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Zwischen „Tristan“ und „Verismo“ - Deutsche Oper Berlin

Zwischen „Tristan“ und „Verismo“

Jugendstil, Decadentismo und die Ästhetik der Gewalt in Zandonais Dante-Oper ... Ein Essay von Anselm Gerhard

Paolo und Francesca sind noch heute fast jeder Italienerin und jedem Italiener vertraut. Die Episode aus dem fünften Gesang von Dante Alighieris Comedia ist Pflichtlektüre in der Mittelschule. In diesem Klassiker der Weltliteratur wird erzählt, wie die beiden in der Hölle schmoren. Und das kam so: Paolo Malatesta las in einer ruhigen Stunde mit seiner Schwägerin Francesca da Polenta ein Buch. Als dort, im Roman Galeottos aus dem Umkreis der Arthus-Sage, von einem leidenschaftlichen Kuss die Rede ist, küsst Paolo die Ehefrau seines Bruders. Francesca erinnert sich bei der Begegnung mit Dante im Inferno: „Quel giorno più non vi leggemmo avante“ („An jenem Tag lasen wir nicht weiter“).

In Italien gehörte und gehört diese archetypische Erzählung von leidenschaftlicher Liebe also zum kollektiven Gedächtnis – so wie in anderen Ländern die ebenfalls aus Italien stammende, aber erst von William Shakespeare in die endgültige Form gebrachte Geschichte von Romeo und Julia. Wer diese Geschichte auf die Bühne brachte, wusste also, dass er seinem Publikum nicht erst die Zusammenhänge zu erklären hatte. Er konnte Literatur über Literatur schreiben.

 

Gewaltfantasien und ihre Realisierung
 

Genau dies unternahm Gabriele d’Annunzio im ersten Jahr des 20. Jahrhunderts. Am 9. Dezember 1901 brachte er in Rom sein Versdrama „Francesca da Rimini“ zur Uraufführung. Der 1863 im südostitalienischen Pescara geborene Schriftsteller war weit mehr als nur Schriftsteller. Als Romancier und als Poet zählt er – im europäischen Maßstab – zu den herausragenden Vertretern des Decadentismo. Der Sohn eines reichen Landbesitzers war nach damaligen Standards ein Parvenu, sein Familienname eigentlich Rapagnetta. Doch hatte sich sein Vater – gegen Geld – von einem Onkel mit dem Namen D’Annunzio adoptieren lassen, was nach Adel klang. Und als Aristokrat des Geistes, der über allen Regeln steht, sah sich der begierige Nietzsche-Leser. D‘Annunzio inszenierte sich als „Übermensch“ – nicht nur zum höheren Ruhm seines Genies, auch zu jenem seines Vaterlands.

Im Ersten Weltkrieg machte er Furore mit einer halsbrecherischen Mutprobe: Am 9. August 1918 befehligte er ein Geschwader von acht Flugzeugen, das in der Nähe von Padua startete und – mit ihm als Passagier in einem zum Zweisitzer umgebauten Flugzeug – Kurs auf Wien nahm. Dort wurden Tausende Flugblätter abgeworfen. Nach fast sieben Stunden Flug und über 800 Kilometer im österreichisch kontrollierten Luftraum kamen D’Annunzio und seine Piloten unverletzt zurück; die Demütigung der österreichischen Luftabwehr fand ein internationales Echo.

Nach dem Ende des Kriegs gehörte D‘Annunzio zu den radikalsten Verfechtern einer Politik, die sich nicht mit der Annexion vorher österreichisch regierter, doch rein oder überwiegend italienischsprachiger Territorien (wie Trient und Triest) zufriedengab. D’Annunzio wollte – wie viele andere – die italienische Ostgrenze weit ins spätere Jugoslawien hinein verschieben. Im Handstreich besetzte er im September 1919 Rijeka (italienisch Fiume) und schuf damit die Voraussetzungen dafür, dass die nach 1945 kroatische Hafenstadt dem Königreich Italien zugeschlagen wurde, obwohl dort nur eine (wenn auch gewichtige) Minderheit der Bevölkerung Italienisch sprach.

Der Machtergreifung Mussolinis im Oktober 1922 begegnete der Condottiere mit einiger Sympathie, doch war das Verhältnis der beiden von Anfang an gespannt. Der Dichter hatte sich bereits 1921 in sein eigenes Reich zurückgezogen, als er die in Folge des Kriegs enteignete Villa eines deutschen Kunsthistorikers (und Ehemanns einer Tochter Cosima Wagners) mietete und dann erwarb. Aus diesem Anwesen in atemberaubender Lage über dem Westufer des Gardasees machte er den „Vittoriale degli Italiani“, das „Siegesdenkmal der Italiener“. Der „Duce“ unterstützte ihn bald finanziell, sah er doch die Chance, den umtriebigen Dichter in diesem goldenen Käfig kaltzustellen. Dort residierte D’Annunzio die letzten 17 Jahre seines Lebens und gestaltete die Gärten zu einem Park um. Das Morden der Jahre 1915 bis 1918 (über 600 000 italienische Soldaten waren „im Feld geblieben“, die Verluste der Zivilbevölkerung wohl ähnlich hoch) erscheint hier als gleißender Triumph von (italienischem) Willen und (italienischer) Technik: mit einem Flugzeug, einem 88 Meter langen Torpedoboot und einem Motorboot zur U-Boot-Bekämpfung als Reliquien in der theatralischen Landschaftsarchitektur. Keine Beschreibung kann einen anschaulichen Begriff von dieser stummen Inszenierung geben. Wer sie mit eigenen Augen gesehen hat, begreift, wie eng Ästhetizismus, Futurismus, Sozialdarwinismus und Faschismus im Italien der Jahre vor und nach Mussolinis Machtergreifung zusammenhingen.

 

„Unersättliche Begierden“ und „Selbstvergötterung“
 

Eine ähnliche Mixtur aus selbstverliebter Anmaßung und sinnlichem Gespür für die Ästhetik überwältigender Inszenierungen zeichnet D’Annunzios Drama „Francesca da Rimini“ aus. Die Uraufführung wurde zum Skandal, freilich in der Art, wie sie dem umstrittenen Schöpfer nur nutzen konnte. Wie 1861 bei der Pariser Premiere von Richard Wagners TANNHÄUSER oder 1913 bei Strawinskys LE SACRE DU PRINTEMPS war D’Annunzio endgültig in aller Munde.

Für seinen englischen Übersetzer Arthur Symons hatte der Dichter aus Pescara „einiges von Wagner gelernt, und vielleicht nicht das Beste, was Wagner zu lehren hatte, in seiner überbordenden Ausbreitung des Details, in seinem Insistieren auf so viele Dingen neben den wesentlichen, in seinen Wiederholungen, in denen er beinahe das Wagnersche Leitmotiv eingeführt hat.“ Die reine Spieldauer des Fünfakters erreicht fast vier Stunden. Mit den nach jedem Akt üblichen Pausen war der Teil des Publikums, der bis zum Ende blieb, also fast sechs Stunden dem Klangzauber von D’Annunzios Versen und den Schauspielkünsten seiner Geliebten Eleonora Duse ausgesetzt.

Wie sein Idol Wagner zielte D’Annunzio auf einen Zyklus, zwei weitere Monster-Dramen, von denen mit „Parisina“ nur eines realisiert wurde, sollten „Francesca da Rimini“ zur Trilogie „I Malatesti“ erweitern. Ebenso wenig kam es zu einer deutschen Übersetzung, die sich kein Geringerer als Stefan George vorgenommen hatte. Doch schon vier Monate nach der Uraufführung stellte eine italienische Theatertruppe mit Eleonora Duse das Stück in Wien vor. Der Kritiker Armin Friedmann urteilte luzide, mit für 1902 nachgerade prophetischen Worten: „Wenig nützt dem Dramatiker d’Annunzio seine ungewöhnliche Gabe des Wortes; sie behindert ihn, weil sie den raschen Flug der Handlung hemmt. Die vorstürmende Gewalt seiner Rhetorik leiht er […] den meisten von seinen Gestalten. […] Jeder Gedanke trägt goldene Rüstung […], die ungezähmten Herrschergelüste dieses starken Renaissance-Menschen überschreiten alle Ufer, reißen alle Dämme ein; unersättliche Begierden nach Schönheit, Macht, Ruhm und Genuß erfüllen und berauschen ihn, spornen ihn ins Maßlose. Wir hören immer nur seine Stimme und seine Stimmungen, seine zarten Neigungen und wilden Wünsche […] — das Echo einer beharrlichen Selbstvergötterung.“ Und der Dramatiker Luigi Pirandello schrieb nach der Uraufführung: „Ich glaube, nie so sehr im Theater gelitten zu haben. […] Die Handlung der Tragödie ist behindert, erdrückt und zersplittert vom unmäßigen Strom der Rhetorik D’Annunzios.“

 

„Der Stil der Zeit“
 

Doch selbst die schärfsten Kritiker waren von der Sorgfalt der historisierenden Ausschmückung in Wortwahl und Dekor begeistert: „Wundervoll ist der Stil der Zeit getroffen“ – so nochmals Friedmann –, die „die rohesten Folterknechte, die blutrünstigsten Winkeltyrannen und die süßesten Sänger und Musiker geboren“ hat. Kaum zur Sprache kam dagegen im Presse-Echo eine andere hervorstechende Qualität von D’Annunzios Drama – zu sehr stand sie wohl im Widerspruch zu Grundüberzeugungen der damaligen Zeit: Bei allem Machismo zeichnet der Poet in seiner Titelheldin eine starke, eine sehr starke Frau. Francesca ist bei ihm schuldig am Ehebruch – ein Detail, das sich so bei Dante nicht findet. Sie lebt voller Überzeugung für die Verwirklichung ihrer Begierden und sprengt so die Geschlechterbilder einer Epoche, in denen Frauen sogar das Wahlrecht verwehrt war. Sie hadert zwar mit ihrer Schuld, doch am Ende fühlt sie sich befreit, auch wenn das ‚Verdienst‘ an dieser Befreiung – ‚natürlich‘ dem Mann, ihrem Geliebten Paolo gebührt: „Risvegliata m‘hai, liberata da ogni angoscia.“ („Erweckt hast Du mich, befreit von jeder Furcht.“).

D’Annunzio strapaziert hier nicht zuletzt die Kunst der Ellipse, jener rhetorischen Figur der „Auslassung“, für die schon Dante mit seiner Andeutung, „an jenem Tag“ hätten die beiden „nicht weiter gelesen“, ein so überwältigendes Beispiel gegeben hatte. Doch im Übermaß eingesetzt, lässt diese Stilfigur die Figuren ungreifbar werden. Gleichzeitig schafft sie eine Leerstelle, die fast darauf wartet, gefüllt zu werden. Zum Beispiel mit Musik.

 

Eine Frage der Zeit
 

Insofern war es nur eine Frage der Zeit, wann D’Annunzios – übrigens im Opernhaus uraufgeführte – Tragödie zur Oper umgearbeitet wurde. Nur wie? Das gesungene Wort erfordert im Vergleich zum gesprochenen mindestens das Doppelte, meist mehr als das Dreifache an Zeit. Um den Text auf musiktheatertaugliche Dimensionen zu stutzen, mussten also etwa drei Viertel von D’Annunzios Text gestrichen werden. Tito Ricordi, der Eigentümer des wichtigsten italienischen Musikverlags, wagte sich an die fast unlösbare Aufgabe. Von etwa 4 000 Versen blieben nur knapp 1 000, wobei dem Bearbeiter übrigens FALSTAFF, die ebenfalls von ihm verlegte letzte Oper Giuseppe Verdis vor Augen stand.

Als dem selbstbewussten Dichter 1912 in Paris in Anwesenheit eines von Ricordi ausgesuchten jungen Komponisten diese Schrumpffassung vorgelesen wurde, fürchtete man seinen Zorn. Doch habe, so erinnerte sich der Komponist 26 Jahre später, D’Annunzio die Hand Ricordis geschüttelt und „wörtlich“ gesagt: „Bravo, Tito; Du bist wirklich ein Mann des Theaters; Deine Kurzfassung ist vollkommen und ich wünsche, dass im Librettodruck Dein Name neben meinem erscheinen möge“.

Dieser Bericht scheint fast zu harmonisch, um Glaubwürdigkeit beanspruchen zu können. Doch ging es um Geld, um viel Geld. Die Verwertung von Literatur auf der Opernbühne hatte damals ein finanzielles Potential, wie wir es heute aus der Filmindustrie kennen. Und D’Annunzio brauchte immer Geld. Im Zusammenhang mit den späteren Verhandlungen über die Rechte für einen Stummfilm sollte Ricordi einem Vertrauten in Paris klagen: „D’Annunzio benötigt derart dringend Geld, dass er mir das Messer an die Gurgel gesetzt hat (ich finde keinen anderen Ausdruck).“ Da Zandonai die Oper unbedingt komponieren wollte, bekam der Dichter die verlangten 25 000 Franken, eine für damalige Verhältnisse exorbitante Summe, während der Komponist auf den üblichen Vorschuss verzichtete. Dass D’Annunzio die erhofften Tantiemen wichtiger waren als sein künstlerischer Stolz, erklärt übrigens auch, warum er sich immer wieder positiv über Zandonais Oper geäußert hat, doch nicht ein einziges Mal die Mühe auf sich nahm, eine Aufführung zu besuchen.

Zudem war eine radikale Kürzung sicher ein kleineres Übel als eine Neudichtung. Ricordis Libretto ist ein flagrantes Beispiel für die damals noch neue Entwicklung, die viel später mit dem Schlagwort „Literaturoper“ bezeichnet werden sollte: die Einrichtung eines Operntextes ausschließlich mit Worten der Vorlage. So gehört FRANCESCA DA RIMINI zu den ersten erfolgreichen Exemplaren von Opern, in der ‚nur’ der Umfang, nicht aber der Wortlaut eines literarischen Textes angetastet wurde. Nach ersten Experimenten in Russland und in Mascagnis GUGLIELMO RATCLIFF (1890) sind die frühesten prominenten Beispiele Debussys PELLÉAS ET MÉLISANDE (1902) und Richard Strauss’ SALOME (1905). Dabei sollte man freilich nicht glauben, Striche seien keine Umarbeitung – selbst wenn diese nur selten so einschneidend ausfielen wie bei dieser Oper oder ein knappes Vierteljahrhundert später bei Alban Bergs LULU.

 

Zandonai und die Gestaltung der Zeit
 

Tito Ricordi war aber nicht nur als Advokat der Kürze „ein Mann des Theaters“. Auch die Personalpolitik des Verlags war vom Gespür für die Komponisten geprägt, die über das gewisse Etwas verfügten, das für den Erfolg auf der Bühne entscheidend ist: den Sinn für „pacing“, für das souveräne Spiel mit der Gestaltung der Zeit in Szenen, die mal vorwärtsdrängend, mal retardierend anmuten. Im Jahre 1884 hatte Titos Vater Giulio Ricordi einen Komponisten an seinen Verlag gebunden, der diese Kunst beherrschte wie kein anderer: den damals noch völlig unbekannten Giacomo Puccini. Im Vergleich zur musikalischen Dramaturgie des 25 Jahre älteren Kollegen scheint diejenige Zandonais zunächst weniger nervös. Doch trotz der gleichsam epischen Deklamation der erhabenen Verse kommt in FRANCESCA DA RIMINI nie das Gefühl zerdehnter Zeit auf. Wie bei Puccini entsteht dramatische Hochspannung durch den überlegten Einsatz weniger Ruhepunkte in einer Folge dicht gedrängter, manchmal völlig unerwartet hereinbrechender Wendungen der Handlung. Ricordi hatte also intuitiv das Potential dieses eher verschlossenen Charakters erkannt. Und um nochmals zu Puccini zurückzukehren: Man wünschte, der Verleger hätte nach Puccinis Tod im Jahre 1924 auch dessen Sohn von Zandonais Potential überzeugen können. Denn mit Sicherheit hätte der zunächst für die Ergänzung der Finalszene in TURANDOT ins Auge gefasste Komponist eine überzeugendere Ergänzung des Fragments vorgelegt als der schließlich mit dieser Aufgabe betraute Franco Alfano. Schließlich hatte der 1883 geborene Zandonai allen seinen Kollegen (außer Puccini) etwas voraus: In der produktiven Auseinandersetzung mit Partituren von Claude Debussy und Richard Strauss verfügte er über eine Souveränität der Orchesterbehandlung, wie man sie bei Umberto Giordano, seinem Lehrer Pietro Mascagni oder eben Alfano nirgends findet.

Dieses Gespür für Klang, dieser sinnliche Umgang mit allen Finessen moderner Instrumentation und auch mit einem weit über die spätromantische Harmonik hinausgehenden Einsatz von Dissonanzen zeigt sich in FRANCESCA DA RIMINI schon in den allerersten Takten. Zandonai breitet zunächst im Pianissimo einen flimmernden Klangteppich aus: Querflöten, Pikkolo und zweite Violinen pendeln synkopisch versetzt zwischen den benachbarten und deshalb im Zusammenklang dissonanten Tönen g und a. Die ersten Violinen spielen dazu einen Triller g-fis, so dass in hoher Lage eine Art Mini-Cluster fis-g-a entsteht. ‚Geerdet‘ wird dieser ätherische Klang erst im zehnten Takt durch einen Paukenwirbel auf dem tiefen g. Aus dem Bühnenhintergrund ist das Instrument des Spielmanns zu hören, eine Viola hebt in breiten Arpeggien in der altertümlichen Tonart g-Moll an. Wenig später öffnet sich dann der Vorhang und die Fokussierung auf g zerstiebt von Neuem.

Die Arpeggien der Viola kehren wieder, wenn wenig später der Spielmann ein Lied anstimmen will, in dem es um „die große Liebe des guten Tristan und der blühenden Isolde“ geht und darum, „wie Isolde mit Tristan den Trank trinkt“, einen „so vollkommenen Trank, dass er die Liebenden in einen Tod führt“. Doch auch von Lancelot ist die Rede und vor allem davon, wie Parsifal „das Blut unseres Herren Jesus gekostet“ habe. In einer atemberaubenden Montage wird also ein imaginäres Mittelalter mit offensichtlichen Bezügen einerseits zu Dantes beiläufigen Hinweisen auf die Lektüre Paolos und Francescas, vor allem aber zu Richard Wagners Musikdramen herbeizitiert.

Doch im Gegensatz zu Wagner kennt Zandonai bereits die historisch-philologischen Bemühungen um die Musik der Minnesänger und Troubadore. Stand zunächst die moderne Viola für diesen fernen Klang vergangener Zeiten, setzt er im irisierenden Orchesternachspiel am Ende des ersten Aktes tatsächlich ein ‚historisches‘ Instrument ein, die Viola pomposa, die in diesem „Largo dolcissimo“ zu den Arabesken des Symphonieorchesters in wogendem D-Dur ihre Melodie anstimmt – „alter Duft aus Märchenzeit“, um es mit Worten aus dem genau zur selben Zeit von Arnold Schönberg in Berlin komponierten „Pierrot lunaire“ zu formulieren.

Das hat offensichtlich mit ‚authentischer‘ Alter Musik nichts zu tun. Doch zeigt Zandonai, wie wichtig ihm D’Annunzios Bemühungen um die Vergegenwärtigung mittelalterlichen Kolorits sind, eines Kolorits, das sich hier weit sinnlicher präsentiert als das immer etwas blutarm wirkende Neo-Rokoko, mit dem viele Opernkomponisten schon im 19. Jahrhundert experimentiert hatten und das dann nach dem Weltkrieg den sogenannten „Neoklassizismus“ eines Strawinsky prägen wird. Doch auch von der zeitgenössischen italienischen Oper, die gerne mit dem Etikett „Verismo“ versehen wird, bleibt Zandonai denkbar weit entfernt. Im Gegensatz zu Puccini und dem Realismus anderer Zeitgenossen ist sein Dialog nicht der Alltagssprache verpflichtet, sondern immer erhaben – D’Annunzios Verse ließen ihm gar keine andere Wahl. Gleichwohl finden sich bei aller von Pathos getränkten Gestik nur wenige, souverän gesetzte Ruhepunkte in der Art von Wagners bisweilen kontemplativer Dramaturgie – wie im Klangzauber des erwähnten Finales des ersten Aktes: Dort ist das Kolorit eines imaginierten Mittelalters in eine Textur verwoben, in der das „Waldweben“ aus Wagners SIEGFRIED und der „Karfreitagszauber“ aus dessen PARSIFAL nachklingen.

 

Zwischen TRISTAN und „Verismo“
 

An Wagner führte an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auch in Italien kein Weg vorbei. Dies galt schon für D’Annunzios Tragödie. Noch deutlicher als im Text des Fünfakters wird die Symbolik von Tag und Nacht in Zandonais Oper, in überdeutlicher Anlehnung an den zweiten Aufzug von Wagners Oper um einen ebenfalls literarisch überhöhten Ehebruch. Zandonai nahm im Frühjahr 1913 seinen ganzen Mut zusammen, reiste eigens nach Arcachon in der Nähe von Bordeaux, wo D’Annunzio residierte, um ‚seinen‘ Dichter um neue Verse zu bitten. „Mein Verlangen, das einem rein musikalischen Bedürfnis verpflichtet war, mochte gewagt erscheinen,“ – so erinnerte sich Zandonai – „ging es doch darum, ein neues Element für die Tragödie zu schaffen. D’Annunzio verstand mich sofort, […] drei Stunden später hatte er die wundervollen Verse gedichtet und aufgezeichnet […], die im dritten Akt des Librettos erscheinen.“

Aus dramaturgischer Perspektive ist dieser nachträglich gedichtete Monolog Paolos („Nemica ebbi la luce, amica ebbi la notte“ – „Feindlich ward mir das Licht, freundlich ward mir die Nacht“) mit seinen siebzehn Versen bei aller poetischen Eleganz… reinste Opernkonvention. So sehr D’Annunzios Sprache mit Motiven aus Wagners TRISTAN UND ISOLDE spielt, so sehr ist Zandonais Orchesterbehandlung dem großen Vorbild verpflichtet: An keiner anderen Stelle der Oper nähert sich die „vocalità“ Zandonais so offensichtlich der italienischen Tradition: Noch im melodischen Detail von Paolos Einsatz auf dem hohen e und der Akzentuierung des hohen g ist das Vorbild, Canios Monolog „Vesti la giubba“ mit dem Refrain „Ridi Pagliaccio“ aus Leoncavallos PAGLIACCI aus dem Jahre 1892, zu erkennen. Doch gelingt Zandonai das schier Unglaubliche: Diese Nähe zum sogenannten „Verismo“ an einer Schlüsselstelle seiner Oper wirkt nicht als Stilbruch. Mit souveräner Meisterschaft ist dieses Echo aus der Tradition in die avantgardistische Klangwelt der Partitur eingebunden. Genauso gelingt es Zandonai, in der von D’Annunzio vorgegebenen Folterszene mit ihren offensichtlichen Anklängen an Victorien Sardous und Puccinis TOSCA und in der knappen, dramaturgisch an das blutige Finale von Verdis OTELLO gemahnenden Schlussszene seinen eigenen Ton zu setzen.

 

Der Nerv der Zeit
 

Bleiben Fragen zur auch in Italien kaum bekannten Person Zandonais: Wie ist es möglich, dass diesem Komponisten mit FRANCESCA DA RIMINI ein großer, auch internationaler Erfolg gelang, sich aber nach 1913 keine weitere Oper aus seiner Feder durchsetzen konnte – weder GIULIETTA E ROMEO (Rom 1922) noch I CAVALIERI DI EKEBÙ nach Selma Lagerlöf (Mailand 1925) noch vier weitere Werke? Eine Antwort ist nicht einfach, sei aber gleichwohl versucht. Kein Libretto dieser Opern bot vergleichbare Reibungspunkte wie D’Annunzios eigenwillige Tragödie. Vermutlich tat sich Zandonai schwer, herausragende Textbücher zu finden, denn er lebte zurückgezogen in der Kleinstadt Pesaro, fuhr nur selten in die Metropole Mailand, dem wichtigsten Umschlagplatz im Musikgeschäft. Auch war er eine zurückhaltende Persönlichkeit, die sich ungern in den Vordergrund drängte. Als begeisterter Bergwanderer war er geprägt von den heimatlichen Alpen – geboren 1883 als österreichischer Staatsbürger, im südlichsten, italienischsprachigen Zipfel Tirols in der Nähe der Kleinstadt Rovereto. Doch dürften auch die Folgen des Ersten Weltkriegs eine Rolle gespielt haben. Nach dem Zusammenbruch des alten Europas sehnte sich das Publikum offensichtlich nach weniger verkünstelter Kost, wie sie etwa Giordano bot. Zandonais einmalige Mischung aus Jugendstil, Avantgarde, Dekadenz und (blutiger) Moderne hatte 1914 den Nerv der Zeit getroffen, doch war eine Wiederholung dieses Erfolgs mit einem anderen Sujet nach 1918 offenbar nicht mehr möglich.

 

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