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Auf den Wellen seiner Zeit - Deutsche Oper Berlin

Auf den Wellen seiner Zeit

Schon früh surfte Puccini von Erfolg zu Erfolg. Was macht seine Opern bis heute faszinierend? Filmkritiker Wolfgang M. Schmitt über einen Komponisten am Puls der Jahrhundertwende

Die Vorwürfe sind bekannt: Sentimentaler Kitsch, Filmmusik für Hollywood avant la lettre, Schmelzgeigen schluchzen zu einer Dramaturgie, die den Tod der Frau zur schicksalhaften Notwendigkeit verklärt. Ist es da nicht verständlich, wenn der Pianist Alfred Brendel auf die Frage nach dem größten Unglück antwortet: »Puccini oder Lehár hören zu müssen.« Gleich spukt einem das Bonmot von Tucholsky im Kopf herum: »Puccini ist der Verdi des kleinen Mannes, und Lehár ist dem kleinen Mann sein Puccini.«

Es fällt in der Tat leicht, Puccini zu hassen. Ebenso einfach ist es, ihn unreflektiert zu lieben: das dramatisch aufwallende Orchester, diese unvergesslich schönen Arien, kaum ein Komponist spielt so gekonnt auf der Klaviatur des Gefühls. Mit der allen Kommerz rechtfertigenden Devise, wonach Erfolg recht geben soll, wäre jeder Zweifel aus dem Weg geräumt: Nur noch die Opern von Verdi und Mozart werden häufiger aufgeführt. Nun ja, »Maggi ist auch berühmt«, soll laut Ernst Jünger Frank Wedekind gesagt haben.

Puccini im Garten seiner Villa in Torre del Lago. 1899 kaufte er das Turmhaus und ließ es zum ständigen Wohnsitz für sich und seine Familie umbauen. Heute ist hier das Museum »Villa Puccini« untergebracht © MARKA / Alamy Stock Photo
 

Zweifellos trifft Puccinis Musik ins Herz, aber es lohnt sich, ihr einen Umweg durch den Kopf zu bahnen. Nicht zuletzt sind es kluge Inszenierungen, die immer wieder zeigen, wie raffiniert das vermeintlich Seichte eigentlich ist. Zu Recht wird ein gewisser Hang zu stereotypen Figurenzeichnungen bemängelt, was besonders im Kontrast mit den ausgefeilten, tiefgründigen Charakteren in Verdis mittleren und späten Opern auffällt. Ohne Zweifel griff Puccini bisweilen zur Schablone, wo Verdi mit feinem Pinsel malte, jedoch liegt das eigentliche Problem in den Libretti. Puccini musste häufig mit Verfassern zurechtkommen, die er wieder und wieder zu Überarbeitungen antrieb. Diese dramaturgischen Schwächen können sich für die Regie in Möglichkeitsräume verwandeln – solange sie die in der Musik liegende Zeitlosigkeit nicht verleugnet. Zeitlosigkeit meint nicht Plüsch und Üppigkeit, nicht die Wiederholung des Klischees in der Hoffnung auf dessen Naturalisierung. Der unvergessene Theatermensch Boleslaw Barlog hat mit seiner TOSCA-Regie durch sanfte Stilisierung und Abstrahierung einen Klassiker geschaffen, der mit der Musik kongenial verschmilzt.

Bei all dem gilt es, den Schöpfer vom Werk zu trennen, um so die Kunst zu bewahren, sollte der Künstler eines Tages nicht mehr den Anforderungen des Zeitgeistes gerecht werden. Puccini selbst wollte nicht hinter seinem Werk verschwinden, zu sehr liebte er es, das aufkommende massenmediale Zeitalter zu bespielen. Mit dem großen Erfolg von TOSCA in Rom am 14. Januar 1900, dem bedeutende Kollegen wie Pietro Mascagni, Francesco Cilea und Siegfried Wagner beiwohnten, wurde er endgültig zum Tausendsassa mit Hang zur Selbstinszenierung. Den »Duft der Sehnsucht«, den Musetta im Café Momus überall um sich wähnt, kennt der Lebemann Puccini auch. Mindestens ebenso heißblütig wird er, wenn die Claque wegen mangelnder Bezahlung MADAMA BUTTERFLY bei der Uraufführung an der Mailänder Scala durchfallen lässt. »Es ist meine beste Oper, ihr Schweine«, soll Puccini aus seiner Loge gebrüllt haben.

Der Autoliebhaber zusammen mit seiner Frau Elvira Bonturi und einer Enkelin (r.) in einem Pkw des Herstellers De Dion Bouton. Im Fond mit Hut: Stieftochter Fosca Leonardi © ARCHIVIO GBB / Alamy Stock Photo
 

Aufbrausend sind auch die Motoren der Autos und Boote, die er sich kauft. Stolz berichtet er Freunden, dass sein neues Motorboot 40 Kilometer die Stunde zurücklegen kann. Noch rasanter – 130 km/h – war er mit seinem Lancia Trikappa unterwegs. »Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit«, heißt es in Filippo Tommaso Marinettis futuristischem Manifest. Diesen Futurismus wird Puccini nur im Privaten, nicht im Werk ausleben. Der Komponist, so schnell er auch raste, entkam dem 19. Jahrhundert nicht.

Selbst seine unvollendete Oper TURANDOT, die er mit mehr Mut zur Disharmonie geschrieben hatte, bleibt genau dort, wo sie sich vorwagt, seltsam disparat – vergleicht man die Passagen mit der Radikalität von Richard Strauss‘ immerhin schon 1909 uraufgeführter ELEKTRA oder gar mit dem schroff atonalen WOZZECK, an dem Alban Berg zeitgleich arbeitet, während Puccini mit der Arie »Nessun Dorma« den ästhetischen Regress zum Progress gesellt. Die Fülle des Wohllauts harmonisiert alles Sperrige – wohl keine andere Tenorarie Puccinis hat sich inzwischen so sehr von ihrem Werk gelöst und geistert durch Casting-Shows und YouTube-Clips.

Von »Nessun Dorma« ergriffen zu sein, ist keine Schande. Und wer kennt nicht die Momente, in denen man den »Vincerò«-Schrei herauspressen möchte, um dann rechtzeitig zu erkennen, dass man das H nicht erreichen wird? Unsere Ekstase delegieren wir lieber an die Profis. Puccini hat einmal Einblick in seine Arbeitsweise gewährt, nämlich in seiner einzigen komischen Oper GIANNI SCHICCHI: Dieser humorvolle Höhepunkt von IL TRITTICO erzählt eine Posse um einen Erbschaftsstreit. Lauretta und Rinuccio wollen heiraten, aber dies geht nur, wenn sie ein Vermögen erbt. Um ihren Vater zu manipulieren, singt sie völlig unvermittelt in diesem Commedia- dell'arte-Durcheinander die herzzerreißende Arie »O mio babbino caro«, in der sie droht, vom Ponte Vecchio zu springen, falls der Vater sich nicht für sie einsetze. Löst man diese Arietta mit ihrer lyrischen Melodie aus ihrem Kontext, liegt der Kitschverdacht nahe, bettet man sie hingegen richtig ein, ist nicht zu übersehen, dass Puccini sich selbst ironisiert. So arbeitet er also, wenn er berühren und bewegen will. Nicht nur bei Laurettas Vater wirkt das süße Gift des Wohlklangs, auch bei uns. Das Bemerkenswerte ist jedoch, dass, auch wenn man um die Manipulationsabsicht weiß, es trotzdem wirkt. Ja, es macht sogar noch mehr Freude, sehenden Auges dem Sirenengesang auf den Leim zu gehen.

Diese Trotzdem-Haltung empfiehlt sich bei allen Opern Puccinis: Zum einen, damit das Denken nicht übergangen wird, denn es verhindert nicht, sondern intensiviert die Gefühle durch Bewusstwerdung. Wir werden aus unserer Passivität gerissen. Zum anderen, weil Puccini selbst diesen Umweg macht: Ob in LA BOHEME, TOSCA, LA FANCIULLA DEL WEST, MADAMA BUTTERFLY oder MANON LESCAUT – die veristische Oper ist bekanntlich ein Widerspruch in sich, da es nicht naturalistisch ist, plötzlich anzufangen zu singen. Indem aber bitterste Wirklichkeiten nicht mit bitterer Musik dupliziert werden, sondern der Wohllaut nie verklingt, manifestiert sich im Trotzdem der Wunsch nach einer Gegenwelt.

Der Opernstar inszenierte sich nicht nur als Lebemann und Bonvivant, sondern auch als Familienvater. Hier 1912 für eine Zeitung, mit Frau Elvira und Sohn Antonio im Garten ihrer Villa © ARCHIVIO GBB / Alamy Stock Photo
 

Kitsch evoziert falsche Gefühle. Kitsch ist eine hübsche Lüge, die unwahr bleiben muss. Puccini ist anders. Er führt bei allem Manipulationsgeschick dort zur Wahrhaftigkeit, wo die Liebenden von aller Welt verlassen und wir mit ihnen allein sind – ob mit Rodolfo und Mimí in der Mansarde, mit Tosca und Cavaradossi im Gefängnis oder mit Manon und Des Grieux in der Wüste. Es ist keineswegs nur der historische Kontext, der den Paaren die Freiheit verwehrt, es ist vielleicht eine generelle Repression, die erfährt, wer auf der Unbedingtheit des Gefühls besteht. Die Liebe hat immer einen prekären Status, muss immer mit dem Unverständnis der anderen rechnen – trotz aller Liberalisierungen.

Trotzdem zu lieben (und zu singen), leidenschaftlich und überschwänglich, davon erzählt Puccini mit seiner Musik. Verismus bedeutet in diesem Sinne, die wahre Radikalität des Gefühls erkennen. Puccinis Werke fordern vom Publikum einen Protest gegen eine Wirklichkeit, die die Wahrhaftigkeit verunmöglichen will. Puccini zu lieben bedeutet, sich zu diesem Trotzdem zu bekennen. Denn es gibt sie tatsächlich, diese Momente, in denen wir uns lieber vom Ponte Vecchio stürzen würden, als ohne Liebe leben zu müssen.

Wolfgang M. Schmitt ist Podcaster, Autor und Kritiker. Bekannt wurde er vor allem mit seinem YouTube-Kanal »Die Filmanalyse«.

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