Wand’rer und andere Flüchtige - Deutsche Oper Berlin
Wand’rer und andere Flüchtige
Wir ewig Suchenden! Der RING erzählt die unendliche Geschichte vom Werden und Vergehen unserer Ideen und Weltbilder. Die Botschaft ist so aktuell wie vor 150 Jahren: Das Spiel mag zu Ende sein – aber aus ist es nie
Seit jeher symbolisiert ein Ring Unendlichkeit: In seiner Kreisform verschmelzen Anfang und Ende miteinander. So ist es auch in Wagners Tetralogie, wo der Ring erst nach dem Liebesfluch des Nibelungen aus dem geraubten Rheingold geschmiedet werden kann. Er symbolisiert das dunkle Verlangen nach Macht und wird doch bis zum erlösenden Untergang ebenso als höchstes Zeichen hellster Liebe aktiviert.
Anfang und Ende finden sich im Rhein, so wie Feuer und Wasser sich nicht erst am Ende der GÖTTERDÄMMERUNG vereinen, sondern bereits sprachbildlich in der ersten Szene des Vorabends, wenn die Rheintöchter die gegensätzlichen Elemente verbindend versprechen: »Wonnige Spiele spenden wir dir: flimmert der Fluss, flammet die Flut«.
Nachdem der Rhein über seine Ufer getreten ist, malen die finalen Sätze der Regie-Anweisung in GÖTTERDÄMMERUNG ein brennendes Bild: »Helle Flammen scheinen in dem Saal der Götter aufzuschlagen. Als die Götter von den Flammen gänzlich verhüllt sind, fällt der Vorhang.« Auch wenn die Flammen nur im Göttersaal aufzuschlagen »scheinen«, werden die Götter vom Feuer verhüllt. Die samtene Bühnenblende fällt also über einer Szene, die dem »Schein« im buchstäblichen und übertragenen Sinne ein Ende bereitet. Es sind vor allem unsere Vorstellungen von den Göttern, die nach 15 Spiel-Stunden theatral untergehen.
Und so offenbart das Werk musikalisch in seinen letzten Takten die Hoffnung auf eine entpersonalisierte Liebe, jenseits aller Eindeutigkeit, nachdem wir zuvor das Scheitern aller konkreten Manifestationen erlebt haben: Aus dem ersten, lang gehaltenen »Es« in RHEINGOLD ist das GÖTTERDÄMMERUNG abschließende »Des-Dur« geworden. Doch das Spiel ist damit nicht vorbei. Auch wenn viele Hauptfiguren tot sind, reichte das überlebende Personal aus, um einen Ton tiefer die Geschichte von neuem zu erzählen: Alberich und die Rheintöchter überleben ebenso wie die »in höchster Ergriffenheit« sehenden Männer und Frauen. Ein Spiel ist zu Ende, aber nicht aus.
Den Impuls des Spiels hat Wagner selbst als zentralen Aspekt für den jungen Siegfried festgehalten: »… dass er den wichtigsten Mythos dem Publikum im Spiel, wie einem Kinde ein Märchen, beibringt. Alles prägt sich durch scharfe sinnliche Eindrücke plastisch ein, alles wird verstanden – und kommt dann Siegfrieds Tod, so weiß das Publikum alles, was dort vorausgesetzt oder eben nur angedeutet werden musste, und – mein Spiel ist gewonnen. « Es ist nicht nur das mythische Spiel auf der Bühne, das das Publikum wieder zum Märchen lauschenden Kinde macht; es ist das Spiel des Schöpfers selbst, das gewonnen werden will. Ein Spiel mit Wirklichkeiten und Illusionen, dessen Regeln Wagner in der über ein Vierteljahrhundert dauernden Entwicklungszeit des RINGS an vielen Orten mehrfach änderte.
Dass der Koffer ein zentraler Baustein unserer Inszenierung wird, hat aber weniger mit Richard Wagners eigener unglaublicher Flucht-, Exil- und Reisetätigkeit zu tun – 16 Länder und 200 Städte – sondern mit einer dem Stück inhärenten permanenten Bewegung. Der höchste Gott Wotan verliert an Macht und Namen: »Wand’rer‘ heißt mich die Welt« lässt er schlicht in SIEGFRIED verlauten; er wandert auf der Erde Rücken, wird von allem eingeholt, was er spielend ins Rollen brachte und verliert schließlich seine physische Präsenz, wie so viele der Flüchtigen, Suchenden und Vertriebenen innerhalb der Tetralogie.
György Lukács sprach Anfang des 20. Jahrhunderts von der »transzendentalen Obdachlosigkeit « und diese hat sich bis heute nicht nur zu einem metaphysischen Flüchtlingszustand ausgeweitet. Mit der Realität unseres »Nächsten « überfordert, tragen wir unsere kollektive Geschichte und individuellen Geschichtchen in Koffer verpackt mit uns herum und suchen getrieben eine neue, mythische Heimat. Und das weiterhin immer wieder im Spiel der Kunst und in der Kunst des Spiels, das eine Her- und Zukunft im Blick hat, die bereits Schopenhauer mit einer sprachlichen Weltesche samt wechselnden Blättern formulierte: »Erkenne doch dein eigenes Wesen, gerade das, was vom Durst nach Dasein so erfüllt ist, erkenne es wieder in der innern, geheimen, treibenden Kraft des Baumes, welche, stets eine und dieselbe in allen Generationen von Blättern, unberührt bleibt vom Entstehen und Vergehen.«
Die »Kraft des Baumes« die Schopenhauer unberührt »vom Entstehen und Vergehen« sieht, mindert Wotan noch vor Beginn der RHEINGOLD-Handlung mit dem Abbrechen eines Astes von der Weltesche, aus dem er den Schaft seines Gesetzes-Speeres fabriziert. Die vier Teile der Erzählung lang verkümmert der Baum, bis schlussendlich seine abgehackten Scheite lichterloh lodern. Doch auch Wagner bleibt überzeugt von einer alles überdauernden Kraft, wie er König Ludwig II. über Siegfried, »den Mittelpunkt der großen Welttragödie« wissen lässt: »Ein Weltuntergang steht bevor; der Gott sorgt für die Wiedergeburt der Welt, denn er ist der Wille der Weltwerdung selbst.« Zwischen Wille und Vorstellung entstehen und vergehen die Welten – in die und vor denen wir nun auf beiden Seiten des Vorhangs flüchten.
Dr. Alexander Meier-Dörzenbach verantwortet als freischaffender Dramaturg die aktuelle Inszenierung des RING an der Deutschen Oper Berlin. Er kooperiert seit 20 Jahren eng mit dem Regisseur Stefan Herheim (Bayreuther und Salzburger Festspiele, London, Amsterdam, Oslo, Berlin, Glyndebourne, Kopenhagen, Hamburg, Paris) und öfters mit der Regisseurin Karoline Gruber (Leipzig, Düsseldorf, Wien). Nach seiner Juniorprofessur für Amerikanistik an der Universität Hamburg und nach Lehraufträgen an mehreren Kunst- und Musikhochschulen hat er kurzzeitig als Chefdramaturg am Aalto-Theater Essen gearbeitet.