„Wer hin sich schenkt, der hat sich überwunden“ - Deutsche Oper Berlin

Aus dem Programmheft

„Wer hin sich schenkt, der hat sich überwunden“

Erich Wolfgang Korngolds DAS WUNDER DER HELIANE und die Dramaturgie des Eros … Ein Essay von Arne Stollberg

 

Schwelgen als Prinzip
 

Erich Wolfgang Korngolds DAS WUNDER DER HELIANE ist kein Werk des Maßhaltens. Vom ersten bis zum letzten Takt geht ein Zug des Schwelgerischen und Exzessiven durch die Partitur, ein unersättliches Ausströmen von Melodien, luxurierenden Orchesterfarben und schierer klanglicher Ekstase, das kaum je Momente der Zurücknahme oder rezitativischer Dialogführung kennt. Die Musik, so beschrieb es Elsa Bienenfeld als Rezensentin der Wiener Erstaufführung vom 29. Oktober 1927, „überflutet das Textbuch, wogt durch die Akte, reißt die Szenen mit sich […]. Sie schüttet Melodie in die Figuren, daß sie an Gesang überquellen.“ Der Anfang gibt die Richtung vor: Aus dem Nukleus des eröffnenden Fis-Dur-Dreiklangs entfaltet sich in delikaten, zum Teil bitonalen Mixturen eine geradezu magische Akkordfolge mit pendelnder Oberstimmenbewegung, die immer weiter nach oben ausgreift, während der Bass nach unten sinkt. Der Klangraum reißt auf [„Ausholen!“, so lautet Korngolds Anweisung an den Dirigenten], und mit einem Gestus, der unweigerlich die Schöpfungsworte „Es werde Licht“ assoziieren lässt, vollzieht sich der Durchbruch ins hell strahlende Es-Dur, von der hinzutretenden Orgel majestätisch zum Leuchten gebracht. „Seraphische Stimmen“, Sopran und Alt, werden „von oben“ vernehmbar, formulieren den sakralen Duktus durch betont altertümliche, archaisch wirkende Wendungen aus, bevor sie, in E-Dur, den Spitzenton des zweigestrichenen h erklimmen und verlöschen.

Ein unvergesslicher Auftakt, der in seiner Potenzierung der Mittel den Stil von Korngolds exzessiver Oper festlegt und sie tatsächlich, nach Art eines Leitmotivs, an entscheidenden Stellen immer wieder durchdringt, gibt der mit ihm verbundene Text doch zugleich das Motto der Handlung vor: „Selig sind die Liebenden. / Die der Liebe sind, sind nicht des Todes. / Und auferstehn werden, / die dahingesunken sind um Liebe.“ Am Ende des dritten Aktes, wenn die Auferstehung der Liebenden, Helianes und des Fremden, tatsächlich Realität geworden ist und beide – laut Regieanweisung – „eng umschlungen […] in den Himmel“ gehen, während sich „Licht und Schönheit“ über die Welt ergießen, prägt Korngold die mystische Formel des Beginns dementsprechend zu einer Apotheose um, die den machtvoll-überwältigenden Schluss von Gustav Mahlers Achter Symphonie gleichsam für die Opernbühne adaptiert: Über einem von Orchester und Orgel sowie drei Trompeten und drei Posaunen „hinter der Scene“ ausgehaltenen H-Dur-Akkord in dreifachem Forte schmettern sechs „Fanfarentrompeten auf der Bühne“ die ersten vier Töne jenes Motivs, mit dem die Oper ihren Anfang genommen hatte. Eine eschatologische Vision wird hier zu Klang, nichts Geringeres als die Heraufkunft des „neuen Jerusalem“ nach der Apokalypse, wie sie die Offenbarung des Johannes prophezeit [Offb 21, 1–2, 24–25]: „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde verging, und das Meer ist nicht mehr. / Und ich […] sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabfahren, bereitet als eine geschmückte Braut ihrem Mann. […] Und die Heiden, die da selig werden, wandeln in ihrem Licht; und die Könige auf Erden werden ihre Herrlichkeit in sie bringen. / Und ihre Tore werden nicht verschlossen des Tages; denn da wird keine Nacht sein.“ In die an das Volk gerichteten Worte des Fremden aus Korngolds Oper übersetzt: „Brüder! / Nie mehr wird eure Seele im Finstern dürsten: / eure Schwester segnet euch! […] / Geht, geht in den Morgen!“. Zu Ende ist die Regentschaft des finsteren Herrschers, Teufelsgestalt, Versucher, Dämon – und doch auch „vereinsamter, leidender Mensch“ [so Korngolds Ehefrau Luzi], in dessen Auftrittsmotiv die transzendente Akkordfolge vom Beginn der Oper zu einem dissonanten Krampf verzerrt worden war. Ein „Tag von unirdischer Schönheit“ bricht an, mit dem sich die Pforten zur Ewigkeit öffnen.

In kleinerem Maßstab lässt sich kaum beschreiben, was Korngold mit seiner Oper vorschwebte, auch wenn die Hypertrophie heute befremdlich wirken mag. So quer zum Zeitgeist der 1920er Jahre, wie man vielleicht annehmen könnte, stand der Komponist damit jedoch keineswegs: „Neue Sachlichkeit“ war nicht das einzige Kennzeichen der „roaring twenties“. Die Konjunktur pseudo-mittelalterlicher Mysterienspiele vor tausenden von Zuschauern, als deren Inbegriff, neben Hugo von Hofmannsthals „Jedermann“ [1911], Max Reinhardts spektakuläre Inszenierung von Karl Vollmoellers Pantomime „Das Mirakel“ gelten kann, uraufgeführt 1911 in London und 1925 bei den Salzburger Festspielen neu herausgekommen, hatte sich keineswegs überlebt; und selbst ein Film wie Fritz Langs „Metropolis“, im selben Jahr 1927 erschienen wie DAS WUNDER DER HELIANE, verbirgt hinter der Science-Fiction-Optik eine mystizistisch-religiöse, in manichäischen Strukturen von Licht und Dunkel entfaltete Parabel, die zu Korngolds Oper mehr als nur beiläufige Parallelen aufweist [die Maria des Films wäre, grob gesprochen, mit Heliane, Freder Fredersen mit dem Fremden und Joh Fredersen mit dem Herrscher zu assoziieren]. Vor allem aber hatte sich Korngold für eine literarische Vorlage entschieden, die die entsprechenden Dimensionen unmissverständlich vorgab und mit der programmatischen Verquickung von Erlösungstheologie und veritabler Erotik durchaus das Potential für einen Skandal in sich barg – einen Skandal, der denn auch nicht ganz ausbleiben sollte, ereiferte sich doch nach der Erstaufführung in Wien der Direktor der dortigen Musikakademie, Max Springer, darüber, dass die Oper das „Gefühl eines gläubigen Katholiken“ und jedes „überhaupt christlich empfindenden Menschen verletzen müsse“. Die Rede ist von dem „Mysterium für Musik“ „Die Heilige“ aus der Feder des österreichischen Dichters und Dramatikers Hans Kaltneker.

 

Hans Kaltnekers erotische Theologie
 

Wann genau und durch wen Korngold das unveröffentlichte Stück des 1919 im Alter von 24 Jahren verstorbenen Kaltneker erhielt, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Ebenso wenig lässt sich verifizieren, was sowohl Luzi als auch Julius Korngold, Ehefrau und Vater des Komponisten, überliefert haben, dass nämlich „Die Heilige“ speziell für Korngold geschrieben worden sei, in Reaktion auf dessen 1916 uraufgeführte Oper VIOLANTA [Korngold und Kaltneker sind sich persönlich wohl nie begegnet]. Erschwert wird die Beantwortung dieser und anderer Fragen durch den Umstand, dass der Text von Kaltnekers „Mysterium für Musik“ heute als verschollen gelten muss, mit Ausnahme der Schlussszene des ersten Aktes, die 1927, zweifellos bereits zur publizistischen Vorbereitung der Opernpremiere, separat im Jahrbuch des Paul-Zsolnay-Verlags erschien. Die Handlung und einige weitere Textpassagen der „Heiligen“ sind nur aus zwei österreichischen Dissertationen der Jahre 1933 und 1951 zu rekonstruieren, deren Verfasser das Original des Stückes offenbar noch einsehen konnten.

Aus diesen Quellen ist immerhin zu schließen, dass Korngolds Librettist Hans Müller, ein literarischer Tausendsassa, der vom expressionistischen Drama [„Der Vampir“, 1923] über die Operette [IM WEISSEN RÖSSL, 1930] bis hin zum Schwank [„Frischer Wind aus Kanada“, 1934] alle Genres, Moden und Stilhöhen zu bedienen wusste, seiner Vorlage weitgehend treu blieb. Was an Änderungen oder Ergänzungen vorgenommen wurde, betraf letztlich nur die Oberfläche des Handlungsgeschehens, etwa durch Einfügung von Nebenfiguren [Pförtner, Botin, Schwertrichter], nicht jedoch die Substanz des Kaltneker’schen Gedankengebäudes. Auch die gesuchten, zuweilen manierierten und häufig auf biblische Topoi zurückgreifenden Metaphern der Dichtung Kaltnekers fanden, soweit die wenigen Fragmente der „Heiligen“ heute darüber ein Urteil erlauben, in Müllers Libretto Eingang, inspirierten jedenfalls dessen gewollt erlesenen, leicht als schwülstig zu kritisierenden Tonfall, der – wie trivialisiert auch immer – das Idiom der ihm zugrunde liegenden Verse recht zuverlässig aufbewahrt.

Mit der Dichtung Kaltnekers übernahmen Müller und Korngold zugleich die eigenwillige „Sexualtheologie“ des Autors, die er im Vorwort zu seinem „Mysterium“ „Die Schwester“, 1923 postum im Wiener Renaissancetheater uraufgeführt, einigermaßen drastisch auf den Punkt gebracht hatte: „Gott will Zeugung. Schöpfung sei! Seele fließt über im Blute, Unsterblichkeit im Samen!“ Eine merkwürdige Umwertung christlicher Werte greift hier Platz, die direkt ins Zentrum der „Heiligen“ wie der daraus gewonnenen Oper leitet. Virginität und Keuschheit wären demnach die eigentlichen Sünden, da sie einer Bewahrung des Ich gleichkommen, während die wahrhaft göttliche Liebe – Agape – sich nur in der völligen Hingabe des Ich an das Du realisiert. In dem apotheotischen Schlussgesang Helianes und des Fremden heißt es entsprechend: „Ich hab nicht Mich gesucht, / hab Dich gefunden – / nun strömen Du und Ich in einen Strom. / Wer hin sich schenkt, / der hat sich überwunden, / und Erdenkerker wird Himmelsdom.“

„Heilig“ ist Heliane gerade deshalb, weil sie ihren Körper in ehebrecherischer Liebe dem Fremden hinschenkt, wobei der „sündhafte“ Verstoß gegen das siebte Gebot paradoxerweise zum Sinnbild dafür avanciert, dass sich zwei Liebende nur außerhalb von Konvention und Gesetz in völliger Reinheit und Wahrhaftigkeit begegnen können. Ein wesentliches Paradigma dieser Denkfigur bildet die ehebrecherische, gar inzestuöse Beziehung zwischen Siegmund und Sieglinde in Wagners RING-Tetralogie, Inbegriff einer bedingungslosen, schlechthin grenzüberschreitenden Liebe und zugleich eines ungeheuerlichen Aufbegehrens gegen die gesellschaftliche Ordnung, wie sie sich im Mikrokosmos der Ehe abbildet. Schon bei Wagner erfahren die Geschwister dadurch eine Überhöhung zum „heiligen Paar“, dass es allein ihnen vorbehalten ist, den von Wotan als „Erlöser“ ersehnten freien Helden in die Welt zu setzen. Und der glühende Wagnerianer Kaltneker verschmilzt nun dieses Liebesideal mit der christlichen Heilslehre zu einer höchst unorthodoxen Religionsauffassung, angesichts derer es durchaus berechtigt erscheint, die Szene zwischen Heliane und dem Fremden im ersten Akt als eine Art von Eucharistie aus dem Geiste des Eros zu interpretieren. Wie sich die Hostie beim Abendmahl gemäß der katholischen Transsubstantiationslehre in den Leib Jesu Christi verwandelt, so wird Helianes Leib im Moment der Hingabe zur fleischlichen Manifestation der Liebe Gottes. Der Fremde vergleicht den Körper der Königin denn auch nicht nur mit einem „Altar“, an dem die Haare wie „ewiges Licht“ herabrinnen, sondern treibt die Analogiebildung bis zum äußersten Extrem weiter: „Euer Leib muß sein / wie Gottes Schrein, / geöffnet in der letzten Schöpfungsnacht!!“

In Kaltnekers „Mysterium“ schreibt eine Regieanweisung vor, dass die – dort namenlose – Königin, als der „junge Gefangene“ sie darum bittet, ihr „strenges Gewand“ abstreift; „ein blütenweißes, dünnes Hemd umhüllt sie, das ihre Glieder wundervoll durchstrahlen läßt“. Müller und Korngold greifen diese Szene in wörtlicher Formulierung auf und verknüpfen sie musikalisch mit einem erneuten Hereindringen der „seraphischen Stimmen“ vom Beginn der Oper: „Selig sind die Liebenden.“ Dann aber gehen sie einen Schritt weiter: Nach der Frage des Fremden „Wirst du das, Geliebte, / wirst du für mich, für mich das tun?!“ ist zwar nur elliptisch davon die Rede, dass „ein Zittern unsäglichen Ausdruckes […] den entblößten Körper“ Helianes ergreife; doch lässt die ostentative Verwendung des Wortes „nackt“, wo Müllers Textbuch noch ein schamhaftes „nah“ vorgesehen hatte, keinen Zweifel daran, dass es hier, zumindest idealiter, tatsächlich um vollständige Nacktheit geht. Eine Regieanweisung am Ende des ersten Aktes nimmt denn auch kein Blatt mehr vor den Mund: Heliane, die ihrem Mann, dem Herrscher, nach dessen empörenden Sottisen entgegentritt, werde – so wörtlich – „jetzt erst […] bewußt […], daß sie nackt ist“. Und dies muss als konsequent gelten, selbst wenn Korngold kaum ernsthaft damit gerechnet haben dürfte, die Idee auf der Bühne seiner Zeit jemals realisiert zu sehen. Nicht zufällig beginnt Kaltnekers „Die Heilige“, wie wir aus den wenigen überlieferten Bruchstücken wissen, mit einem Frauenchor, der die Worte singt: „Zwischen uns und dem Mann / Ist Feindschaft gesetzt / Von Anbeginn.“ Adressiert wird hier die menschliche Erbsünde, von Gott über den schuldig gewordenen Adam verhängt [Gen 3, 15]: „Feindschaft setze ich zwischen dich und die Frau […].“ Daran knüpft sich bekanntermaßen die Entstehung des Schamgefühls, verbergen doch Adam und Eva ihre Blöße erst voreinander, nachdem sie die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis gegessen haben [Gen 3, 7]: „Da gingen beiden die Augen auf und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz.“ Helianes Selbstentkleidung symbolisiert demnach nichts Geringeres als die Aufhebung der menschlichen Erbsünde. Mehr noch: Da durch die Erbsünde einst auch Tod und Sterblichkeit in die Welt traten, bringt die von Heliane vollzogene Entsühnung der Menschheit gleichzeitig die Überwindung des Todes mit sich, der Schluss der Oper folglich eine Rückkehr ins verlorene Paradies. Der von Müller und Korngold erfundene Name „Heliane“ ist Programm, verschränkt er doch einen Anklang an den griechischen Sonnengott Helios und dessen Kinder, die Heliaden, mit der Bezugnahme auf „Heliand“ – gemäß der Verwendung in einem frühmittelalterlichen, wohl um 830 entstandenen Epos nichts anderes als die altniederdeutsche Form des Wortes Heiland.

 

„Ich ging zu ihm“
 

Das eigentliche Skandalon von Kaltnekers wie von Müllers und Korngolds Konzeption besteht nun aber darin, dass mit der körperlichen Nacktheit ein zwar – im paradiesischen Sinne – „unschuldiges“, zugleich aber zweifellos erotisch aufgeladenes Moment gegeben ist, ein sexuelles Begehren, das offenbar wird, als sich Heliane am Ende des zweiten Aktes in einer Art nekrophilen Anwandlung über den Leib des toten Fremden beugt: „Sie ist ganz nahe bei ihm. Ihr Atem berührt seine Lippen, ihre Augen hängen in seinen Augen. Über ihr schneeweißes Gesicht, dessen Mund zittert, geht ein unsagbarer Ausdruck von Sehnsucht, von irrem Verlangen.“ Helianes Entscheidung, die „Bahrprobe“ auf sich zu nehmen, entspringt also keineswegs dem Wunsch, ihre Schuldlosigkeit unter Beweis zu stellen, sondern ist vielmehr Ausdruck einer diesseitigen Liebe, die zuallererst in sinnlicher Begierde wurzelt – nach dem Maßstab christlicher Moralvorstellungen mithin als „sündhaft“ zu verwerfen wäre. Dass Heliane selbst ihr „irres Verlangen“ als Sünde begreift, zeigt sich im dritten Akt, als sie den Toten bei der Auferweckungszeremonie „im Namen Gottes“ anrufen will, dann aber zusammenbricht und vor allem Volk eingesteht: „Ich kann nicht, ich kann nicht! / Ich hab ihn geliebt!! […] / Nicht göttlich bin ich, nicht rein!“ Doch gerade dieses Bekenntnis bewirkt das Wunder: „In jäh anschwellendes, feuriges Licht erhebt der Fremde sich von der Bahre.“ Und aus dem Mund des Auferstandenen erfährt Heliane, warum Gott sie zu solcher Tat befähigte, warum ihre reuevolle Selbstanklage „Sündig bin ich ohn Maß“ auf einem falsch verstandenen Glauben gründet: „Du irrst! / Nicht hast du selbst im andern dich gesucht – / an Leib und Geist hast du dich hingeschenkt: / so darfst du rein dich Seinem Antlitz nahn!“ Das völlige Sich-Hinschenken an ein Gegenüber, und zwar im geistigen wie im leiblichen Sinne, markiert für Kaltneker die denkbar konsequenteste Abkehr von jedem „Egoismus“, verstanden als „Antipol […] dessen, der auf Golgatha lag“ [Vorwort zu „Die Schwester“]. Der sexuelle Akt wird zu einem religiösen, indem er die Ich-Grenzen sprengt und zwei Menschen in einer Liebe vereinigt, die Begehren und Mitleid zusammenfallen lässt und solchermaßen der Liebe Jesu gleichkommt – eine synkretistische Vorstellung, die christliches Gedankengut mit einer von Wagner entlehnten „Metaphysik der Geschlechtsliebe“ amalgamiert [so der Titel des „Bruchstücks eines Briefes an Arthur Schopenhauer“ aus der Zeit der Entstehung des TRISTAN, zuerst 1886 in den Bayreuther Blättern veröffentlicht und nachgedruckt 1911 im zwölften Band der Sämtlichen Schriften und Dichtungen Wagners, der Kaltneker zweifellos bekannt war]. Dass Erich Wolfgang Korngold diese moralisch riskante Implikation der von ihm gewählten Vorlage deutlich vor Augen stand, wird durch ein Interview des Komponisten mit dem Neuen Wiener Tagblatt dokumentiert, veröffentlicht am 23. Oktober 1927: Kaltneker ziehe „keinen dicken Trennungsstrich zwischen den Begriffen Mitleid und Lust, Nächstenliebe und Selbstliebe. Wenn Heliane sich dem ‚Fremden‘ zeigt […], so ist es Mitleid und Liebesleidenschaft zugleich. Wenn der ‚Fremde‘ sich den Tod gibt, so ist es Opfertod wie Todeswollust, Güte wie Gier.“

Den Brennpunkt von Korngolds Oper bildet entsprechend Helianes große Arie „Ich ging zu ihm“ im zweiten Akt, gesungen vor dem Tribunal der Richter als Plädoyer in eigener Sache. Der Text schwankt auf bezeichnende Weise zwischen der Beteuerung der Angeklagten, trotz ihrer Nacktheit vor dem Fremden keusch geblieben zu sein, und dem gegenteiligen Eingeständnis, dass sie ihm „in Gedanken“ doch angehört, den Ehebruch also mental vollzogen habe. Nicht der „Lust“ des „Blutes“ sei sie erlegen, sondern dem Wunsch, das „Leid“ des Fremden „mit ihm“ zu tragen, so Heliane; aber hierauf folgt wiederum das eindeutige Bekenntnis: „und bin in Schmerzen, in Schmerzen sein geworden“. Wie gestaltet sich dies musikalisch?

Nach einer letzten, lustvollen Verzögerung [„nicht eilen!“] explodiert die melodische Linie des Soprans beim Wort „Schmerzen“ auf dem Spitzenton des zweigestrichenen ais, laut Vortragsanweisung zu singen „in Verzückung“. Dass hier eine Ästhetisierung des sexuellen Höhepunktes vorliegt, kann schlechterdings nicht bestritten werden; zu eindeutig ist die Art und Weise, wie Korngold die Musik zu diesem Ausbruch gelangen lässt. Ab der Textzeile „Doch schön war der Knabe“ und dem Erreichen der Tonart Fis-Dur dreht sich die auffallend engstufige Melodik in immer intensiver werdenden Schüben nach oben, sinkt abwärts, nimmt wieder Anlauf: ein permanentes Drängen, Zurückhalten und erneutes Drängen, das mit den Achtelfiguren der Streicher, die aus einer Verkleinerung der Singstimmenmotivik gewonnen sind, auch ins Orchester übergreift. Die erst kurz vor Schluss durch den Oktavsprung bei „tötet mich“ aufgehobene Vermeidung großer Intervalle – bis dahin dominieren über weite Strecken Sekundschritte – gibt den Wellenbewegungen der nach oben strebenden Vokallinie eine geradezu physische Intensität: Der Gesang hebt an keiner Stelle sozusagen ab, sondern windet und räkelt sich langsam empor; die Eruption wird in selbstquälerischem Genuss halb vorbereitet, halb unterdrückt. Kurz vor dem Kulminationspunkt des zweigestrichenen ais lässt Korngold seine Heliane schließlich in immer schnellerer Frequenz atmen [auf sechs Takte kommen vier Atemzäsuren]. Legatobögen bleiben ausgespart; stattdessen treten vermehrt Akzentzeichen hinzu, außerdem ein – sofort wieder gebremstes – Accelerando auf die Worte „mit ihm“, das den konstitutiven Wechsel von Drängen und Zurückhalten in kleinteiliger Agogik potenziert. Das Ausgehen des Atems vor lustvoller Anstrengung erscheint gleichsam in die vokale Faktur hineinkomponiert. Viel direkter könnte dasjenige, was tatsächlich „gemeint“ ist, mit stilisierten Klängen kaum vollzogen werden: Der „Schönheitsschlager“ [Elsa Bienenfeld] verwirklicht in musikalischer Ekstase, wovon er erzählt.

 

Sinnenlust und Inspiration
 

„Wenn ein Mensch singt; so ist es, als ob er auf einmal seine Kleider abwürfe, und sich im Stande der Natur zeigte: so etwas Inniges, Himmlisches liegt in dem Kontrast von abgemeßnen Tönen.“ – Was Wilhelm Heinse am Ende des 18. Jahrhunderts in seinem Roman „Hildegard von Hohenthal“ schrieb, liest sich wie ein Kommentar auf Korngolds Oper. Das Nackte der Stimme wird hier zuvörderst als „himmlisch“ codiert, gewissermaßen mit der Reinheit des Gesangs von sündlosen Engeln in Verbindung gebracht. Doch es spricht für sich, dass der Held des Romans, Kapellmeister Lockmann, in der allerersten Szene die Sängerin Hildegard als Voyeur beim Baden beobachtet, „nackend, göttlich schön wie eine Venus“. Und wann immer er später dem Gesang Hildegards lauscht, bleibt die sexuelle Konnotation im sinnlichen Musikgenuss evident. Das „Nackende“ der Stimme ist für Lockmann selbst dort nicht wirklich keusch, wo es um ein religiöses Werk geht: Als er „in der Sixtinischen Kapelle zu Rom“ das zweichörige Miserere von Gregorio Allegri hört, „mit den besten Stimmen“ aufgeführt, gerät sein Eindruck zu der Imagination, dass die beiden Chöre „sich gleichsam auf das innigste“ „begatten“ – eine für Kirchenmusik recht gewagte Metapher, die aber auf die Tradition ekstatischer Mystik zurückverweist, darauf also, dass christlicher Glaube zuweilen auch [und erst recht in der Vokalmusik] als erotische Passion erscheinen konnte.

Genau diese Verbindung von erotisch konnotiertem Gesang und körperlicher Nacktheit sowie von Sexualität und religiöser Ekstase bestimmt die Dramaturgie und das musikalische Profil des WUNDERS DER HELIANE in entscheidendem Maße. Das schwelgerische vokale Melos wird zum Ausfluss einer Sinnlichkeit, in der die Musik zugleich als Vehikel mystischen Aufschwungs erscheint. Vor allem aber realisiert sich hier, was Erich Wolfgang Korngold und sein Vater, der Musikkritiker Julius Korngold, als das Wesen der Oper schlechthin ansahen: dass diese um „Sinne und Singen“ kreisen müsse und sich nicht scheuen dürfe, „Schaulust“ und „Hörlust“ des Publikums zu befriedigen [so Julius Korngold 1922 im Vorwort zu seiner Aufsatzsammlung „Deutsches Opernschaffen der Gegenwart“]. Im selben Jahr 1922 postulierte Paul Bekker, dass es niemals gelingen könne, den „Eros in seiner menschlich sinnenwärmsten Lebensäußerung“, nämlich als flutenden Gesang, „aus der Oper [zu] verbannen“. Die „Gattungsforderung“ sei desto „reiner erfüllt, […] je bewußter […] der menschliche Eros den Kern des Geschehens“ bilde – ein Satz, der wie für DAS WUNDER DER HELIANE gemacht scheint, wenngleich Bekker, der große Apologet Franz Schrekers, das Opernschaffen Korngolds als Publizist eher skeptisch beäugte.

Vielleicht ist es nicht übertrieben, das Komponieren selbst, wie Erich Wolfgang Korngold es verstand, als erotischen Akt zu kennzeichnen. Schon 1888 hatte Friedrich Nietzsche das Bonmot geprägt, „ohne eine gewisse Überheizung des geschlechtlichen Systems“ sei „kein Raffael zu denken“: „Musik machen ist auch noch eine Art Kindermachen […].“ Paul Bekker ergänzte in seinem bereits zitierten Essay „Klang und Eros“: „Jedes Schaffen ist ein Zeugungsakt, nicht nur im bildlichen, übertragenen Sinne, sondern als wirkliche, naturgesetzliche Handlung.“ Aus dieser Perspektive würde das Sich-Verschwenden, das Sich-Hinschenken Helianes ein Pendant zu den blühenden Melodien bilden, die Korngold für sie erfand und üppig, geradezu überreich entfaltete, ohne um die Ökonomie der Mittel besorgt zu sein. „Ich vergesse nicht“, so erinnert sich Julius Korngold mit Blick auf das „himmlische und irdische Liebe ekstatisch verschmelzende“ Schlussduett, „wie uns der Komponist diese Musik, wie sie ihm eben eingefallen, entrückt, mit leuchtenden Augen, fliegendem Atem, zum ersten Male vorspielte, vorsang. Er empfand sie als durchaus fertige Eingebung, an der nichts zu ändern war.“ Folgt man den Memoiren des Vaters, so dürfte die HELIANE samt der in ihr niedergelegten Theologie des schöpferischen Eros als Ausdruck mitleidender Liebe für Korngold ein [nicht nur] ästhetisches Bekenntnis gewesen sein, von dessen Dringlichkeit die lodernde Intensität der Partitur bis heute Zeugnis ablegt. „Diese Musik, sagte er, müsse alle Anfeindungen entwaffnen; er habe das Gefühl, ein großes Werk geschrieben zu haben.“

Arne Stollberg ist Professor für Historische Musikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und Direktor des dortigen Instituts für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft. Zu seinen zahlreichen Arbeiten über Erich Wolfgang Korngold zählen u. a. die Monographie „Durch den Traum zum Leben. Erich Wolfgang Korngolds Oper DIE TOTE STADT“ [2003] und die Herausgeberschaft des Sammelbandes „Erich Wolfgang Korngold. Wunderkind der Moderne oder letzter Romantiker?“ [2008].

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