüchtige David ihn sehr bewusst an seiner verletzlichsten Stelle schachmattsetzt, muss Beckmesser sich im 3. Akt auf Krücken auf die Bühne schleppen. Sachs empfängt den Patienten hingebungsvoll therapeutisch, sucht Verspannungen zu lösen, pflegt den geschundenen Körper, verwöhnt die wunden Extremitäten durch seine legendäre Fußzonenreflexmassage. Die psychosomatische Dynamik der Szene macht es möglich, dass Beckmesser sich nach seiner grotesk-schmerzhaften Auftritts-Pantomime ein neues Paar Gesundheitsschuhen anpassen lässt, um – im scheinbaren Vollbesitz seiner widererlangten motorischen Kräfte – erhobenen Hauptes und unbeschwerten Ganges die Therapiesitzung in Richtung Festwiese wieder zu verlassen.

Unsere Inszenierung versucht unter der Erarbeitung einer beinahe slapstickhaften Zuspitzung der oben dargestellten dramaturgischen Tiefendimension der Szene gerecht zu werden: Sachs agiert in dieser Szene wie ein Arzt, der Menschenversuche durchführt, und das ihm ausgelieferte Opfer nur deshalb wieder zusammenflickt, um es nach erfolgreicher „Reha“ desto gründlicher und gnadenloser schreddern zu können. Ohne sie zu illustrieren, ohne sie dem Zuschauer aufzudrängen, vermag das szenische Dispositiv Assoziationen an solch diabolische Praktiken zu erwecken.

Die Meistersinger von Nürnberg © Thomas Aurin
 

Nur eine Regie, die eine vergleichbar kritische wie produktive Distanz zu halten und fruchtbar zu machen versteht, kann hoffen, der Zumutung Wagners gewachsen zu sein. Ratschläge vom Schlage, man müsse Wagner nur einmal so inszenieren, wie er das in seinen Regieanweisungen vorgegeben habe, erst das dürfe heute als wahrhaft nonkonformistisch gelten, helfen gewiss nicht weiter; sie reproduzierten die Aporie des Gesamtkunstwerks: „Gerade indem die Opern [Wagners] durch „Weihe“ aus der Spannung herausgelöst werden und sich als wiederholbare Kulthandlungen gebärden, überantworten sie sich der reinen Immanenz ihres Ablaufs und merzen aus, was anders wäre, die Freiheit.“ (Adorno, Versuch über Wagner, S. 119) Freiheit lässt sich in der – immer wieder gern und ungeniert geforderten – Unterwerfung unter den Autorenwillen nicht gewinnen, sondern nur im reflektierten Umgang mit diesem. Abschließend sei noch einmal auf Adornos Versuch Bezug genommen. Im 7. Kapitel Musikdrama durchleuchtet er das Phantom des Gesamtkunstwerks. Adorno weist nach, dass die individualistische Vereinzelung des Künstlers im Hochkapitalismus jede prätendierte kollektive Verbindlichkeit zur Illusion macht. „Zu einem verbindlichen, von falscher Identität gereinigten Gesamtkunstwerk gehörte“, so Adorno, „ein planendes Kollektiv von Spezialisten. Schönberg […] hat einmal die Utopie von „Komponierateliers“ sich ausgedacht, in denen der eine die Arbeit genau dort aufnimmt, wo der andere sie aufgeben muss. Kollektivarbeit ist aber bei Wagner nicht bloß durch die Zeitsituation um die Mitte des 19. Jahrhunderts ausgeschlossen […], sondern durch […] die Metphysik von Drang, Rausch und Erlösung. Sie verwehrt jene Organisation des Gesamtkunstwerks, die einzig als kollektive vorgestellt werden könnte: die antithetische.“ (Adorno, Versuch über Wagner, S. 106f.)

Als These möchte ich in den Raum stellen, dass ein „Regieatelier“, wie es etwa von Anna Viebrock, Jossi Wieler und mir seit Jahrzehnten betrieben wird, dem im Anschluss an Schönberg entworfenen Desiderat Adornos verblüffend nahekommen könnte. Unsere Wagner-Aufführungen sind nichts anderes als der Versuch, „aus den Widersprüchen der einander entfremdeten Künste ihre Einheit zu konstruieren“. Bühne und Szene können heute nicht anders, als sich antithetisch verhalten, um dem Wagnerschen „Gesamtkunstwerk“ eine Verbindlichkeit jenseits der kompromittierten Metaphysik ihres Autors und vor allem: jenseits der falschen Identität von Szene und Musik zuwachsen zu lassen.

 

In „Opernring Zwei“ (Nov., Dez. 2023) skizziert Sergio Morabito ästhetischen Erfahrungen im Umgang mit drei Werken Wagners, die er an der Seite von Jossi Wieler und Anna Viebrock inszenierte ... Lesen Sie hier den 3. Teil, der sich mit der Inszenierung von DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG an der Deutschen Oper Berlin (Premiere am 12. Juni 2022) beschäftigt.

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