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Was mir ein Lied erzählt - Deutsche Oper Berlin

Was mir ein Lied erzählt

Ein Essay von Tim Martin Hoffmann

Das Verhältnis zwischen Instrumental- und Vokalmusik gilt als spannungsreich. Zwar verfestigte sich innerhalb der Musikästhetik des späten 18. und 19. Jahrhunderts die Idee einer von der Wortsprache losgelösten „absoluten“ Musik, doch ist die Instrumentalmusik jener Zeit reich an vokalen Grenzgängen. Der offenkundige Widerspruch wirft Fragen auf. Was bedeutet es etwa, wenn Franz Schubert im Adagio seiner C-Dur-Fantasie aus dem eigenen Lied „Der Wanderer“ zitiert? Bezieht der Transfer des musikalischen Gedankens auch die Semantiken des Textes ein? Was heißt es ferner, wenn Hector Berlioz seiner „Symphonie fantastique“ ein ausführliches verbales Programm beigibt? Sind die musikalischen Motive den literarischen eindeutig zuzuordnen oder ist das Programm ein assoziativer Leitfaden für das Hören?

Parteilich polarisierte Antworten hat das Musikschrifttum des 19.  Jahrhunderts gegeben. Von epochaler Bedeutung ist bekanntlich der Parteienstreit zwischen den „neudeutschen“ Anhängern Franz Liszts und Richard Wagners einerseits sowie dem Kreis um Johannes Brahms andererseits. Das von wortstarken Protagonisten wie dem Wagnerianer Friedrich von Hausegger und dem Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick entlehnte Gegensatzpaar „Ausdruck versus Form“ taugt dabei zwar als rhetorische Zuspitzung der zeitgenössischen Debatten, doch täuscht es über den musikalischen Befund hinweg. Weder trifft Liszts symphonische Dichtungen oder Wagners Musikdramen der Vorwurf von Formlosigkeit noch Brahms’ Symphonien derjenige mangelnden Ausdrucks. Dass bei Liszt und Wagner Semantik und Syntax der Wortsprache auf die musikalische Dramaturgie einwirken, untergräbt die Existenz musikalischer Form ebenso wenig, wie bei Brahms das offenkundige Fehlen verbaler Programme auf reinen Formalismus schließen ließe.

Den in der Praxis längst nicht so schroffen parteilichen Graben ebneten nachfolgende Generationen ein. Für die in den 1860er und 1870er Jahren geborenen Gustav Mahler (*1860), Richard Strauss (*1864), Max Reger (*1873) und Arnold Schönberg (*1874) konnten Wagner und Brahms gleichermaßen als Fixsterne gelten. Wie besonders in seinem frühen Schaffen, etwa im Streichsextett „Verklärte Nacht“ op. 4, ersichtlich, knüpfte Schönberg an die von Chromatik und Enharmonik geprägte Tonsprache Wagners an, um in einem 1933 gehaltenen Rundfunkvortrag „Brahms, den Fortschrittlichen“ zu ehren. Für Max Reger resultierte der Besuch von Wagners PARSIFAL im Wunsch, Komponist zu werden, ehe ihn sein Lehrer Hugo Riemann intensiv mit dem Brahms’schen Tonsatz vertraut machte. Von Richard Strauss wissen wir, dass er unter dem Einfluss des Vaters zunächst viel eher Brahms huldigte, bevor ihn Alexander Ritter zum Wagnerianer machte. Der späte Strauss kam letztlich zu der Einsicht, dass die Begriffe Ausdruck und Form einander nicht „als feindliche Gegensätze“ gegenüberstehen: „Es sind die beiden Formen musikalischen Gestaltens, die sich gegenseitig ergänzen.“

Früher als Strauss vertrat Gustav Mahler eine ähnliche unparteiische Ansicht. Mit Brahms kam es im Dezember 1890 zu einer vergleichsweise überschwänglichen Kontaktaufnahme, als Mahler in Budapest Mozarts DON GIOVIANNI dirigierte und der begeisterte Brahms ein Treffen initiierte. Entscheidende künstlerische Impulse zog Mahler zugleich aus der Beschäftigung mit Richard Wagner, den er als LOHENGRIN-Dirigenten 1876 an der Wiener Hofoper erlebte; als er 1897 selbst das Amt des Hofoperndirektors antrat, eröffnete er seine Amtszeit nicht zufällig mit Wagners letzter romantischer Oper. Dass sich in der Zwischenzeit unter anderem Brahms mit einem an den Kaiser gerichteten Empfehlungsschreiben für seine Berufung eingesetzt hatte, bezeugt einmal mehr die für Mahlers künstlerischen Werdegang wegweisende Unparteilichkeit. Wenn Arnold Schönberg später mit Recht resümieren sollte, Mahler sei „gleichermaßen in der traditionellen wie in der fortschrittlichen, in der Brahmsischen wie in der Wagnerischen Weltanschauung erzogen worden“, so verweist dies auf dessen solitäres kompositorisches Schaffen. Seine dezidiert an und jenseits der Schwelle zum Orchesterlied, zur Oper und zum Oratorium verortete Symphonik versteht Instrumental- und Vokalmusik nicht als getrennte Hemisphären. Mahlers musikalische Welt wird erst in der Totalen offenbar.

 

Reifezeit und Liebesfrühling

Wolfgang Amadé Mozarts Klavierkonzert B-Dur KV 595

Dass auch Wolfgang Amadé Mozart nicht vor Gattungsgrenzen Halt machte, ist vielfach belegt worden. Wenn der Musikwissenschaftler Ulrich Konrad betont, dass der „Theatermensch“ Mozart keine „strikte Trennung zwischen Vokal- und Instrumentalmusik“ im Sinn hatte, seine „instrumentalen Kompositionen“ vielmehr „stets in irgendeiner Weise von Elementen der Vokalmusik“ sowie „vom Gestus oder der Haltung des Theaters“ geprägt sind, so ist dies gerade am Klavierkonzert in B-Dur KV 595 ersichtlich. Das am 5. Januar 1791 fertiggestellte Werk ist Mozarts letztes vollendetes Klavierkonzert. Auch wenn erste Arbeiten am Kopfsatz womöglich schon auf das Jahr 1788 datieren, geht die Genese offenbar auf den Plan zurück, im Laufe des Jahres 1791 eine sogenannte Akademie, ein auf eigenes finanzielles Risiko organisiertes Konzert in dazu angemieteten Räumlichkeiten, zu veranstalten. Dass eine solche von Mozart selbst organisierte Akademie in seinem letzten Lebensjahr ausblieb, lässt heute über die Uraufführung des Konzertes spekulieren. Möglicherweise fand sie am 4. März 1791 innerhalb einer Akademie des Klarinettisten Joseph Beer statt, bei der Mozart den Quellen zufolge letztmalig öffentlich als Pianist auftrat. Ist in der Programmankündigung wie auch in der zeitgenössischen Presse allerdings unspezifisch von „ein[em] Konzert auf dem Forte piano“ die Rede, bleibt es beim Indizienbeweis.

Das für Mozarts insgesamt viertes B-Dur-Klavierkonzert häufig veranschlagte Klischee von heiterer Simplizität widerlegt schon der Kopfsatz, bezeugt er doch vielmehr ein ausgereiftes Spiel mit der Form. In der Orchesterexposition folgt auf das kantable erste Thema, das zunächst den Streichern vorbehalten ist und durch fanfarenartige Einwürfe der Bläser komplementiert wird, unmittelbar ein zweites, dessen Führung taktweise zwischen den Streichern und den Bläsern wechselt. Die Konzeption, beide Themen innerhalb der Exposition unmittelbar aufeinander folgen zu lassen, ist für Mozart ungewöhnlich und wirft auch deshalb Fragen auf, als eine Tuttipassage folgt, die typischerweise den Seitensatz ankündigen würde. Im Gewand eines zweiten Themas schließt nun jedoch ein drittes Thema an. Mit Beginn der nachfolgenden kehrausartigen Schlussgruppe glaubt man sich dem Ende der Orchesterexposition nahe, doch hängt Mozart eine umfangreiche Codetta an, die für einen Moment nach b-Moll auszuweichen scheint. Die „Katastrophe“ einer Modulation nach Moll wird jedoch abgewendet – vorerst. In der Soloexposition nämlich wird ein expressiver Minore-Teil zwischen das nun raumgreifender ausgespielte erste Thema und das dezidiert von ihm gesonderte zweite Thema eingefügt. Die wiederum an das dritte Thema und die um wenige Takte sinnierenden Innehaltens ergänzte Schlussgruppe angehängte Codetta entlarvt sich erneut als ambiges Element. Die in der Orchesterexposition noch eingefangene Moll-Ausweichung wird formbildend, indem sie als Scharnier zur in b-Moll anhebenden Durchführung dient. Was sich anschließt, ist ein Reigen farbenreicher harmonischer Wendungen, der von Mediantverbindungen geprägt ist und in eine Quintstiegsequenz mündet. Der wundersame modulatorische Gang bietet einem zweiten Kunststück Raum: der intimen klanglichen Integration des oftmals begleitend hinter Streicher und Bläser zurücktretenden Klaviers in den Orchestersatz. Im Vergleich zur Durchführung klar konturiert, kehrt die Reprise zum Gang der Soloexposition zurück, ehe die Solokadenz das Ende des Satzes einläutet. In seiner originalen Kadenz erlaubt sich Mozart einen letzten formalen Spaß, indem er zwar die ersten beiden Themen aufgreift, die Verarbeitung des dritten Themas jedoch ausspart. Gab es nie ein drittes Thema? Handelt es sich doch um einen völlig regulären Konzertsatz? – Der simple Anstrich hat Methode; wer ihm auf den Leim geht, hat den Witz nicht verstanden.

Nach einem gesangvollen Larghetto rundet ein beschwingtes Rondo das Konzert zur gattungstypischen Dreisätzigkeit ab. Wie schon der zweite Satz hebt das Finale mit einer Solopassage des Klaviers an. Exponiert wird hier ein Thema, dem vokale Züge kaum stärker eingeschrieben sein könnten. So nimmt die Motivik der ersten beiden Takte den Beginn des Liedes „Sehnsucht nach dem Frühling“ vorweg, das Mozart nur neun Tage nach Fertigstellung des Konzertes zu Papier bringen sollte. „Komm, lieber Mai“, hebt das im Januar 1791 entstandene Kunstlied nach dem Text von Christian Adolph Overbeck an. Ob sich die besungene Sehnsucht nach blühenden Veilchen auch im textlosen Rondo artikuliert, mag schon der Nachsatz des Themas klären. Hier nämlich zitiert Mozart einen Gedanken aus der Arie „È amore un ladroncello“ seiner 1790 uraufgeführten Oper COSÌ FAN TUTTE. Hängt die musikalische Wendung dort mit Dorabellas Rat an Despina und Fiordiligi zusammen, sich gleich ihr dem „Gauner“ Amor zu ergeben, vereint das Rondo-Thema zwei Arten von Frühlingsgefühlen. Auf die kindliche Erwartung der warmen Jahreszeit folgt die amouröse Erweckung im Liebesfrühling. Zwar ist der Versuch, den gesamten Satz hermeneutisch auf eine solche Programmatik zu beziehen, zum Scheitern verurteilt, doch stellt das Finale eindrücklich die scharfe Trennung zwischen Instrumental- und Vokalmusik in Frage. Dem „Klassiker“ Mozart stehen gattungsästhetische Brandmauern fern.

 

Auf den Spuren der  literarischen Romantik

Gustav Mahlers Symphonie Nr. 1 D-Dur

„So! Mein Werk ist fertig! […] Wahrscheinlich bist Du der einzige, dem darin an mir nichts neu sein wird; die andern werden sich wohl über manches wundern! Es ist so übermächtig geworden – wie es aus mir wie ein Bergstrom hinausfuhr!“

Als Gustav Mahler im März 1888 dem Freund Friedrich Löhr enthusiastisch von der Fertigstellung seines jüngsten Werkes berichtet, blickt dieses bereits auf eine mehrjährige Genese zurück. Erste Pläne scheint der aufstrebende und alsbald berühmte Dirigent schon 1884 oder 1885 gefasst zu haben; allerdings fällt ein Großteil der Arbeit offenbar in die von Mahler selbst benannten „6 Wochen“ im Frühjahr 1888, in denen er „bloß den Schreibtisch“ vor sich hatte. Die für seine gesamte Symphonik charakteristische eruptive Schaffensweise prägte die Erste Symphonie also vor – und doch trat das Werk paradoxerweise zunächst nicht als „Symphonie“ in Erscheinung. Seine Budapester Uraufführung erlebte es unter Mahlers Leitung am 20. November 1889 als „Symphonische Dichtung“ in zwei Teilen und fünf Sätzen. Vier Jahre später kam das inzwischen instrumentatorisch überarbeitete Opus in Hamburg zur Wiederaufführung. Wenngleich Mahler im Konzertprogramm nicht mehr eine „Symphonische Dichtung“, sondern „eine Tondichtung in Symphonieform“ ankündigen ließ, gab er dem gesamten Werk sowie den einzelnen Teilen und Sätzen programmatische Titel und fügte einige Erläuterungen bei. Ab 1896 rubrizierte Mahler das mittlerweile, unter Ausschluss des „Blumine“-Satzes, viersätzige Werk zwar als „Symphonie Nr. 1“ und sparte die programmatischen Hinweise auch bei der Drucklegung von 1899 aus; doch wirft der markante Umstand eines zurückgenommenen Programms analytische Fragen auf.

Dass der bloß für die Hamburger Aufführung von 1893 verbürgte Beiname „Titan“ dem Werk bis heute anhaftet, geht nicht zuletzt auf einige berühmte Äußerungen des Komponisten zurück. Seine Vertraute Natalie Bauer-Lechner etwa überliefert, dass Mahler noch 1896 privat vom „Titanen“ als dem Protagonisten seiner Ersten Symphonie sprach: „[…] als Ziel der Kunst scheint mir zuletzt doch immer Befreiung und Erhebung vom Leid. Die bleibt nun auch in meiner Ersten nicht aus, aber freilich erlangt sie erst im Tode meines ringenden Titanen den Sieg, der, so oft er früher […] sein Haupt über die Lebenswogen erhebt, immer wieder vom Schicksal einen Schlag auf den Kopf bekommt und von neuem untersinkt.“ In der Tat scheint Mahlers Äußerung das einstige Programm zu bestätigen: den abstrakten Bogen eines Menschenlebens, der sich von „den Tagen der Jugend“ bis zum „Inferno“ spannt. Wie ein Brief an Max Marschalk aus dem gleichen Jahr belegt, ist mit dem finalen Triumph im Tode der programmatische Gang jedoch nicht zu Ende; vielmehr schließt an dieser Stelle die im Dezember 1895 uraufgeführte Zweite Symphonie an, zu deren Programm Mahler schreibt: „Ich habe den ersten Satz ‚Todtenfeier‘ genannt, und wenn Sie es wissen wollen, so ist es der Held meiner D-dur-Symph[onie], den ich zu Grabe trage, und dessen Leben ich, von einer höheren Warte aus, in einem reinen Spiegel auffange.“ Die Auferstehung der Zweiten schmiedet den Lebensbogen der Ersten Symphonie zur Kreisbahn Die allgemeinmenschliche Dimension des Programms rückt den „Helden“ der Ersten Symphonie, wie der Kulturwissenschaftler Jens Malte Fischer konstatiert, folglich etwa von Richard Strauss’ distinkten Helden in „Till Eulenspiegels lustige Streiche“ oder „Don Quixote“ ab. Auch wenn der zwischenzeitliche Titel „Titan“ eindeutig auf Jean Pauls gleichnamigen Roman in vier Bänden verweist, bleibt die programmatische Bezugnahme dabei unscharf. Zwar mag man im anfänglichen symphonischen „Erwachen der Natur aus langem Winterschlafe“ eine Allusion an den Beginn des Romans „An einem schönen Frühlingsabend“ erkennen, doch rückt spätestens das konträre Ende – „Inferno“ bei Mahler versus Hochzeit bei Paul – eine direkte Identifikation des symphonischen mit dem Romanhelden Albano in weite Ferne. Dass es Mahler schwerlich um eine Vertonung des Paul’schen „Titan“ ging, erhärtet zudem ein Blick auf die weitergehenden literarischen Bezüge.

So verweist die sperrige Bezeichnung des ersten Teils als „Blumen-, Frucht- und Dornstücke“ auf Pauls Roman „Siebenkäs“, und auch der später ausgesonderte „Blumine“-Satz spielt auf dessen Werksammlung „Herbst-Blumine“ an. Die offenkundigen Jean-Paul-Bezüge verlieren sich jedoch im zweiten Teil des Programms; an ihre Stelle treten Referenzen auf Moritz von Schwinds Holzschnitt „Des Jägers Leichenbegängniss“, auf die literarisch einst von E. T. A. Hoffmann beschworene groteske „Manier“ des bildenden Künstlers Jacques Callot sowie auf Dante Alighieris „Divina Commedia“.

Jene Gemengelage, die schon mit Blick auf das Programm von 1893 verwickelt zu nennen ist und durch die anschließende Zurücknahme desselben wohl kaum an Eindeutigkeit gewinnt, macht Mahlers Erste bis heute zum analytischen Problem. Einen probaten Lösungsansatz hat der Musikwissenschaftler Hermann Danuser geliefert, indem er vorschlug, Mahlers Helden nicht primär als fiktive Person zu betrachten, sondern ihn in seiner „formalen Funktion“ als „imaginäre[s] psychische[s] Subjekt der Musik“ zu bestimmen. Die Symphonie folgt demnach einem inneren Programm, einer Abfolge von Affekten und Stimmungen, die mit den Mitteln der Wortsprache kaum zu schildern ist. Die der literarischen Gattung des Romans entlehnte Imagination eines Subjektes jedoch, eines Helden, der jene Affekte und Stimmungen unmittelbar durchlebt, lässt eine intensivere psychische Anteilnahme des Publikums zu und erleichtert die Artikulation von Höreindrücken. Vielleicht erklärt sich der rätselhafte Jean-Paul-Bezug gerade vor diesem Hintergrund – als Hinweis darauf, dass sich Mahlers Symphonie mit den Mitteln des Romans artikuliert.

Auch weitergehend scheint der Roman des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts Mahlers symphonischer Konzeption Modell gestanden zu haben. Denn ganz wie in Goethes „Wilhelm Meister“ oder in Novalis’ „Heinrich von Ofterdingen“ durchziehen Lieder die episch konzipierte symphonische „Handlung“. Ohrenfällig wird dies bereits im ersten Satz. Aus einem vom ätherischen Flageolett-Klang geprägten Streicher-Unisono auf dem Ton a entfalten sich peu à peu Zitate aus Mahlers eigenem Lied „Ging heut’ morgen über’s Feld“, dessen Melodie dem Satz als Thema zugrunde liegt. Selbst ohne Worte scheint der Transfer aus den 1884 komponierten „Liedern eines fahrenden Gesellen“ den ursprünglichen semantischen Kontext einzubeziehen. Genauso, wie das Lied von der morgendlichen Naturbetrachtung kündet, versieht Mahler – entgegen Theodor W. Adornos verstörender Assoziation des Streicher-Flageoletts mit dem Klang „altmodische[r] Dampfmaschinen“ – die ersten Takte mit der Bezeichnung „Wie ein Naturlaut“, um wenige Takte später der Klarinette die Nachahmung eines Kuckucksrufs vorzuschreiben. Dass sich der Ruf des Kuckucks, entgegen der „naturalistischen“ kleinen Terz, in Quartsprüngen vollzieht, trägt der sukzessiven, mit Jens Malte Fischer gesprochen, bausteinartigen Einführung des Themas Rechnung, beginnt dieses doch selbst mit einem Quartsprung abwärts. Dass sich die symphonische Form auch im weiteren Verlauf des Satzes deutlich an jenem mit dem Liedzitat einhergehenden Gestus der Entfaltung orientiert, hat am besten der hinsichtlich des Flageoletts noch eigenwillig argumentierende Adorno auf den Punkt gebracht. So beanspruche die „Idee des Durchbruchs“ das Primat gegenüber dem traditionellen Sonatensatz: „Der Durchbruch in der Ersten Symphonie tangiert die gesamte Form. Die Reprise, der er den Weg bahnt, kann danach jenes Gleichgewicht nicht wieder herstellen, dessen Erwartung an die Sonate sich knüpft. Sie schrumpft zum hastigen Epilog. […] Die Idee des Durchbruchs, die dem gesamten Symphoniesatz seine Struktur anbefiehlt, überflügelt die traditionelle, die er flüchtig noch entwirft.“

Bevor im stürmisch aufbrausenden vierten Satz der finale Durchbruch, zusätzlich markiert durch eine für den Dirigenten vorgeschriebene „Luftpause“, mit einer gewaltigen Rückung von C-Dur nach D-Dur gelingt, bezeugt der langsame Satz einmal mehr Mahlers konzeptuellen Grenzgang zwischen Instrumental- und Vokalmusik. Wird hier zunächst das Kinderlied vom „Bruder Martin“ oder „Bruder Jakob“ in einen grotesken Trauermarsch umgemünzt, in den noch dazu die Klänge einer „Capelle von böhmischen Musikanten“ einfallen, weist auch der Mittelteil des Satzes einen überdeutlichen Liedbezug auf. Das Zitat der an Franz Schuberts „Winterreise“ alludierenden Lindenbaum-Episode des letzten Gesellen-Liedes „Die zwei blauen Augen“ unterstreicht einmal mehr, dass Mahlers Symphonik die Schranken „absoluter“ Musik fremd sind – oder, um ein letztes Mal mit Theodor W. Adorno zu sprechen: „jeder Takt bei Mahler öffnet weit die Arme“.