Wollen wir die Welt wirklich ändern? - Deutsche Oper Berlin
Wollen wir die Welt wirklich ändern?
Stefan Herheim im Gespräch mit Jörg Königsdorf
Jörg Königsdorf: Grundlegend für das Konzept der RING-Inszenierung ist die Idee des Spiels, das in DAS RHEINGOLD quasi aus dem Nichts begann. Was bedeutet dieser Kerngedanke konkret für die GÖTTERDÄMMERUNG?
Stefan Herheim: Am Vorabend begann eine Gruppe Flüchtige gemeinsam das Spiel um den RING, das um machtlose Liebe und lieblose Macht kreist. In DIE WALKÜRE und in SIEGFRIED nahm das Spiel unterschiedlichste Wendungen, blieb aber immer der mythischen Welt verhaftet. In der GÖTTERDÄMMERUNG verlagert es sich aber in eine modern anmutende, säkularisierte Öffentlichkeit, wo das Intrigen- und Machtspiel buchstäblich auf die Spitze getrieben wird. Wenn im Vorspiel das Schicksalsseil der Nornen zerreißt, geht nicht nur ihr „ewiges Wissen“, sondern auch der bisherige Erzählfaden verloren. Somit wird die sinnstiftende Nahtstelle zwischen Kunst und Wirklichkeit aufgetrennt, die einen Zusammenhalt der kollektiven Kunsterfahrung garantiert. Interessanter Weise taucht der von Wagner im RING sonst so oft benutzte Begriff des Spiels in der GÖTTERDÄMMERUNG erst am Ende auf, wenn die drei Rheintöchter in Analogie zu ihren „wonnigen Spielen“ des Vorabends „lustig mit dem Ringe spielend im Reigen schwimmen“.
Jörg Königsdorf: In der GÖTTERDÄMMERUNG weitet sich der Fokus, in dem bislang nur einzelne Figuren standen, auf eine ganze Gesellschaft. Wer ist damit gemeint?
Stefan Herheim: Wagner zielte auf gesellschaftliche Missstände seiner Zeit, doch da wir in vielen Punkten heute nicht wirklich weitergekommen sind, herrscht zwischen ihm und uns eine Gleichzeitigkeit, die seine mythische Sinnsuche nach wie vor relevant macht. Die Gibichungen unter ihrem schwachen König Gunther repräsentieren ein desorientiertes und leicht manipulierbares Volk, dem als zunehmend verstummender Zeuge der Tragödie jedoch eine besondere Rolle zukommt. Für die Halle der Gibichungen, wo Lug und Selbstbetrug herrschen, haben wir einen realen Raum der Gegenwart gewählt, der sowohl für die gesellschaftliche Institutionalisierung des Mythos als für seine Wandelbarkeit in der Rezeption steht. Im Foyer der Deutschen Oper Berlin machen sich Vertreter des Publikums das Spiel um den RING DES NIBELUNGEN zu eigen. Hagen nutzt sein Wissen von der defizitären Position der mythischen Figuren und der Eitelkeit seiner Zeitgenossen, um eine Intrige zu spinnen, die schließlich seine Tötung von Siegfried legitimiert. Dabei entgeht ihm, dass er selbst eine von Wotan gelenkte Spielfigur ist.
Jörg Königsdorf: Halten uns die Flüchtlinge (aus denen sich ja das Spielpersonal rekrutiert) einen Spiegel vor oder sehen wir in ihnen das, was auch aus uns werden kann?
Stefan Herheim: Die Antwort geht über ein Entweder/Oder hinaus. Grundsätzlich offeriert die Oper immer eine Flucht aus jener Alltagswelt, die uns allzu oft verleitet zu verlernen, was das Menschsein eigentlich ausmacht. Unsagbares und Verschwiegenes bekommt in der Oper eine polyphone Stimme, die an alle Sinne appelliert. Durch die kollektive Kunst-Erfahrung wird unsere Individualität transzendiert. Aber werden wir so zu Göttern? Und dämmern dann?
Jörg Königsdorf: Am Ende des SIEGFRIED erleben wir das Paar Siegfried-Brünnhilde auf dem Höhepunkt seiner Liebeslust. Zu Beginn der GÖTTERDÄMMERUNG folgt aber nicht der unmittelbare Anschluss, sondern die Nornen-Szene. Welche Bedeutung misst die Inszenierung diesen drei Figuren zu?
Stefan Herheim: Die Nornen spinnen als Töchter der Urwala Erda am Seil des Schicksals, können aber Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht länger zuordnen. Diese Verlorenheit entspricht Brünnhildes Wissensverlust, der sie zum Opfer männlicher Willkür macht. Und da die Nornenszene auf dem Walkürenfelsen spielt, auf dem Brünnhilde neben Siegfried schläft, entsteht der Eindruck, die Nornen würden Brünnhildes Unterbewusstsein entsteigen, um sie zu warnen. Kaum erwacht schickt sie in unserer Inszenierung deswegen Siegfried zu neuen Heldentaten in der Welt fort. Auch die Rheintöchterszene im 3. Aufzug haben den Anschein eines Traumes und knüpft nicht nur an Brünnhildes Schlussgesang an, sondern auch an das, was Gutrune erzählt, als sie vor der finalen Szene aus bösem Schlaf erwacht. Erda scheint insofern in allen Frauengestalten zu wirken.
Jörg Königsdorf: Wir erleben eine erstaunlich altmodische Rollenverteilung des neuen Paars Siegfried-Brünnhilde: Sie schickt ihn auf große Fahrt und bleibt selbst brav auf ihrem Felsen zurück. Erst im Verlauf des Stücks wird sie zur aktiv handelnden Akteurin und hebt sich dadurch auch von den anderen systemstützenden Frauen wie Waltraute und Gutrune ab. War Wagner in diesem Sinne der erste Feminist?
Stefan Herheim: Dass Brünnhilde als Menschenfrau eine männliche Schuld auf sich nimmt und in ihrem Opfertod die Welt erlöst, klassifiziert ihren Schöpfer – ob nun Wotan oder Wagner – nicht gerade als Feministen. Der Komponist sah sich selbst ja als das Genie, das rational-begriffliche, männliche Dichtung und emotional-sinnliche, weibliche Musik in sich zu vereinen wusste. Interessant ist, dass Brünnhilde Siegfried auf zu neuen Taten schickt. Um seinem Status als Held überhaupt nachkommen zu können, verlangt die mittelalterliche Heldendichtung seine Abenteuerfahrt. Viel entscheidender ist allerdings, dass Brünnhilde subkutan seine Bestimmung zu spüren scheint – auch wenn sie erst in der letzten Szene das Wissen darüber erlangt. Zur Sühne seiner Schuld liefert Wotan seine Tochter und seinen Enkel einer Hoffnung aus, durch Liebe die Welt retten zu können. Das Perfide an dieser Konstruktion ist, dass sich der göttliche Plan in scheinbar stummer Resignation durch die Antagonisten laut äußert.
Jörg Königsdorf: Ein Begriff, der als Voraussetzung für die Rettung der Welt immer wieder im Stück auftaucht, ist „Wissen“. Was umfasst dieses Wissen eigentlich – zumal in einer Welt, die trotz und sogar mithilfe eines gigantischen Schatzes an aufgehäuftem Wissen ihrem Untergang immer näherkommt?
Stefan Herheim: Das Wort „Wissen“ leitet sich etymologisch von „Sehen“ her, doch das wesentliche Wissen liegt nicht im unmittelbar Ersichtlichen. Wagner geht es um ein Wissen, das in einer ganzheitlichen Erkenntnis gipfelt. Der göttliche Verrat an den liebenden Kindern liegt darin, dass sie als Menschen eine aus den Fugen geratene, gottlose Welt für den Erlöser erlösen sollen. Kunst erlaubt als nicht-rationale Manifestation von Sinn einen ästhetischen Zugriff auf diese Problematik.
Jörg Königsdorf: Im Orchesternachspiel von Brünnhildes Schlussgesang erwächst aus dem Orchester, das die Katastrophe ausmalt, das Liebesmotiv, das wir schon einmal im letzten Aufzug der WALKÜRE gehört haben. Was bedeutet das für die Botschaft, die die Inszenierung vermitteln will – ist das ein kollektiver Erkenntnismoment, wie man eine bessere Welt erschaffen kann? Oder nur eine große Sehnsucht?
Stefan Herheim: Wie soll eine bessere Welt erschaffen werden ohne eine große Sehnsucht? Die finale wörtliche Äußerung lautet: „Zurück vom Ring!“, doch das letzte Wort hat die Musik. Die werkimmanente Bedeutung des „hehrsten Wunder“-Motivs muss letztlich offenbleiben, da sich unsere Erlösung nicht in hehrer Kunst auf großer Bühne materialisieren lässt. Und so bleibt die Frage, ob wir die Welt wirklich ändern wollen.