Was mich bewegt

Wagners Lichtgestalten

Rette uns, wer kann! Wagners Opern erzählen von der Suche nach Erlösung. Jörg Königsdorf, Chefdramaturg der Deutschen Oper Berlin, über ein zentrales Motiv im Werk des Komponisten

Vielleicht hätte es Richard Wagner so machen sollen wie sein Schwiegervater Franz Liszt. Der empfing nach einem wilden Leben als angehimmelter Superstar im Alter von 54 Jahren in Rom die niederen Weihen und genoss ein friedvolles Leben als Abbé mutmaßlich ohne größere Gewissensqualen, komponierte fortan statt virtuoser Paraphrasen spirituelle Musik und sogar ein Oratorium über das Leben Christi.

Hätte Wagner auch diesen Lebensweg gewählt und sich in die Arme der alleinseligmachenden Kirche begeben, dürfte sein Schaffen allerdings einen anderen Weg genommen haben: Statt des RING hätten wir heute vermutlich eine Tetralogie über das Leben Jesu. Undenkbar ist das nicht: Wagners katholische Neigung zum prachtvollen Zeremoniell fand im PARSIFAL einen bemerkenswerten Niederschlag, auch ein Christus-Projekt dachte der Meister in seinen letzten Tagen an. Doch mit der Absolution wäre das zentrale Motiv fortgefallen, das alle Opern Wagners durchzieht und ohne das sie kaum denkbar sind: die verzweifelte Suche nach Erlösung. Vom Fliegenden Holländer bis zu Parsifal treibt sie all seine Heldinnen und Helden an; ohne Zögern wird sogar das eigene Leben geopfert.

Erlöst wird bei Wagner immer. Mal erlöst die Frau den Mann (TANNHÄUSER, DER FLIEGENDE HOLLÄNDER), mal der Mann die Frau (PARSIFAL), mal erlöst der Tod so ziemlich alle (TRISTAN), und natürlich bedarf auch die Welt als Ganzes der Erlösung (DER RING DES NIBELUNGEN). Und nicht von ungefähr lautet die letzte von Wagner vertonte Zeile, der Schlusschor im PARFISAL: »Erlösung dem Erlöser«.

Die Gralsritter hoffen auf Erlösung durch Jesu Blut: Szene aus Philipp Stölzls PARSIFAL-Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin © Bettina Stöß
 

Wo Erlösung so nottut, müssen Leid und Schuld schier übermächtig sein – tatsächlich offenbaren gerade die vergleichsweise harmlosen Fauxpas, aufgrund derer Figuren wie der Holländer (eine vorlaute Äußerung) oder Kundry (ein Laschet-Lacher in unpassender Situation) ihr Leben durch Selbstanklage ruinieren, dass die wahren Gründe für das Leiden an sich selbst und der Welt offenbar viel tiefer liegen. Vielmehr legt Wagner hier den wunden Punkt offen, der die Gesellschaft seit dem Verlust des Urvertrauens in die christliche Religion umtreibt: Wenn, wie Friedrich Nietzsche bald darauf verkünden sollte, Gott tot ist, fällt die Verantwortung für den Zustand der Welt (und unsere eigene Verfasstheit) auf uns selbst zurück. Und diese Verantwortung wiegt heute mindestens so schwer wie vor 150 Jahren – die Ausbeutung der Umwelt und die Unterdrückung ganzer Völker und sozialer Klassen haben seither weltgefährdende Ausmaße angenommen. Und da das Vertrauen in die Beichte als reinigendes Ritual im Niedergang ist, stehen wir vollkommen alleine da.

Gestalten, die an der Welt verzweifeln, wie etwa der Holländer, gibt es heute kaum weniger als zu Wagners Zeit. Und die kollektive Fünf-vor-zwölf-Stimmung, die das brabantische Volk im LOHENGRIN ebenso beseelt wie die Gralsritter im dritten Aufzug des PARSIFAL, ist so aktuell wie das Verlangen danach, sämtliche Fehlentwicklungen unserer Gesellschaft einfach durch einen »Reset« zurückzustellen. So, wie der Rhein am Ende der GÖTTERDÄMMERUNG über die Ufer tritt und die geschändete Natur wieder in ihr Recht setzt.

Insofern sind Wagners Werke Analyse und Destillat der Entwicklungen des 19. Jahrhunderts. Mehr noch: Sie waren und sind Prophezeiungen, die auch im 20. und 21. Jahrhundert nichts an Relevanz verloren haben – mit nach wie vor offenem Ende.

Nichts bestätigt ihre Aktualität so deutlich wie die Tatsache, dass sich jede Wagner-Oper problemlos auf die jeweils aktuell drängendsten gesellschaftlichen Probleme anwenden lässt. Für den RING in seiner parabelhaften Erzählung heißt dies, dass das Gold mühelos als Kapital, Atomkraft, Genom oder, wie in Stefan Herheims Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin, als die identitätsstiftende Kraft des Spiels an sich gedeutet werden kann. Doch auch an Erlöserfiguren wie Lohengrin und Parsifal können sich – je nach zeitgeschichtlichem Umfeld – Vorstellungen festmachen, wie diese Ideale verkörpert werden und welcher Preis dafür zu zahlen ist. Und vermutlich wird es nicht lange dauern, bis die Ausschweifungen Tannhäusers im Venusberg als Backstage- Orgie eines Rammstein-Konzerts auf die Bühne kommen. Warten wir’s ab.

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04
DEZ

Adventskalender im Foyer: Das 4. Fensterchen

African American Spirituals
mit Christian Simmons und John Parr
17.00 Uhr / Rang-Foyer rechts
Dauer: ca. 25 Minuten / Eintritt frei

In Deutschland ist bis heute wenig präsent, dass parallel zur Entwicklung des europäischen Lieds das Spiritual in den USA auf eine Tradition blickt, die bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht. Während der Unterdrückung durch die Sklaverei als Arbeits-, Freiheits-, Spiel-, Klage-, Feier- oder Wiegenlieder entstanden, bilden afro-amerikanische Spirituals den Ausgangspunkt für Gospel, Blues und letztlich auch für Jazz, R&B und die afro-amerikanische Musik im Allgemeinen. Charakteristisch für Spirituals sind ihre rhythmischen Finessen, die Gegen-Rhythmen, Polyrhythmik und Synkopen beinhalten. Die Klanglichkeit wird bestimmt von Mikrotonalität, pentatonischen Skalen und vielfältiger Verwendung der Singstimme. All diese Elemente lassen darauf schließen, dass sich Einflüsse afrikanischer Musik, wie sie von Sklaven nach Amerika gebracht wurde, über Jahrhunderte hinweg, meist ausschließlich mündlich überliefert, bis heute erhalten haben.

Der aus Washington D. C. stammende Bassbariton Christian Simmons war in der Spielzeit 2022/23 Mitglied der Cafritz Young Artists of the Washington National Opera und wechselte mit der Saison 2023/24 als Stipendiat der Opera Foundation New York ins Ensemble der Deutschen Oper Berlin. Hier wird er im Laufe der Saison in Partien wie Lord Rochefort / ANNA BOLENA, 2. Geharnischter / DIE ZAUBERFLÖTE, Pinellino / GIANNI SCHICCHI, Brabantischer Edler / LOHENGRIN, Oberpriester des Baal / NABUCCO oder Sciarrone / TOSCA zu erleben sein. Simmons ist Distriktsieger des Eric- und Dominique-Laffont-Wettbewerbs der Metropolitan Opera 2022/23, Gewinner des Gesangswettbewerbs des Harlem Opera Theater 2017 und Gewinner des regionalen Wettbewerbs der National Association of Teaching Singing (NATS) 2016. Außerdem ist er Ehrenmitglied auf Lebenszeit in der Coalition for African Americans in the Performing Arts (CAAPA). Als Absolvent der Morgan State University und des Maryland Opera Studio ist Simmons Mitglied der ersten und größten Musikverbindung des Landes, Phi Mu Alpha Sinfonia Fraternity of America.

John Parr wurde 1955 in Birmingham geboren und studierte an der Manchester University und am Royal Northern College of Music bei Sulamita Aronovsky. Er gewann Preise als Solo-Pianist bei internationalen Wettbewerben in Barcelona und Vercelli und war Mitglied von Yehudi Menuhins „Live Music Now“. 1985 bis 1988 gastierte er als Repetitor am Royal Opera House Covent Garden und arbeitete von 1989 bis 1991 für die Scottish Opera in Glasgow. 1991 kam er nach Deutschland und war Studienleiter und musikalischer Assistent des Generalmusikdirektors in Hannover. Im Jahr 2000 holten ihn Pamela Rosenberg und Donald Runnicles als „Head of Music Staff“ an die San Francisco Opera. Von 2002 bis 2005 war er musikalischer Assistent bei den Bayreuther Festspielen. Von 2011 bis 2014 war er am Staatstheater Karlsruhe in der Funktion eines Casting-Direktors und Assistenten des Generalmusikdirektors. Seit August 2014 ist John Parr an der Deutschen Oper Berlin tätig, zunächst als Studienleiter, seit 2018 als Headcoach.